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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Falsch bleibt falsch.

Falsch bleibt falsch.

Positive Fehlerkultur: Was für ein Wort! Doch ist es heute wirklich weniger beschämend, Fehler zu machen als früher? Falsch liegt nach wie vor niemand gerne. Vor allem nicht in der Schule. 

In meinem ersten Schulzeugnis schrieb meine Lehrerin Frau Krieg in feinster Schnürlischrift: «Christa ist ein strahlendes, liebes Kind. Sie arbeitet mündlich und schriftlich gut mit. Passiert ihr einmal ein Fehler, oder versteht sie etwas nicht aufs erste Mal, so gerät sie sofort in Panik! Sie muss lernen, Fehlern gegenüber nicht so empfindlich zu reagieren.» Meine Diktate waren damals und all die Folgejahre mit Fehlern übersät und erbarmungslos mit Rotstift markiert. Es folgten Dekaden an Übungseinheiten und Strafdiktaten. Frau Krieg hatte Recht: Mich beschleicht noch heute beim Wort «Diktat» ein Gefühl von Panik und Hilflosigkeit. 

Jedes Kind weiss: Gut ist, wer keine Fehler macht. Später wird klar, dass schlechte Noten, zusätzliche Hausaufgaben, häufige Elterngespräche und beschränkte Zukunftsaussichten mit den eigenen Fehlern und Fehlentscheidungen eng zusammenhängen. 

Ich erhielt mein erstes Zeugnis Mitte der 1980er-Jahre. Positive Fehlerkultur und damit ein wertschätzender und transparenter Umgang mit Fehlern waren damals nicht gängige Praxis. Heute findet sich der Begriff flächendeckend in allen Lehrplänen und Schulstrategien: Fehler sind hilfreich. Die von Pädagoginnen und Pädagogen angepriesene Fehlerkultur klingt für viele Schülerinnen und Schüler dennoch wie eine grosse Lüge. Mit dem ersten Schultag beginnt der Ernst des Lebens und jedes Kind weiss: Gut ist, wer keine Fehler macht. Später wird klar, dass schlechte Noten, zusätzliche Hausaufgaben, häufige Elterngespräche und beschränkte Zukunftsaussichten mit den eigenen Fehlern und Fehlentscheidungen eng zusammenhängen. 

Die Angst vor dem “Falsch-sein”
«Das Individuum, welches gerne Unrecht hat und falsch liegt, gibt es kaum. Und kaum jemand steckt seine Energie in Aktivitäten, die sein eigenes Versagen fördern», schreibt Bildungsexperte und Autor Michael B. Horn in seinem neusten Buch «From reopen to reinvent. (RE)Creating school for Every Child». «Fehler» bleibt ein schlechtes Wort, auch wenn man es richtig schreibt. Niemand bekommt eine Lehrstelle oder schafft es ans Gymnasium, weil er so gut Fehler macht. Das Fehlerrisiko hält Lernende davon ab, sich überhaupt auf eine Herausforderung einzulassen. Denn Fehler sind ein Anzeichen von Schwäche. Sie stellen das eigene Selbstbewusstsein infrage. 

Wer den Begriff «Prüfungsangst» googelt, kommt auf rund 1,3 Millionen Treffer in 0,39 Sekunden. Wie tief diese Angst bei Lernenden sitzt, zeigt auch eine PISA-Studie zum Wohlbefinden. 2015 wurden Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Studie zum Thema Prüfungsangst befragt. Dabei gaben ein Drittel aller Schweizer Lernenden an, trotz guter Vorbereitung vor einer Prüfung nervös zu sein. Zu den nicht oder weniger gut vorbereiteten Kindern gibt es keine Zahlen. Sie lassen sich nur erahnen. 

Die Gefühlslage der heutigen Schülerschaft gegenüber Fehlern und Scheitern scheint sich in vielen Fällen kaum von den Erfahrungen ihrer Eltern und Grosseltern zu unterscheiden. Zwar gibt es keine Stockschläge und Kopfnüsse für fehlendes Wissen, doch im Umgang mit Scheitern und Fehlern herrschen immer noch oft Hilflosigkeit und Panik – trotz positiver Fehlerkultur. 

Ein Drittel aller Schweizer Lernenden gab an, trotz guter Vorbereitung vor einer Prüfung nervös zu sein. Zu den nicht oder weniger gut vorbereiteten Kindern gibt es keine Zahlen. Sie lassen sich nur erahnen. 

«Noten, um Leistungen zu beurteilen, und die gepriesene Fehlerkultur sind nicht kompatibel», sagt Martin Hafen, Dozent am Institut Sozialmanagement der Hochschule Luzern. Er konkretisiert: «Solange Schule und Lernen von Prüfungsmechanismen dominiert werden und ‹richtig und falsch› als massgebende Leistungsnachweise dienen, ist Fehlerkultur nichts als ein Lippenbekenntnis.» In einer ausgeprägten Leistungsgesellschaft bleibt das Kultivieren von Fehlern ein Widerspruch. Selektion und Leistung fordern und fördern das Bild einer fehlerfreien Performance. Im Fokus steht die Fehlervermeidung; Lernen rückt in den Hintergrund. 

