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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Platz für Wunder

Platz für Wunder

Mathilda bedeutet die «mächtige Kämpferin». Ihrem Namen macht die bald 2-Jährige alle Ehre. Trotz mehrerer, lebensbedrohender Erkrankungen macht Mathilda, was kaum jemand von ihr erwartet hat. Leben. Mit ihrem unbändigen Willen macht sie klar: Eine Diagnose ist nur eine Aussenperspektive. Was zählt, bin ich! 

Am 16. August 2021 kommt Mathilda Luisa als erstes Kind von Sandra und Thomas per Kaiserschnitt scheinbar gesund zur Welt. Beim Apgar- Test, einem ersten Gesundheitstest direkt nach der Geburt, glänzt das absolute Wunschkind mit einem Traumscore von 8 – 10 – 10 Punkten. Mathilda trinkt wie eine Weltmeisterin  und verzaubert die stolzen Eltern auf Anhieb.

Zwar ist sie mit ihren 2100 Gramm ein Leichtgewicht, doch die Tatsache, dass sie rund fünf Wochen zu früh auf die Welt kommt, lassen darüber keine Sorge aufkommen. «Ich war auf Wolke sieben, erfüllt von Liebe, Dankbarkeit und Erleichterung», erinnert sich Mutter Sandra an die ersten gemeinsamen Stunden mit ihrer Tochter. Leicht und sorglos. Ein Gefühl, das es heute im Leben von Thomas, Sandra und der kleinen Mathilda kaum mehr gibt. 

«Am nächsten Tag informierte mich eine Krankenschwester, dass Mathilda nicht mehr trinken mag», erinnert sich Sandra. Aufgrund ihres leichten Geburtsgewichtes entscheiden sich die Eltern gemeinsam mit dem Pflegepersonal sie auf die Neonatologie-Station zu verlegen. Mathilda könne durch die ideale Betreuung in der Neonatologie ihr Gewicht besser halten und dann auch schneller zunehmen, versicherte das medizinische Personal. «Eine emotional schwere Entscheidung, die jedoch rational für uns Sinn machte», fassen Thomas und Sandra heute rückblickend zusammen. Keinen Sinn machen die Fragen der behandelnden Ärztin in der Neonatologie nur wenige Stunden nach Mathildas Transfer. Die Medizinerin betont während einem kurzen Telefongespräch mehrmals ihren Verdacht auf eine geistige und körperliche Schwerstbehinderung. «Wir waren uns sicher, dass es sich um eine Verwechslung handeln musste. Wahrscheinlich lag der Ärztin die Krankenakte eines anderen Kindes vor oder das untersuchte Baby war schlichtweg nicht unsere Tochter», umschreibt Sandra ihre ersten Gedanken.

Was in den nächsten Stunden und Tagen folgt, ist der Albtraum aller Eltern. Zuerst die Bestätigung, dass eine Verwechslung ausgeschlossen werden kann, dann der Verdacht auf tödliche Erbkrankheiten und schlussendlich die Forderung der behandelnden Ärzte nach mehr Untersuchungen, Tests und Abklärungen. Die überforderten und verunsicherten Eltern willigen ein und zweifeln: «Viele Untersuchungen und Analysen machten in unseren Augen keinen Sinn und liessen Mathilda unnötig leiden. Nach 10 Tagen nahmen wir unser Baby schlussendlich mit nach Hause.» 

Fehlende Empathie und verlorenes Vertrauen 
Seit diesem Tag sind bald zwei Jahre vergangen. Mathilda ist ein Sonnenschein und geniesst die Aufmerksamkeit ihres Umfelds. Am liebsten hat sie Tage gefüllt mit Aktivitäten, um dann erschöpft am Abend zu leiser Musik einzuschlafen. Die genetischen Analysen haben den Verdacht auf starke körperlich und geistige Erkrankungen bestätigt. Mathilda hat das Zellweger-Syndrom. Dies ist eine seltene, genetisch bedingte Stoffwechselkrankheit. In Mathildas Fall äusserst sich die Krankheit durch kognitive Einschränkungen, Atemprobleme, Stoffwechselstörungen und einer mangelnden Muskelspannung. Zusätzlich hat Mathilda wenige Wochen nach ihrer Geburt eine starke Epilepsie entwickelt, diagnostiziert als West-Syndrom. Mehrere invasive Eingriffe, darunter kompliziertere neurologische Operationen, waren notwendig, um Mathildas Zustand zu stabilisieren.

