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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Was wir alle über HFE wissen sollten

Was wir alle über HFE wissen sollten

Kinder im Vorschulalter mit Entwicklungsdefiziten haben Anspruch auf Heilpädagogische Früherziehung (HFE). Die HFE ist ein Unterstützungsangebot, das zuhause stattfindet. Die Nachfrage danach steigt konstant. 

Die fünfjährige Marlene klebt vorsichtig die selbstgesammelten farbigen Herbstblätter auf das Papier. Der gleichaltrige Janis sitzt vor einer Trommel und schlägt begeistert auf sie ein. Der dreijährige Nico hingegen zieht seinem Lieblingsteddy Puppenkleider an und versucht die einzelnen Körperteile zu benennen. Beim Teddyankleiden, Musikmachen oder Basteln sitzt eine Heilpädagogin daneben. Sie erklärt Farben, zeigt Spielformen und hilft beim genauen Hinhören. Die Mutter beobachtet die Szene. Es handelt sich dabei weder um Talentförderung noch um «akademisches Vorglühen», damit die Kleinkinder die schulischen Anforderungen schon in frühen Jahren übertreffen. Marlene, Janis und Nico stehen symbolisch für die Tausenden von Kindern, die in der Schweiz die Heilpädagogische Früherziehung (HFE) in Anspruch nehmen.

Es handelt sich dabei weder um Talentförderung noch um «akademisches Vorglühen», damit die Kleinkinder die schulischen Anforderungen schon in frühen Jahren übertreffen.


HFE ist eine Unterstützung, die sich an Babys, Kleinkinder und Vorschulkinder richtet, deren Entwicklung nicht ihrem Lebensalter entspricht. Diese Kinder weisen einen Entwicklungsrückstand, eine Behinderung oder eine Entwicklungsgefährdung im familiären Umfeld auf. Eine Kombination von mehreren Merkmalen ist ebenfalls möglich. Ein typisches Profil eines Kindes, das HFE erhält, gibt es nicht. Es können sprachliche, motorische, emotionale oder soziale Entwicklungsdefizite sein, die den Support notwendig machen. Alter, Ressourcen und Entwicklungs-stand sind entsprechend unterschiedlich. Die bastelnde fünfjährige Marlene hat eine Bewegungsstörung und weist starke feinmotorische Defizite auf. Der musizierende Janis leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung. Seine Wahrnehmung ist eingeschränkt und der spielende Nico redet auch mit drei Jahren noch kaum. Eines haben alle diese HFE-Kinder gemeinsam: Es ist anzunehmen, dass sie aufgrund ihres Handicaps spezifische Unterstützung kaum folgen können. 

Nachfrage steigt konstant 
Die zentrale Frage in der HFE ist klar: Was braucht das Kind, um sich kognitiv, sozial, sprachlich und emotional zu entwickeln und zu entfalten? Eltern, die wissen, wie sie mit ihrem Kind umgehen und wie es gefördert werden kann, sind dabei unabdingbar. Der HFE-Support findet darum zuhause im gewohnten Umfeld statt. Für eineinhalb Stunden pro Woche kommt eine Heilpädagogische Früherzieherin vorbei und arbeitet mit Kind und Eltern. Eine von ihnen ist die Heilpädagogin Uschi Huber. «Das Kind soll lernen, sich als selbsttätig und selbstwirksam zu erleben und sich als kompetent zu erfahren. Die Basis dazu bildet der Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten in verschiedenen Entwicklungsbereichen», umschreibt sie die Herausforderungen der Frühförderung. Mit einem standardisierten Testverfahren wird der Entwicklungsstand des Kindes analysiert und mit den Eltern werden die nächsten Entwicklungsschritte geplant. Huber konkretisiert: «Die Eltern sind im Prozess immer miteingebunden. Ich erkläre dabei den Entwicklungsstand des Kindes, zeige Entwicklungs-prozesse auf, ermuntere und bestärke, weise aber auch auf mögliche Herausforderungen rund um die Betreuung oder Beschulung des Kindes hin.» Viele der betreuten Kinder brauchen zusätzliche Therapien und Supportmassnahmen – sei es Logopädie, Physio- oder Ergotherapie. 

