Fiora und die Delphine
Die wirksamste Therapie für die mehrfach behinderte Tochter wird 11 Flugstunden und rund 8000 Kilometer entfernt vom Wohnort der Familie angeboten. Allein die Therapiekosten belaufen sich auf mehrere Tausend Franken für wenige Tage. Was tun als Elternpaar? Die letzte Hoffnung aufgeben, sich verschulden oder einen neuen Weg gehen? Die Geschichte von Fiora und den Delphinen.
Blauer Himmel, weisse Strände und glasklares Wasser: Die karibische Insel Curaçao ist eine typische Flitterwochen-Destination. Ein «happy place» für händchenhaltende Paare – und für viele Kinder und Erwachsene im Rollstuhl oder mit Gehhilfen. Grund dafür ist das Zentrum für Delphintherapie und -forschung (CDTC). Die angebotene «delphingestützte Therapie» gilt als effiziente Therapieform bei Patienten mit Entwicklungsstörungen oder körperlichen und psychischen Erkrankungen. Angetrieben durch die oft letzte Hoffnung nehmen Familien mit ihren behinderten Kindern, aber auch Paare und Einzelpersonen beeinträchtigt durch Tumorerkrankungen oder psychische Leiden die umständliche Reise nach Curaçao auf sich. Dazu gehören auch Boris und Lukretia mit ihrer neunjährigen Tochter Fiora.
Fiora kommt als scheinbar gesundes Mädchen im November 2013 zur Welt und entwickelt sich prächtig. Pausbäckig und lächelnd zeigt sie wenig Interesse am Krabbeln und Sitzen. «Wir als Eltern und auch die Kinderärztin und die Physiotherapeutin waren überzeugt, dass die Kleine eine Spätstarterin ist», erinnert sich Mutter Lukretia. Doch anstelle des erhofften Entwicklungssprungs, bekundet Fiora immer grössere Mühe sich zu bewegen, ihre Händchen zu koordinieren und Nahrung zu sich zu nehmen. Fiora zu füttern dauert oft fast zwei Stunden. Dazu kommen epileptische Anfälle und eine apathische Haltung.
Die Diagnose Rett-Syndrom – gestellt nach zwei bangen Jahren des Wartens und Hoffens – erklärte vieles und stellte trotzdem alles in Frage. Geklärt waren die Entwicklungsrückschritte. Rett-Mädchen, die Genmutation trifft fast ausschliesslich Mädchen, entwickeln sich in den ersten Lebensmonaten normal – so wie Fiora. Die für die Krankheit typischen kognitiven und körperlichen Rückschritte zeigen sich erst später. Gleichzeitig stellte die Diagnose den kompletten Lebensentwurf der Familie in Frage: den Wohnort, das Auto, die Arbeit, die Zukunftspläne, die Familie. Zum Zeitpunkt der Diagnose war Fioras kleiner Bruder Romeo bereits auf der Welt; die ältere Tochter Stella war ein Teenager.
«Wir haben durch Fiora gelernt im Moment zu leben, nicht zu viel zu planen und die Zeit mit ihr zu geniessen»
«Wir realisierten schnell: hadern und trauern bringt weder uns als Paar und Familie noch Fiora etwas. Also begannen wir zu handeln», erinnern sich die Eltern Boris und Lukretia. Sie verkauften ihr nicht rollstuhlgängiges Haus; suchten Bauland in der Nähe der Familie, bauten ein behindertengerechtes Haus und kauften ein grösseres Auto. Fiora nahm dank einer Magensonde an Gewicht zu. Die Häufigkeit der epileptischen Anfälle nahm dank Medikamenten ab. Heute besucht die Neunjährige eine heilpädagogische Tagesschule und absolviert dort die verschiedensten Therapien.
Nicht hadern – im Moment leben
«Wir haben durch Fiora gelernt im Moment zu leben, nicht zu viel zu planen und die Zeit mit ihr zu geniessen», sind sich Boris und Lukretia einig. Fiora wird nie laufen oder reden können und immer auf Hilfe angewiesen sein. Für ihre Eltern bedeutet dies jedoch auf keinen Fall Fiora abzuschreiben. Im Gegenteil: Durch andere Rett-Eltern werden die beiden auf eine spezialisierte Delphintherapie aufmerksam. Ein erstes kurzes Zusammentreffen von Fiora und einem Delphin im Sommer 2016 in Florida verläuft vielversprechend. «Wir waren uns von den Zoobesuchen gewohnt, dass Fiora das Zusammentreffen mit Tieren verschläft», erzählt Vater Boris. Anders verhält sie sich im direkten Kontakt mit dem Delphin. Die Kleine klatsch und ist präsent. Der Delphin seinerseits zeigt ebenfalls Interesse und schwimmt immer wieder an Fiora vorbei.