Mathilda ist heute auf eine Magensonde und Sauerstoff angewiesen. Eigenständig kann sie sich kaum bewegen und braucht rund um die Uhr Betreuung. Immer an der Seite der kleinen Patientin ist Mutter Sandra. Ihre Arbeit im Fotografie-Atelier, dass sie zusammen mit Ehemann Thomas betrieb, hat sie aufgegeben. 

«Für Mathilda kann das kleinste medizinische Missverständnis fatal sein. Dieses Wissen belastet. Wenn du dich zusätzlich als Eltern nicht gehört und verstanden fühlst und dein Kind nicht in sicheren Händen wähnst, bringt es dich um den Verstand»

«Nach Mathildas Geburt waren wir mit der neuen Situation, der Haltung der Ärzte und den durchgeführten Untersuchungen überfordert», erinnert sich Mutter Sandra und fügt hinzu. «Wir waren konstant am Reagieren und hatten weder die Zeit noch die Kraft zu agieren. »Blutproben gingen verloren, Testresultate wurden falsch gedeutet, Diagnosen fraglich interpretiert und Komplikationen zu spät erkannt. Zentral schien für viele Fachpersonen der Schweregrad der Defizite und die auf wenige Monate reduzierte Lebenserwartung. «Ich hatte nie nach der Lebenserwartung meiner Tochter gefragt. Was für mich zählte war, dass die Ärzte Mathildas aktuellen Zustand ernst nahmen und entsprechend handeln», erinnert sich Sandra.

Die Absenz von Empathie und die Abgeklärtheit gegenüber Diagnosen und Möglichkeiten haben Thomas und Sandra schockiert. Sie verloren ihr Vertrauen in das Gesundheitssystem, in das medizinische Personal und deren Kommunikation. «Für Mathilda kann das kleinste medizinische Missverständnis fatal sein. Dieses Wissen belastet. Wenn du dich zusätzlich als Eltern nicht gehört und verstanden fühlst und dein Kind nicht in sicheren Händen wähnst, bringt es dich um den Verstand», macht Sandra ihre Gefühlslage klar. 

Heute sieht die Situation anders aus. Ein Wohnortswechsel der Familie veränderte automatisch auch die medizinische Betreuungssituation. Mit Wohnsitz in der Ostschweiz ist nun das St. Galler Kinderspital die wichtigste medizinische Anlaufstelle für Mathilda und ihre Eltern. Für alle drei ein Glücksfall. «Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Mathilda, mit ihren multiplen Diagnosen und Bedürfnissen, betreut von mehreren Dutzend Fachpersonen, die medizinischen Strukturen und Verantwortlichkeiten ans Limit gebracht», fasst Sandra zusammen. Im neuen Setting regelt ein Betreuungsplan jedes Detail im medizinischen Umgang mit Mathilda. Unter der Leitung von zwei betreuenden Ärzten werden Kommunikation, Information und Intervention definiert, diskutiert und schlussendlich festgehalten. Konkurrenzlos und unantastbar im Zentrum steht dabei das Wohl des Kindes.

Für Mathilda bedeutet dies, so oft wie möglich zuhause bei der Familie zu sein. Im Betreuungsplan wird klar aufgezeichnet, wie diese «Idealsituation» realisiert werden kann, was die Risiken und Chancen sind und wie die Verantwortlichkeiten verteilt werden. Jegliche Eventualitäten müssen erfasst und geregelt sein. Was logistisch einleuchtend tönt, ist für die involvierten Parteien harte und konstante Arbeit. 

«Als Eltern muss man sich durch den Betreuungsplan mit Situationen befassen, von denen man sich gewünscht hat, sie nie zu erleben», gesteht Sandra. Wer ruft in einem Notfall die Ambulanz? Wird das Kind bei einem Herzstillstand reanimiert? Und wo enden die lebenserhaltenden Massnahmen? Das Wohl des Kindes hat viele Nuancen und je nach Blickwinkel von Ärzten und Eltern unterschiedliche Interpretationsansätze. Ein Betreuungsplan stellt sicher, dass das Kind genauso behandelt wird, wie es die Eltern für ihre Tochter oder ihren Sohn wünschen. Von den leitenden Ärzten, welche Betreuungspläne koordinieren, ist damit nicht nur Fachwissen, sondern auch viel Zeit, Empathie und Interesse dem Patienten und seiner Familie gegenüber gefragt. In Mathildas Fall kommen die leitenden Ärzte für bestimmte Betreuungsplanbesprechungen zur kleinen Familie nach Hause. 

