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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Lasst sie schnuppern!

Lasst sie schnuppern!

240 Grundberufe stehen Schweizer Jugendlichen als Berufslehre zur Auswahl. Wie schaffen es 15- und 16-jährige Teenager die richtige Entscheidung zu treffen? 

Ende August hatten 75 200 Schulabgängerinnen und -abgänger einen Lehrvertrag in der Tasche und starteten ihre berufliche Karriere in einem Lehrbetrieb. Absolutes Neuland war dies für kaum einen der 15- und 16-Jährigen. «Ich habe bis jetzt keinen einzigen Jugendlichen erlebt, der ohne Schnuppern eine Lehrstelle antrat», sagt Roberto Morandi. Er arbeitet seit acht Jahren als Berufs-, Studien- und Laufbahnberater beim Beratungsdienst ask! in Aarau. 

Die Erfahrung zeige, dass Jugendliche, die sich für eine Berufslehre interessieren, in den letzten zwei obligatorischen Schuljahren sechs bis acht Schnuppereinsätze machen. Erst danach entscheiden sie sich für eine Lehre, ergänzt Morandi. Diese Schätzung lässt darauf schliessen, dass die diesjährigen neuen Lehrlinge zusammen rund eine halbe Million Schnuppereinsätze absolvierten. Die gesamte Anzahl an Schnuppertagen – ein Einsatz zu Orientierungszwecken kann einen Tag dauern, eine finale Selektionsschnupperlehre eine Arbeitswoche – liegt damit im siebenstelligen Bereich. 

Ultimativer Realitätscheck 
Lohnt sich dieser Aufwand wirklich? Oder avanciert Schnuppern in Zeiten der Digitalisierung zur Alibi-Übung? «Schnuppern ist für Jugendliche das wichtigste Element auf dem Weg zur Entscheidung, was sie machen möchten und vor allem auch wo sie eine Berufslehre machen möchten», sagt Berufswahlexperte Morandi. Es ist der ultimative Realitätscheck. Ist mein Körper den Anstrengungen als Maurerin gewachsen? Bin ich gewillt, als Koch am Wochenende zu arbeiten? Und wie ist es, in einem Grossraumbüro zu arbeiten? «Schnuppern bedeutet, Einsichten zu gewinnen, aber auch Dinge bewusst auszuschliessen», sagt Morandi. 

«Es ist eine berufliche Orientierung für beide Seiten, um herauszufinden, ob man zueinander passt».

Die Jugendlichen brauchen die Schnuppermöglichkeit, um zu wissen, wie sich ein Beruf in der Realität überhaupt anfühlt. Ohne Praxiserfahrung fehlt nicht nur die wirklichkeitsnahe Selbsteinschätzung, sondern es fehlen auch die Vergleichsmöglichkeiten. Denn zur Auswahl standen in der Schweiz in diesem Jahr an die 240 Grundberufe, verteilt auf über 87 000 Lehrstellen. Für eine Berufslehre entschieden sich rund zwei Drittel aller Jugendlichen. 

Schnuppern hat sowohl für die Jugendlichen als auch für die Unternehmen einen hohen Stellenwert. «Es ist eine berufliche Orientierung für beide Seiten, um herauszufinden, ob man zueinander passt», sagt Antje Barabasch, Professorin für Berufsbildung an der Eidgenössischen Hochschule für Berufsbildung (EHB). Für die Betriebe ist es wichtig, dass die am besten zu ihnen passenden Lernenden sich bewerben; für potenzielle Lernende, dass sie ein positives Gefühl bezüglich ihrer Wahl haben. «Es geht dabei um Fühlen, Hören, Wahrnehmen, Erfahren und Vertrauen. Durch digitale Darstellungen und virtuelle Aktionen kann dies nicht ersetzt werden», betont Barabasch. Sie leitet an der EHB den Forschungsschwerpunkt «Lehren und Lernen in der Berufsbildung». 

Keine Stelle? Gibt es nicht! 
Dass in der Schweiz diese lebensprägende Berufswahlentscheidung schon im Teenageralter gefällt werden muss, sieht die Wissenschaftlerin nicht als Nachteil. Das Lernen in konkreten Arbeitssituationen sei eine ideale Gelegenheit für Jugendliche, fachliche und soziale Fähigkeiten zu erwerben. Der Unterricht in der Berufsfachschule ergänze diesen Lernprozess. «Aus pädagogischer Sicht ist diese Art des Lernens optimal, um nachhaltige und flexibel einsetzbare Kompetenzen zu entwickeln,» sagt Barabasch. Die Fakten geben ihr Recht: 21 Prozent der Absolventen einer Lehre mit einem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis haben fünf Jahre nach dem Abschluss eine Führungsposition inne. 

«Berufsberatung im Schulzimmer und obligatorische, mehrtägige Schnuppereinsätze finden bei Bedarf sogar während der Unterrichtszeit statt».

Was geschieht, wenn die Berufswahl stockt und jemand keine Schnupperstelle findet? «Diese Option gibt es nicht. Die Jugendlichen werden von Berufsberatung und Schule so engmaschig und individuell betreut, dass wir für alle eine Möglichkeit finden», sagt Peter Steinmann, Pädagoge und Leiter eines Förderzentrums in der Ostschweiz. 

Zusätzlich dienen öffentliche Berufsmessen und Informationsveranstaltungen bei Firmen als «Schnupper-Kontaktbörse». Online sorgen Lehrstellen-Plattformen wie «Yousty» und «Lena» dafür, dass freie Lehrstellen und damit auch Schnuppermöglichkeiten einfach ersichtlich sind. Die Schule nimmt eine unterstützende und begleitende Rolle wahr. «Berufsberatung im Schulzimmer und obligatorische, mehrtägige Schnuppereinsätze finden bei Bedarf sogar während der Unterrichtszeit statt», sagt Oberstufenlehrer Steinmann. Trotzdem ist im vergangenen Jahr die Luft zum Schnuppern für viele Jugendliche dünner geworden. Die Corona-Restriktionen machten Schnuppereinsätze oft unmöglich. Gleichzeitig publizierten viele Kantone die freien Lehrstellen, nicht wie gewohnt erst im Sommer, sondern schon im April – und damit rund 15 Monate vor dem potenziellen Lehrantritt. Wer sich für eine der gefragten Lehrstellen interessiert, muss noch früher sein Interesse anmelden – und schnellstmöglich losschnuppern. 


veröffentlicht 26. September 2021, NZZ am Sonntag

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