Boris und Lukretia kontaktieren verschiedene Delphin-Therapiezentren und tauschen sich mit Eltern, deren Rett-Mädchen die Delphin-Therapie absolviert haben, aus. Schnell wird klar, dass das weltweit führende Delphin-Zentrum mit deutschsprechenden Therapeutinnen in Curaçao liegt – rund 8000 Kilometer vom Wohnort der Familie entfernt. Klar ist auch, dass für die Kosten weder die Invalidenversicherung (IV) noch die Krankenkasse aufkommt. «Ich begann wieder Teilzeit zu arbeiten und setzte mir zum Ziel, damit Fioras Therapie zu finanzieren», erinnert sich Mutter Lukretia.
Mitte 2021 – fünf Jahre nach dem ersten Zusammentreffen mit den Delphinen – wird klar, dass Lukretias Plan nicht aufgeht. Durch gesundheitliche Probleme, die familiäre Belastung und die Corona-Epidemie rückt das Delphintherapie-Projekt in weite Ferne. Der Faktor Zeit spielt gegen die Familie. «Je älter und schwerer Fiora wird, desto komplizierter und aufwändiger ist es, mit ihr zu reisen. Uns wurde immer klarer: Sie braucht die Therapie jetzt», erklärt Vater Boris.
«Scham hilft niemandem und bringt uns nicht weiter»
Hilfe einfordern und annehmen fällt Boris und Lukretia schwer. «Wir sind uns gewohnt, für alles selbst aufzukommen – und dann sitzt man plötzlich vor einem Antrag für Hilflosenentschädigung und schämt sich», umschreiben sie ihre Erfahrungen. Die Delphin-Therapie abzuschreiben, ist für Vater Boris keine Option. Er entscheidet sich für einen «Crowdfunding-Versuch» – zum Entsetzen seiner Frau. «Ich habe mich geschämt es nicht selbst geschafft zu haben und nun fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen», erinnert sich Mutter Lukretia. Eine Bekannte kommentierte die Entscheidung mit den Worten: «Was, ihr vermarktet eure Tochter?»
Hilfe annehmen oder aufgeben?
«Scham hilft niemandem und bringt uns nicht weiter», umschreibt Boris seine Haltung und kontaktiert den Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten. Umgehend wird ihm ein KMSK Crowdfunding-Leitfaden zur Verfügung gestellt. Die Familie erklärt ihr Projekt und liefert die detaillierten Informationen und digitales Bildmaterial. Den Rest übernimmt der Förderverein und postet das Crowdfunding-Projekt kostenlos auf www.kmsk.ch und auf Social- Media-Plattformen. Boris und Lukretia teilen den Link auf LinkedIn und Facebook. Doch wie sollten sie in nur 100 Tagen rund 12 000 Franken «einfach so» zusammenbekommen?
48 Stunden später ist die 12 000 Franken-Grenze geknackt. Möglich gemacht, haben es Freunde, Familie, Arbeitskollegen und Gönner. Der Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten koordiniert die eingegangenen Spenden, stellt Spendenbescheinigungen aus und überweist das Geld ohne Abzüge an Fioras Familie. Schnell und direkt. «Rückblickend hätten wir früher mit einem KMSK Crowdfunding starten sollen. Doch wir standen uns selbst im Weg. Die eigene Scham und die Angst vor den Reaktionen des Umfeldes waren die grössten Hürden», analysieren Fioras Eltern.
«Was, ihr vermarktet eure Tochter?»
Im Juli 2022 ist Fiora endlich in Curaçao bei den Delphinen. Eine deutschsprechende Physiotherapeutin und eine Logopädin kümmern sich um das Mädchen. Täglich verbringt sie zwei Stunden am und im Wasser. Vor und während den Einheiten arbeiten die zwei Fachfrauen mit Fiora. Nach wenigen Tagen schafft sie es mit den kleinen Händen einen Ring zu greifen und kann wieder mehrere Sekunden ohne fremde Hilfe kurz frei sitzen. Nach zwei Wochen reagiert sie schneller auf ihr Umfeld. Erstmals seit Jahren schläft sie in der Nacht durch.
«Es wäre für Fiora ideal die Therapie wiederholen zu können», sind sich nicht nur die Eltern, sondern auch die Lehrpersonen und Therapeutinnen in der Schweiz einig. Ein Crowdfunding mit KMSK ist nur alle fünf Jahre möglich. Offensivere Finanzierungsstrategien liegen der Familie fern. «Wir möchten Fiora nicht in die Öffentlichkeit zerren», sind sie sich einig. Es gilt nun auf Fioras Fortschritte aufzubauen und sie zu unterstützen. Der Rest wird sich zeigen. Das nächste Kapitel der Geschichte von «Fiora und die Delphine» wird sicher geschrieben. Es braucht nur noch ein wenig Zeit.
publiziert 2022 im “KMSK Wissensbuch” https://www.kmsk.ch