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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Sonne für alle!

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Wer zu Hause eine schwerkranke Schwester oder einen Bruder mit einer Behinderung hat, wächst in einem permanenten Ausnahmezustand auf. Was macht diese Situation mit den betroffenen Geschwistern? 

Wenn ihre Kollegin vom Kinobesuch mit dem grossen Bruder schwärmt, schweigt Erin. Auch Carlo erzählt am Montagmorgen in der Schule nichts von seinem Wochenende. Dass er während der Ferien nie verreist, weiss die ganze Klasse. Was hingegen die wenigsten kennen, sind die Gründe für das Schweigen von Erin und Carlo. Die beiden stehen symbolisch für schätzungsweise 260 000 Kinder in der Schweiz, die eine Schwester oder einen Bruder mir einer schweren Krankheit oder einer Behinderung haben. Gemeinsam verreisen oder spontan ins Freibad gehen ist nicht möglich. Eine Diskussion auf Augenhöhe oder ein gemeinsamer Partybesuch werden für immer Wunschvorstellungen bleiben. Das Familienleben dreht sich konstant um das schwächste Mitglied. Den gesunden Kindern, sogenannten Geschwisterkindern, bleibt dabei oft nur eine Nebenrolle. Sie haben jedoch die gleichen Bedürfnisse, Erwartungen und Wünsche wie alle anderen Kinder auch: Sie brauchen Aufmerksamkeit, Liebe, Vertrauen, Zuneigung und Zugehörigkeit, aber auch Freundschaften, Freiheiten, Sicherheit, Unabhängigkeit und Hobbys. Doch wie finden sie diese notwendige Beachtung in dem von Krankheit oder Behinderung geprägten Alltag? Wie lebt es sich in einer permanenten Ausnahmesituation? Und was spielen das Schulumfeld und die Lehrpersonen dabei für eine Rolle? 

«Schaut her, das ist mein Bruder!» 
«In der Unterstufe wurde von der Klassenlehrerin einfach totgeschwiegen, dass mein jüngerer Sohn zu Hause einen älteren Bruder mit einer Behinderung hat. Eine Situation, unter der vor allem der Jüngere litt», erinnert sich Sara Satir, Mutter von zwei Söhnen. In der vierten Klasse und mit einem neuen Lehrer veränderte sich der Umgang mit dem Thema Behinderung schlagartig. Statt diesen Umstand auszuklammern, wählte der neue Lehrer bewusst einen offenen und partizipativen Weg. Er lud Sara Satirs älteren Sohn in die Klasse ein. «Wir standen vorher in engem Kontakt mit dem Lehrer, haben den Besuch geplant und aufgezeigt, welche gemeinsamen Aktivitäten möglich sind und wie mein älterer Sohn etwas zum Unterricht beitragen kann, auch wenn er weder lesen noch schreiben kann», konkretisiert Satir.

«Schaut hin! Habt den Mut, das Thema Behinderung ans Licht zu holen – und macht es dabei nicht zu einer Exklusivität, sondern zur gelebten Inklusion.»

In der Klasse wurde auch das Thema Behinderung im Unterricht aufgegriffen. Sara Satir war beim Schulbesuch als Begleitperson dabei. Es war ein lebendiger Morgen mit vielen Geschichten. Schulalltag ohne auslachen und ausschliessen. Rückblickend betont Satir, wie wichtig dieser eine Schulbesuch für ihre zwei Söhne war. «Zusammen in die Schule im Quartier zu gehen, gemeinsam in der gleichen Klasse zu sitzen und auf dem Pausenplatz stolz und ganz selbstverständlich zeigen zu dürfen ‹Schaut her, das ist mein Bruder!›, war ein ungemein stärkendes Erlebnis für meinen jüngeren Sohn», umschreibt sie ihre Erfahrung. 

Hinschauen und nachfragen 
Satir fordert von Lehrpersonen, Geschwisterkinder bewusst als solche wahrzunehmen und nachzufragen. «Wie kann ich dir helfen?» oder «Was brauchst du?» sind Fragen, die viel verändern können. Wenn beispielsweise zu Hause die autistische Schwester dauernd schreit, ist womöglich ein ruhiger Arbeitsplatz in der Schule eine Hilfe. Wenn die Eltern das Geschwisterkind vernachlässigen, weil sie monatelang die meiste Zeit im Spital beim kranken Kind verbringen, kann ein gemeinsames Gespräch Lösungen aufzeigen. Satirs Rat an die Lehrpersonen ist einfach: «Schaut hin! Habt den Mut, das Thema Behinderung ans Licht zu holen – und macht es dabei nicht zu einer Exklusivität, sondern zur gelebten Inklusion.»