Das gleiche Ziel: Das Beste für das Kind 
«Mathilda und ihr Wohlergehen stehen über allem. Es zählt nicht ihre Diagnose oder ihre Einschränkungen, sondern was ihr guttut», sind sich Thomas und Sandra einig. Festgehalten werden im Betreuungsplan auch die Vorlieben von Mathilda (Sie liebt es zu turnen!), ihre besonderen Wünsche (Gebadet werden bei 38 Grad und danach schön eincremen) und die Art ihr zu begegnen (Beim Betreten vom Zimmer sich mit ruhiger Stimme bemerkbar machen und danach sanft an der rechten Schulter berühren). Mathilda wird nicht mehr als Fall oder Diagnose angesehen, sondern als Persönlichkeit mit eigenen Bedürfnissen. Zugriff zum Betreuungsplan haben alle Fachleute, welche sich um das kleine Mädchen kümmern. «Der Plan hat die Zusammenarbeit mit den Ärzten und dem Pflegepersonal grundlegend verändert. Es ist eine transparente Diskussion auf Augenhöhe. Verbinden tut uns alle das gleiche Ziel: Das Beste für Mathilda zu wollen und zu geben», zieht Sandra Bilanz. 

«Ich bin Realistin, kenne die Diagnosen und weiss, wie es meiner Tochter geht. Ich bin aber auch Optimistin und da gibt es Platz für Hoffnung, für unerwartete Wendungen und Wunder. «Endstationen» gibt es keine»

Wie «das Beste» aussieht, wird konstant zwischen Ärzten und Eltern diskutiert und auch adjustiert. Seit mehreren Monaten wird Mathilda durch die Palliativstation betreut. Eine Entscheidung, mit der Thomas und Sandra lange gerungen haben. «Palliativ tönt nach Endstation und Lebensende. So weit sind weder wir noch Mathilda,» macht Mutter Sandra klar. «Ich bin Realistin, kenne die Diagnosen und weiss, wie es meiner Tochter geht. Ich bin aber auch Optimistin und da gibt es Platz für Hoffnung, für unerwartete Wendungen und Wunder. «Endstationen» gibt es keine», sagt Sandra. In den Gesprächen mit den Ärzten wurde jedoch klar, dass Mathilda mit ihrem «interdisziplinären Krankheitsbild» und dem Anspruch an eine «ganzheitliche» und abgestimmte medizinische Betreuung in der Palliativmedizin am besten aufgehoben ist. 

Mathildas Entwicklung in den vergangenen Monaten hat gezeigt, dass die Entscheidung richtig war. Sie geniesst es zu Hause bei ihren Eltern zu sein und das Privileg, dass Mutter Sandra da ist – zum Kuscheln, zum Trösten und Lachen. Mathilda freut sich jeden Tag auf die Frauen der Kinder-Spitex und macht betreffend Körperspannung wieder kleine Fortschritte. Eine Session Ergotherapie, ein Spaziergang im Kinderwagen oder ein unerwarteter Besuch: Hauptsache es gibt Unterhaltung. Für Thomas und Sandra ist ihre Tochter eine Inspiration. «Mathilda zeigt uns jeden Tag, dass Prognosen und Diagnosen für sie keine Rolle spielen. Aufgeben ist für Mathilda keine Option. Was zählt ist sie, der Moment und was wir gemeinsam daraus machen.» 

Krankheitsbild
Das Zellweger-Syndrom ist eine erblich bedingte Stoffwechselkrankheit. Etwa eines von 100.000 Babys ist betroffen. Zu den Symptomen gehören Funktionsstörungen verschiedener Organe, kognitive Defizite und fehlende Muskelspannung. Eine Therapie ist nicht bekannt. Die Krankheit verläuft tödlich.

publiziert in “KMSK Wissensbuch 2023” (Oktober 2023), https://www.kmsk.ch/resources/Seltene-Krankheiten_Case-Management_Mathilda-Louisa_Peroxisomale-D-Bifunktionale-Enzym-Defizienz1.pdf

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