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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Zweisprachig gegen Armut

Zweisprachig gegen Armut

Kann die Muttersprache der Armutsbekämpfung dienen? Ein Ostschweizer Projekt macht in Bergdörfern in Thailand die Probe aufs Exempel – und das mit Erfolg.

Anong hat sich seit Monaten auf ihren ersten Schultag gefreut. Doch die Einschulung wird zum Desaster. Das Mädchen versteht die Sprache der Lehrerin nicht. Zur grossen Enttäuschung kommen in den nächsten Monaten Langeweile, Frustration und zuletzt Desinteresse am Unterricht dazu. Anong verlässt nach wenigen Jahren die Schule. Jobperspektiven gibt es keine. Mit 16 Jahren erwartet sie ihr erstes Kind.

Anong steht symbolisch für die Kinder und Jugendlichen, die in abgelegenen Bergdörfern Thailands aufwachsen. Dass sie die Sprache der Lehrpersonen im Unterricht nicht verstehen, liegt nicht an mangelnder Intelligenz, sondern an ihrer Herkunft. In den Bergdörfern wird nicht die offizielle Landessprache Thai gesprochen. Die Bevölkerung kommuniziert in den Sprachen der einzelnen Volksstämme, unter anderem in Pwo Karen, Mon oder Hmong. Thai ist für diese ethnischen Minderheiten – sie leben vor allem in den Grenzregionen zu Laos und Myanmar – eine Fremdsprache. Den ersten Kontakt damit haben sie in der Schule, wo der Unterricht mit den vom Staat zur Verfügung gestellten Büchern in der offiziellen Landes- und Schulsprache Thai stattfindet. Der lokalen Sprache sind die Lehrerinnen und Lehrer nicht mächtig.

Dass sie die Sprache der Lehrpersonen im Unterricht nicht verstehen, liegt nicht an mangelnder Intelligenz, sondern an ihrer Herkunft.

Für Kinder und Jugendliche hat dieses «gegenseitige sprachliche Unverständnis» fatale Folgen. Im Vergleich mit dem nationalen Durchschnitt weisen die Kinder in den Bergdörfern schlechtere Schulleistungen auf, sie verlassen die Schule früher, absolvieren nur selten eine weiterführende Schule oder ein Studium. Ohne Schulbildung ist es schwer, eine Arbeit zu finden. Die Jugendlichen bleiben in der gleichen Armutsspirale wie ihre Eltern stecken: Stigmatisiert durch Herkunft und Sprache.

Unterricht in der Muttersprache
«Wenn die Muttersprache nicht gefördert wird, beeinflusst dies nicht nur die schulischen Leistungen und später die Berufswahl, sondern auch die Selbstwahrnehmung. Wissen, Geschichten, kulturelle Vielfalt gehen verloren», erklärt Brigit Burkard, Programmverantwortliche Südostasien der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi. Seit 2007 investiert die Appenzeller Stiftung – finanziert durch die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) und private Spenden – in ein Projekt zur Förderung des zweisprachigen Unterrichts für ethnische Minderheiten.

Die Strategie ist einleuchtend: Der Unterricht soll in der Muttersprache der Schülerinnen und Schüler stattfinden. Wer in der Muttersprache unterrichtet wird, lernt eine neue Sprache leichter. Als Zweitsprache wird Thai unterrichtet. Im Klassenzimmer steht eine Lehrperson, welche beide Sprachen spricht oder ein Lehrerteam – bestehend aus einer Thai-Lehrkraft und einer Assistentin, welche den Unterrichtsinhalt in die lokale Sprache übersetzt. Finanziert werden im Rahmen des Projektes die Ausbildung von Lehrerinnen bzw. Assistenten, die Entwicklung von Lehrmitteln und Lehrplänen sowie Weiterbildungen und Sensibilisierungsanlässe für die Bevölkerung. Sechs Schulen mit insgesamt 2000 Kindern ethnischer Minderheiten profitieren vom zweisprachigen Unterricht. Dazu kommen an die 100 Lehrpersonen, die eine Ausbildung im zweisprachigen Unterricht erhalten. Die Kosten pro Jahr liegen bei rund 150 000 Franken.dsc_0414

Unterricht in der eigenen Muttersprache: Für Kinder und Lehrpersonen in Thailand eine Neuheit. (Bild Wüthrich)

«Ich kenne kein vergleichbares Projekt in Thailand, beziehungsweise der gesamten Region, welches sich so professionell mit der Einführung der Muttersprache auseinandersetzt», betont Burkard und fügt hinzu: «Auf der einen Seite durch die Zusammenarbeit mit der Dorfbevölkerung, um den kulturellen Hintergrund einzubeziehen; auf der anderen Seite durch den Dialog mit dem Bildungsministerium zur Verankerung im System.»

Wissen, das sonst verlorenginge
Eine entscheidende Rolle spielen die Partnerorganisationen an Ort. An vorderster Front steht dabei Panne Bharistha Sreshthaputra, Projektkoordinatorin der Foundation for Applied Linguistics (FAL). Die 40-Jährige besucht die Schulen in den Bergdörfern. Zum Beispiel in Baan Pui, rund vier Autostunden nördlich der Grossstadt Chiang Mai. Zwischen Reisfeldern und Bambuswäldern leben hier in einfachen Holzhütten etwa 300 Familien.

