Widget Image
Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

Beliebte Beiträge

Perspektiven zu schaffen, bleibt die grosse Herausforderung

Perspektiven zu schaffen, bleibt die grosse Herausforderung

Die Zahl der minderjährigen Flüchtlinge, die ohne ihre Eltern in der Schweiz um Aufnahme ersuchen, steigt stetig. Wie sie betreut werden, ist Sache der Kantone – und mitentscheidend dafür, ob Integration gelingt.

Ali ist 12 Jahre alt, als er mit seinem Vater aus Afghanistan flüchtet. Über drei Jahre ist er unterwegs, steckt längere Zeit im Sudan fest. Sein Vater stirbt in einem Flüchtlingslager. Der Sohn schafft es nach Libyen und per Boot nach Italien. Auf Umwegen kommt er in die Schweiz, wird registriert und in ein Durchgangszentrum aufgenommen. Ali ist allein und gerade mal 16 Jahre alt.

Ali steht symbolisch für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Offiziell werden sie als «mineurs non accompagnés» MNA oder «unbegleitete minderjährige Asylsuchende» UMA bezeichnet. Vergangenes Jahr wurden in der Schweiz laut dem Staatssekretariat für Migration SEM 2736 unbegleitete Flüchtlingskinder registriert. Das sind mehr als dreimal so viele wie im Vorjahr. Die Zahl entspricht sieben Prozent aller Asylsuchenden. Jeder 14. Aufnahmesuchende ist damit ein Kind oder Jugendlicher ohne Eltern. Am meisten MNA stammten vergangenes Jahr aus Eritrea (1191) oder wie Ali aus Afghanistan (909). Eine kleinere Gruppe mit 228 kommt aus Syrien. Die grosse Mehrheit sind junge Männer zwischen 16 und 18 Jahren. Die MNA werden vom Bund auf die ganze Schweiz verteilt. Die einzelnen Kantone bestimmen, wie sie deren Betreuung und Integration meistern. Es gibt Empfehlungen, aber keine bindenden Richtlinien.

Betreuung variiert je nach Kanton
Laut dem Bericht des UNO-­Kinderrechtsausschusses Anfang 2015 sei es «reine Glückssache, welche Bedingungen die Kinder und Jugendlichen je nach Kanton antreffen». Ob untergebracht in eigenen Institutionen oder Heimen, gemeinsam mit Erwachsenen in Asylzentren oder mit anderen Flüchtlingen in einer Wohnge­ meinschaft: Die Betreuungsmuster variie­ ren von Kanton zu Kanton. Erfahrungen zeigen, dass bei einer gemeinsamen Unter­ bringung mit Erwachsenen den Kindern und Jugendlichen Rückzugsmöglichkeiten fehlen. Sie werden mit Streitereien und Alkohol konfrontiert. Auch das Leben in einer Wohngemeinschaft ist schwierig. Den Umgang mit Geld, Regeln und Pflichten haben die MNA kaum gelernt. Schulden und Konflikte drohen. Statt Geld für das Deutschbuch auszugeben, werden für das fünfte Paar Turnschuhe Schulden gemacht.

«Für viele Kantone ist die Unterbringung der MNA eine logistische Herausforderung, die von Zeitdruck, Platzmangel und beschränkten Budgets dominiert wird. Dass es eine pädagogische Herausforderung mit dem Ziel der Integration ist, wird vergessen», sagt Rolf Widmer, Ökonom und Sozialarbeiter. Widmer leitete in den 1990erJahren während des Konflikts im Balkan die Asylorganisation AO des Kantons Zürich, die damals bis zu 8000 Asylsuchende betreute, und baute als Erster in der Schweiz Strukturen für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge auf.

dsc_4439

«Die Betreuung von jungen Flüchtlingen ist eine pädagogische Herausforderung. Rolf Widmer, Ökonom und Sozialarbeiter.(Bild Wüthrich)

 

«Doch Pädagogik kann nur dort stattfinden, wo man sich persönlich kennt und gegenseitig schätzt. In einer Unterkunft mit 200 Jugendlichen ist das nicht mehr möglich.» Heute agiert Widmer vor allem als treibende Kraft und operativer Leiter von «tipiti». Der Verein bietet Förderangebote für Kinder und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen: von der betreu­ ten Wohngemeinschaft und Pflegefamilie bis hin zur Sonderschule.

Seit Mai 2016 kümmert sich tipiti auch um 33 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge im Kanton Appenzell Ausserrhoden. Denn der kleine Ostschweizer Kanton hat sich mit Blick auf die Erfahrungen in der Betreuung von MNA entschieden, neue Wege zu gehen: persönlich und beziehungsorientiert. Die geeignete Infrastruktur – in diesem Fall zwei Häuser im Kinderdorf Pestalozzi – mietet der Kanton vom Kinderdorf. Das Betreuungskonzept sowie die Anstellung der Fachpersonen übernimmt tipiti. Jugendliche unter 14 Jahren kommen in eine betreute Pflegefamilie. Um die restlichen 33 männlichen Jugendlichen kümmert sich ein Team aus Hauseltern, Psychologen, Sozialpädagogen, Kulturvermittlern, Handwerkern sowie ein Lehrerteam. Die Ziele sind klar: Sicherheit, Beziehungen, Perspektiven. «Während der ersten Monate werden die Jugendlichen mit dem Leben, den Pflichten und Anforderungen vertraut gemacht: ankommen, vertrauen, verstehen», erklärt Widmer. Gemeinsam wird gekocht, geputzt, ein­ gekauft und täglich zusammen mit einem Lehrerteam Deutsch gelernt. Wie bediene ich einen Backofen? Wie löse ich ein Bahnticket?