Erkenntnisse und nicht Fehler zählen
Wer kennt nicht die Situation, eine gestellte Frage nicht zu beantworten, aus Angst, die Antwort sei falsch? Und wer hat das eigene Falschliegen nicht schon bewusst ignoriert, verschwiegen, verdeckt oder gar verleugnet? Das mulmige Gefühl für Nicht-Wissen belächelt, blossgestellt oder gar stigmatisiert zu werden, ist ein stetiger Begleiter: zuerst beim Diktat in der Primarschule, später beim Beförderungsgespräch mit den Vorgesetzten. 

Aus Fehlern zu lernen, ist ein Prozess und braucht Möglichkeiten, Zeit und Vertrauen in sich selbst und seine Umgebung. 

Hafen ist überzeugt, dass ein Schulsystem auf Lernerfahrungen und Selbstbestimmung ausgerichtet sein muss, um den Ansprüchen einer positiven Fehlerkultur zu entsprechen. «Wenn die Schule ein geschütztes Lernfeld darstellt, dann zählen Erkenntnisse und nicht Fehler», betont der Soziologe. Aus Fehlern zu lernen, ist ein Prozess und braucht Möglichkeiten, Zeit und Vertrauen in sich selbst und seine Umgebung. 

Als «Einladungen zu neuen Möglichkeiten» umschreibt Bildungsforscher John Hattie das Potenzial einer positiven Fehlerkultur. Seine Forschungsarbeiten betonen die Wichtigkeit von Fehlern in Lernprozessen. Fehler sind dabei keine Anzeichen von Unfähigkeit, sondern wertvolle Orientierungspunkte zwischen vorhandenem Wissen und neuen möglichen Perspektiven. 

Martin Hafen sagt dazu: «Fehler werden oft erst durch die Reaktion des Umfeldes zu Fehlern.» Soziale Rahmenbedingungen und die Familie seien dabei starke Einflüsse und sehr prägend. Es käme niemandem in den Sinn, die Versuche eines Kleinkinds, das sich aufzurichten versucht und immer wieder umkippt, als Fehler zu bezeichnen. Scheitern ist für Kleinkinder ein Normalzustand. «Trial and error» lautet das Prinzip. Entwicklung wird erst dadurch möglich gemacht. Mit dem Eintritt ins Schulsystem wird Nicht-Können plötzlich öffentlich und fremd verglichen und bewertet. Aus dem kindlichen Scheitern, das zum Lernen gehört, wird ein fremdgesteuertes Erfüllen einer Pflicht. 

Nicht ohne gute Beziehung 
Der Lehrplan 21 listet die Fehlerkultur unter didaktischen Qualitätsmerkmalen auf, in enger Begleitung von Feedback- und Kommunikationskultur. Die Umsetzung wird den Pädagoginnen und Pädagogen überlassen. Eine Mittelstufenlehrerin definierte die Fehlerkultur in ihrer Klasse gegenüber der Autorin so: «Wir unterscheiden im Unterricht zwischen Trainings- und Prüfungsphasen. Im Training sind Fehler wichtig, um besser zu werden. In der Prüfungsphase sollten die Fehler, wenn möglich, verhindert werden.». 

«Ich bin überzeugt, dass Lehrbetriebe nicht nur auf Noten schauen. Gesucht werden junge Menschen, die Fehler erkennen, dazu stehen und sich bemühen, sie nicht zu wiederholen.» 

Bildungsforscher Hattie sieht in der positiven Beziehung zwischen Lehrperson und Schulkind eine wichtige Voraussetzung für das freie Fehlermachen. Eine gute Beziehung schaffe die Gewissheit, Fehler machen zu dürfen, betont der Bildungsexperte. Dies gebe Lernenden den Raum, um Hilfe zu fragen, und das Selbstvertrauen, es nochmals zu versuchen. Aus dem Fehler werde ein Lernanlass nicht ein Problem. 

Ein Oberstufenlehrer bevorzugt im Gespräch mit der Autorin, auf den Begriff «Fehlerkultur» zu verzichten. Konkret sagt er:«Ich appelliere ans kritische Denken der Schüler und Schülerinnen. Versucht selbst zu entdecken, was richtig und falsch ist und was die Gründe dafür sind.» Dass schlechte Noten basierend auf Fehlern in den Prüfungen weder fürs Gymnasium noch eine Lehrstellensuche hilfreich sind, bleibt – mit oder ohne Fehlerkultur – ein Fakt. «Ich bin überzeugt, dass Lehrbetriebe nicht nur auf Noten schauen», ergänzt der Oberstufenlehrer. «Gesucht werden junge Menschen, die Fehler erkennen, dazu stehen und sich bemühen, sie nicht zu wiederholen.» 



Weiter im Netz 
PISA-Studie zum Wohlbefinden (2015) > www.oecd.org /berlin > Publikationen > PISA 2015 Results (Volume III) Student’s Well-Being 
Weiter im Text 
John Hattie; «Visible Learning for teachers». 2012. Routledge. 
John Hattie & Gregory Yates; «Visible Learning and the Science of How We Learn». 2013. Routledge. 
Michael B. Horn; «From reopen to rein- vent». 2022. Jossey-Bass. 


publiziert in “Bildung Schweiz” (02/2023)

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