Stolz auf die Sprache Pwo Karen ist kaum jemand. «Wer Erfolg, einen guten Job und Geld haben will, spricht Thai. Schauen Sie nur mal fern», sagt eine der Dorfältesten.

Die erste Kirche wurde vor 20 Jahren gebaut, fünf Jahre später kam eine Schule dazu. Elektrizität und damit in fast jedem Haus einen Fernseher gibt es erst seit kurzem. Gesprochen wird Pwo Karen. Die Sprache verfügt über eigene Schriftzeichen und hat kaum Ähnlichkeiten mit der offiziellen Landessprache Thai. Stolz auf die Sprache Pwo Karen ist kaum jemand. «Wer Erfolg, einen guten Job und Geld haben will, spricht Thai. Schauen Sie nur mal fern», sagt eine der Dorfältesten. Um die Menschen in Baan Pui für das Schulprojekt zu sensibilisieren, fanden in der Dorfkirche Workshops statt. «Ohne die Unterstützung der gesamten Bevölkerung ist ein solches Schulprojekt nicht realisierbar», betont die lokale Projektkoordinatorin. «Der Pwo-Karen-Sprachschatz liegt in den Köpfen und Herzen der Menschen hier im Dorf.»

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Stolz auf die eigene Sprache ist kaum jemand, auch die ältere Bevölkerung nicht. Was zählt ist Thai. (Bilder Wüthrich)

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Die Bibel war lange Zeit das einzige Buch in Pwo Karen. Seit dem Projektstart hat sich dies geändert: Das erste Wörterbuch ist für dieses Jahr geplant. Die Serie an Schulbüchern in Pwo Karen wurde über die vergangenen Jahre stetig erweitert. Die Bücher wurden mit der Dorfbevölkerung zusammen entwickelt. Sie thematisieren das Leben im Dorf und die Traditionen der Gemeinschaft. Wissen, das sonst verloren ginge. Wer würde sich in 30 Jahren noch erinnern, wie man aus Bambus die traditionellen Instrumente anfertigt? Wie man aus dem Bergfrosch eine Suppe kocht oder wie man auf traditionelle Art die Hausdächer deckt und Reisfelder bewässert? Und wer hätte gewusst, dass «Ang-Tu», in Pwo Karen das Wort für Hochzeit, wörtlich übersetzt «Iss das Schwein» bedeutet?

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Schulbücher in der eigenen Muttersprache: Ein Instrument um die eigene Geschichte und Identität besser zu verstehen. (Bild Wüthrich)

Unsichere Zukunft ohne Budget
Bei Lehrerschaft, Eltern und dem Bildungsministerium stösst das Projekt auf Wohlwollen. Die Leistungen der Schülerinnen haben sich im nationalen Vergleich verbessert; kaum ein Kind verlässt die Schule vor Ablauf der obligatorischen Schulzeit, und immer mehr Jugendliche schaffen den Sprung an weiterführende Schulen. Die Kinder sind stolz auf ihre Sprache und Herkunft. Projektkoordinatorin Panne hofft, dass einige sich für den Lehrerberuf entscheiden und zurück in ihre Dörfer kommen. Eine erste Runde im Kampf gegen die Armutsspirale scheint das Schulprojekt gewonnen zu haben. Doch rosig sieht die Zukunft nicht aus. Ende 2015 hat die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi die Finanzierung eingestellt. Obwohl als Vorzeigeprojekt für die gesamte Region bekannt, sind alternative Geldgeber nicht in Sicht.

Es gibt zwar ein Gesetz, das den Unterricht in der Sprache der ethnischen Minderheiten erlaubt, aber kein Budget für dessen Umsetzung.

Schuldirektorin Piyapat Mee-nam, welche die Schule mit rund 230 Kindern in Baan Pui seit sechs Jahren leitet, sorgt sich um die Zukunft. «Dem Bildungsministerium ist zwar klar, wie wirksam der bilinguale Unterricht ist. Im Rahmen des Projektes besuchten dessen Mitarbeiter unsere Schule. In Zukunft wird dafür das Geld fehlen. Es gibt zwar ein Gesetz, das den Unterricht in der Sprache der ethnischen Minderheiten erlaubt, aber kein Budget für dessen Umsetzung, keine entsprechende Ausbildung für die Lehrkräfte. Wer soll das Benzin für die Reise bis zu unserer Schule bezahlen? Wer übernimmt die Kosten für die Assistenzlehrer und für die Lehrmittel in unserer Sprache?», fragt sich die Direktorin. Die Stiftung Kinderdorf Pestalozzi ist sich der Problematik bewusst, doch traut sie dem thailändischen Bildungsministerium das Weiterführen der Projekte zu. «Thailand ist verglichen mit anderen südostasiatischen Staaten fortschrittlich. 30 Prozent des heutigen Lehrplanes beziehen sich auf lokales Wissen, das heisst auf Sprache und Traditionen», betont Burkard. Dass es an Lehrpersonen fehlt, die diese Strategie umsetzen, ist auch Burkard klar. «Wir werden das Projekt erneut analysieren und dann entscheiden, in welcher Form unsere weitere Präsenz notwendig ist.»*

*Die finanzielle Unterstützung wurde 2016 bis Mai 2017 verlängert.

Der Artikel erschien am 24. April 2016 in der Ostschweiz am Sonntag

 

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