Selbständigkeit steigern
Die Bewohnergruppen sind kulturell und religiös gemischt. Es gelten klare Regeln und gegenseitige Toleranz. Es gibt eine Velowerkstatt, einen Garten, eine Schrei­ nerei. Handwerkliche Arbeiten werden forciert. Stärken sollen erkannt und gefördert werden. Jeder Jugendliche bekommt einen individuellen Förderplan und ein Hobby. Der lokale Fussballverein, Chor oder Boxclub dient als Integrationsplattform. Zusätzlich werden regelmässige Kontakte mit Familien aus der Zivilbevölkerung unterstützt. Für die Jugendlichen, welche die vergangenen Jahre nach dem Prinzip «der Stärkere überlebt» funktioniert haben, ist es oft schwierig, sich unterzuordnen. Doch nur wer den geregelten Alltag meistert – vom pünktlichen Aufstehen übers Kochen bis hin zum Lernen – kommt weiter, und zwar ins «Haus 2». Hier bekommen die Jugendlichen ihr eigenes Geld. Sie kochen, putzen und waschen selbst. Je nach Schulniveau wechseln sie in eine Integrationsklasse, beginnen mit dem Praktikum in einem Betrieb oder einem «Brückenangebot». Perspektiven schaffen ist das Hauptziel. Die Regelklasse bleibt dabei die Ausnahme.

«Wir mieten für sie eine Wohnung und die jungen Erwachsenen werden immer noch vom Kanton bzw. von den Gemeinden unterstützt. Erst wenn sie ihr eigenes Leben bewältigen und ihr eigenes Geld verdienen, werden sie in die Selbständigkeit entlassen.»

«Die jungen Eritreer weisen öfter ein tieferes Bildungsniveau auf. Sie starten mit einem Alphabetisierungskurs. Viele Afghanen hingegen stammen aus der Mittelschicht und verfügen über ein gutes Bildungsniveau. Die Regelklasse kann eine Option sein», erklärt Widmer. Wer sich in «Haus 2» bestätigt, siedelt in eine Jugendwohngruppe um. Auch hier werden die Jugendlichen durch ihre Bezugsperson weiter begleitet. «Wir mieten für sie eine Wohnung und die jungen Erwachsenen werden immer noch vom Kanton bzw. von den Gemeinden unterstützt. Erst wenn sie ihr eigenes Leben bewältigen und ihr eigenes Geld verdienen, werden sie in die Selbständigkeit entlassen.»pesti-aa

Das Leben in einer Wohngemeinschaft ist schwierig. Die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge müssen den Umgang mit Geld, Regeln und Pflichten lernen. (Photo Stiftung Kinderdorf Pestalozzi)

 

Kosten sind nicht höher
Die ersten Erfahrungen im Appenzeller Projekt sind gut. Die Jugendlichen sind motiviert, neugierig und lernwillig. Doch sind jahrelange Betreuung, ein eigenes Lehrerteam und individuelle Förderpläne nicht eine zu kostspielige Variante, um in der Schweiz zur Regel zu werden? Laut dem Kanton Appenzell Ausserrhoden kostet die Betreuung für einen Jugendlichen pro Tag rund 100 Franken. 50 Franken bekommt der Kanton vom Bund, der Rest wird von den Gemeinden (90 Prozent) und vom Kanton (10 Prozent) finanziert.

Um Aufenthaltsstatus, fehlende Papiere und Ungereimtheiten betreffend Herkunft und Alter kümmern sich die Betreuer in Trogen nicht. «Wir sind nicht die Polizei».

Heiminstitutionen sind mit Kosten von mehreren hundert Franken pro Tag um einiges teurer. Auch grössere Zentren für jugendliche Flüchtlinge sind kaum billiger. In Genf wird für eine Sicherheitsfirma, die am Abend rund ums Heim patrouilliert, Geld ausgegeben. Um Aufenthaltsstatus, fehlende Papiere und Ungereimtheiten betreffend Herkunft und Alter kümmern sich die Betreuer in Trogen nicht. «Wir sind nicht die Polizei».

Vertrauen uns die Jugendlichen etwas an, versuchen wir sie zu unterstützen. Es ist uns aber ein Anliegen, dass die Flüchtlinge wieder Kontakt zu ihren wichtigsten Bezugspersonen herstellen», sagt Rolf Widmer. In den 1990er Jahren hat sich der Flüchtlingsexperte intensiv mit der Ausbildung von Minderjährigen aus Bosnien beschäftigt. Rund 75 Prozent seien mit einer Ausbildung wieder in ihr Herkunftsland zurückgekehrt.

Solche Zahlen wird es mit den Jugendlichen aus Eritrea, Afghanistan und Syrien kaum geben. Solange z. B. die Gefahr bestehe, dass junge Männer bei ihrer Rückkehr nach Eritrea in die Armee auf unbestimmte Zeit eingezogen werden, sei die Motivation zurückzukehren kaum vorhanden, urteilt Widmer. Die Herausforderung bestehe darin, im Hier und Jetzt Perspektiven zu schaffen: solche, die in der Schweiz und im Heimatland eine Zukunft ermöglichen. «Die Jugendlichen sind ungeduldig. Sie wollen so schnell wie möglich ihren Familien helfen und Geld verdienen. Dass Veränderungen und Ausbildung Zeit brauchen, ist nicht immer einfach zu verstehen».

 

veröffentlicht Bildung Schweiz, 11 /2016
http://www.lch.ch

Weiter im Netz :
www.tipiti.ch
http://www.ssiss.ch

 

Leave a comment

Your email address will not be published. Required fields are marked *

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.