«Komisch ist für mich kaum jemand» 
Was es bedeutet, mit einem Geschwister aufzuwachsen, das konstant Hilfe benötigt und meist im Zentrum der Aufmerksamkeit der Familie steht, weiss auch Rosa Schnebli. Die 20-Jährige ist mit ihrem Bruder Marc aufgewachsen. Marc ist vier Jahre älter als Rosa, leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung und braucht konstante Betreuung. «Natürlich habe ich mit dieser Situation gehadert und mir Fragen gestellt – vor allem in der Pubertät», erinnert sich Rosa Schnebli. Sie fügt hinzu: «Ältere Geschwister sind da, um mit ihnen zu diskutieren oder zu streiten, Geheimnisse zu teilen oder gemeinsam in den Ausgang zu gehen. Bei mir ist das alles weggefallen. Ich musste alle Erfahrungen selber machen. Ich fühlte mich wie ein Einzelkind, obwohl ich einen Bruder habe», erzählt sie rückblickend. Rosa Schnebli ist dadurch gezwungenermassen schneller selbstständiger, unabhängiger, aber auch sozialer geworden – oder wie sie es aus- drückt: «Ich habe gelernt, niemanden für sein Anderssein zu verurteilen. Komisch ist für mich kaum jemand.»

«Ältere Geschwister sind da, um mit ihnen zu diskutieren oder zu streiten, Geheimnisse zu teilen oder gemeinsam in den Ausgang zu gehen. Bei mir ist das alles weggefallen. Ich musste alle Erfahrungen selber machen. Ich fühlte mich wie ein Einzelkind, obwohl ich einen Bruder habe»,

Ausgegrenzt oder stigmatisiert wurde die heutige Studentin wegen ihres Bruders und seiner Behinderung nie. «Als Kinder besuchten wir eine kleine Primarschule. Marc hatte immer eine Betreuerin oder einen Betreuer bei sich. Wenn er gestresst war, zeigte er selbst- und fremdverletzendes Verhalten. Marc nicht zu kennen, war unmöglich. Erklären musste ich mich dadurch nie», erinnert sie sich. 

Autismus im Fokus der Maturaarbeit 
Später im Gymnasium informierte sie Lehrpersonen, Mitschülerinnen und Mitschüler selektiv über die Behinderung ihres Bruders, wählte dann aber mit ihrer Matura-Arbeit 2019 einen ganz klaren Fokus. Unter dem Titel «Meine liebe Schwester» beleuchtete sie die Rolle und die Herausforderungen von Geschwistern von Menschen mit Autismus und hielt dabei klar fest: «In Fachkreisen wird den Geschwistern von behinderten Menschen wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Sie bräuchten mehr Unterstützung und Hilfe als bis anhin angenommen. Denn egal, wie viel Mühe sich die Eltern geben, es ist kaum möglich, dem Geschwister gerecht zu werden. Es braucht Unterstützung von aussen.»

«Ich habe gelernt, niemanden für sein Anderssein zu verurteilen. Komisch ist für mich kaum jemand.»

Schneblis Arbeit liest sich teilweise wie ein Dialog zwischen den zwei Geschwistern. Da ist auf der einen Seite der Autist Marc mit seinen poetischen Tagebucheinträgen. «Rosa ist mega zuverlässig und meine Rosaschwester bleibt auch halt wirklich – zu Hause muss sie nicht sein – meine Schwester, auch wenn sich mein Freund der Autist nicht wunschgemäss bewegt in dieser mega unstrukturierten – zum Ärgernis meiner selbst – Welt. Rosa kann mir häufig erklären, worum es gerade geht», schreibt Marc. Auf der anderen Seite steht die Realistin Rosa mit ihrem klaren Blick: «Einen autistischen Bruder zu haben, sehe ich als grosse Chance. Ohne ihn wäre ich nicht die Person, die ich heute bin», schreibt sie. Schnebli fügt hinzu: «Ich bin mir aber auch bewusst, dass schwierige Momente und Entscheidungen auf mich zukommen werden. Ich wünsche mir, dass ich es schaffe, mir gut zu schauen und mein eigenes Leben nicht in den Hintergrund zu stellen.» 

Zu Wort kommen in Schneblis Arbeit auch sechs weitere Geschwisterkinder. «Erst durch meine Matura-Arbeit lernte ich Menschen kennen, die in einer ähnlichen Situation wie ich lebten und ähnliche Erfahrungen machten. Der Austausch tat ungemein gut», betont Rosa Schnebli. Inspiriert von den Begegnungen gründete sie kurzerhand eine Gesprächsgruppe für Geschwisterkinder. Die Mitglieder treffen sich alle paar Monate zum gemeinsamen Stammtisch-Austausch. Die Gewissheit, dass man nicht alleine ist und andere mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind, mache vieles einfacher, betont sie. Basierend auf dieser Erfahrung ist auch ihre Empfehlung an Lehrpersonen im Umgang mit Geschwisterkindern zu verstehen: «Wahrnehmen, reden, offen sein. Bitte seien Sie sich bewusst, dass Geschwisterkinder vielleicht mit einem schwereren Rucksack in die Schule kommen, weil es zu Hause nicht einfach ist.» 

«Das Geschwisterkind gibt es genauso wenig wie die Behinderung» 
Wie schwierig es sein kann, mit einer kranken Schwester oder einem behinderten Bruder aufzuwachsen, macht auch das Buch «Kinder im Schatten: Geschwister behinderter Kinder» klar. Die Autorin und Sozialwissenschaftlerin Nora Haberthür gibt darin das Wort den Betroffenen und zeigt auf, dass ein Dasein als Geschwisterkind eine grosse Bereicherung, aber auch eine riesige Last sein kann. Da sind Geschwisterkinder wie Daniela, die ihre tragische Kindheit mit einer schwerst- behinderten Schwester nie verarbeiten konnte und als magersüchtige Erwachsene immer noch mit ihrer Vergangenheit kämpft. Andere junge Erwachsene wie Eva, deren Bruder gehörlos ist, sehen die Behinderung des Geschwisters auch als Bereicherung an.

«Wahrnehmen, reden, offen sein. Bitte seien Sie sich bewusst, dass Geschwisterkinder vielleicht mit einem schwereren Rucksack in die Schule kommen, weil es zu Hause nicht einfach ist.» 

«Kinder im Schatten» wurde 2005 publiziert, Autorin Haberthür ist jedoch überzeugt, dass die Diversität und damit der individuelle Umgang mit Behinderungen auch heute noch aktuelle Themen sind. Lehrpersonen empfiehlt Haberthür, das Gespräch mit den Eltern zu suchen und gemeinsam Berührungsängste abzubauen. Sie betont dabei: «Das Geschwisterkind gibt es genauso wenig wie die Behinderung. Jedes Kind und jede Familienkonstellation sind anders.» 

Mit dieser Diversität umzugehen und sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, ist schwer. Wer früher mit einem behinderten Geschwister aufwuchs, wurde als «Schattenkind» betitelt. Als Wesen, das weniger Wärme und damit Aufmerksamkeit, Zuneigung und Liebe bekommt. Es steht nicht im Fokus der Familie unddamit auch nicht im Licht, sondern im Schatten. Der Begriff wird auch heute noch verwendet, jedoch oft ergänzt beziehungsweise ersetzt durch «Geschwisterkinder».

«Es gibt auch sonst keinen besonderen Fachbegriff für Kinder, die Geschwister haben – egal mit welchen Herausforderungen diese konfrontiert sind. Warum brauchen wir diese Kategorisierung bei Kindern, die eine Schwester oder einen Bruder mit einer Behinderung haben?»

Betroffene Familien und Kinder lehnen den Begriff «Schattenkinder» ab. Sara Satir und ihre zwei Söhne sehen nicht ein, warum irgendjemand von ihnen konstant im Schatten stehen soll. «Das Wort ‹Schattenkind› setzt das Negative in den Vordergrund und ist damit immer eine Stigmatisierung. Denn im Schatten ist man kaum sichtbar», erklärt Satir. Sie stellt die Notwendigkeit eines spezialisierten Begriffs in Frage: «Es gibt auch sonst keinen besonderen Fachbegriff für Kinder, die Geschwister haben – egal mit welchen Herausforderungen diese konfrontiert sind. Warum brauchen wir diese Kategorisierung bei Kindern, die eine Schwester oder einen Bruder mit einer Behinderung haben?» Auch Rosa Schnebli kann sich mit dem Wort «Schattenkinder» nicht identifizieren und hat es nie verwendet. «Mit dem Begriff wird alles Positive in den Schatten gestellt und damit ein falsches Bild gezeichnet, das niemandem gerecht wird», sagt sie. Worte spiegeln immer die Haltung der Menschen. Ein Begriff wie «Schattenkinder» ist in keiner Weise hilfreich. Fakt ist jedoch auch, dass der Schatten nicht verleugnet werden kann. Hingegen kann man die Forderung anpassen: Sonne für alle!



Weiter im Netz
www.geschwister-kinder.ch – Informationen zu Geschwisterkindern

www.erwachsene-geschwister.de > Geschwistermeeting > Regionale Stammtische > Schweiz – Gesprächsgruppe «Unter uns», gegründet von Rosa Schnebli; E-Mail: schweiz@erwachsene-geschwister.de

www.fraukelodders.de – Informationen zum Dokumentarfilm «Unzertrennlich – Leben mit behinderten und lebensverkürzt erkrankten Geschwistern» von Frauke Lodders

www.autismus.ch > Über Autismus > Arbeiten zum Thema ASS > Maturaarbeit von Rosa Schnebli «Meine liebe Schwester – Geschwister von Menschen mit Autismus»

www.kmsk.ch – Förderverein für Kinder mit seltenen Krankheiten. Der Verein setzt sich auch für Geschwisterkinder ein.



publiziert April 2021, Zeitschrift “Bildung Schweiz” (04/21)

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