«Früher wurde die HFE von der IV finanziert. Nur Kinder, die ein von der IV anerkanntes Handicap vorwiesen, erhielten Support»

Uschi Huber, die seit 20 Jahren als Heilpädagogische Früherzieherin für den Heilpädagogischen Dienst der Kantone St. Gallen und Glarus arbeitet, sieht eine konstante Zunahme der Nachfrage. Ein Grund dafür sind laut Huber die sensibilisierten Ärzte, Therapeutinnen, Spielgruppenleiterinnen oder Kindergatenlehrpersonen, die Entwicklungsverzögerungen und Handicaps mit Wissen und Aufmerksamkeit begegnen und entsprechend reagieren. Auch der Berufsverband Heilpädagogische Früherziehung (BVF) teilt diese Meinung. «Früher wurde die HFE von der IV finanziert. Nur Kinder, die ein von der IV anerkanntes Handicap vorwiesen, erhielten Support», erklärt Sarah Wabnitz, BVF-Geschäftsführerin. Heute ist das Förderangebot gesetzlich in der Sonderpädagogik verankert und den Kantonen unterstellt. Jedes Kind mit einer Entwicklungsverzögerung oder -gefährdung hat ein Recht auf HFE.

DER WEG ZUR HFE 
Durch den neuen Finanzausgleich haben die Kantone die Finanzierung und die Angebotsplanung der sonderpädagogischen Massnahmen – inklusive der Heilpädagogischen Früherziehung (HFE) – übernommen. In der Regel begleiten die Fachpersonen der HFE die Kinder mit besonderem Unterstützungsbedarf bis zum Eintritt in den Kindergarten, mancherorts bis in die Primarschule. Es sind die betreuenden Ärzte und Fachpersonen, aber auch die Eltern, die eine Entwicklungsverzögerung feststellen und den Kinderarzt konsultieren. Werden Auffälligkeiten in der Entwicklung erst im Kindergarten bemerkt, ist es die zuständige Lehrperson, die den Schulpsychologischen Dienst mit dem Einverständnis der Eltern kontaktiert und eine Abklärung wünscht. Die Anmeldung erfolgt dann über den Schulpsychologischen Dienst. Die HFE wird je nach Kanton vom Heilpädagogischen Dienst, von Sonderschulen, von Stiftungen oder auch von freischaffenden Heilpädagoginnen und Heilpädagogen übernommen. Für die Familien fallen keine Kosten an.

Eine Studie, die genau das bietet, was der HFE in der Schweiz fehlt – die wissenschaftliche Evidenz – stellt die Langzeitstudie Zeppelin dar. Seit 2011 werden im Rahmen der Studie im Kanton Zürich rund 250 Familien mit psychosozialen Risiken nach dem Goldstandard des randomisierten Kontrollgruppenvergleichs untersucht. Die Hälfte dieser Familien wurde nach der Geburt ihres ersten Kindes drei Jahre lang mit einem Frühförderprogramm unterstützt. Dabei eingesetzt wurde «PAT – Mit Eltern Lernen», das wie die HFE auf Hausbesuchen basiert. 

«Wie begegnen wir den Familien und wie werden die Hausbesuche gestaltet? Bei all diesen Fragen sind die Früherzieherinnen ausgewiesene Expertinnen.»

«Wir haben von den Heilpädagogischen Früherzieherinnen viel gelernt und profitiert», betont Andrea Lanfranchi, Zeppelin- Studienleiter und Leiter des Instituts für Professionalisierung und Systementwicklung an der HfH in Zürich. Lanfranchi ergänzt: «Wie begegnen wir den Familien und wie werden die Hausbesuche gestaltet? Bei all diesen Fragen sind die Früherzieherinnen ausgewiesene Expertinnen.» Nun werden die Zeppelin-Kinder bis zu ihrem 20. Lebensjahr im Hinblick auf die Langzeitwirkung von PAT weiter getestet. Die aktuellen Auswertungen im zweiten Kindergartenjahr zeigen klar, dass sich die Frühförderung drei Jahre nach Abschluss des Programms positiv auf verschiedene Entwicklungsbereiche auswirkt, vor allem bei der Sprachgewandtheit, den mathematischen Kompetenzen und der Impulskontrolle. 

Janis, Marlene und Nico interessieren solche Studien nicht. Für sie zählt nur eines: zusammen mit ihren Familien lernen und wachsen. Und dabei spielt die HFE eine entscheidende Rolle.





Interview:


«Ohne Familie geht es nicht!» 

Christina Koch ist Studiengangsleiterin der Heilpädagogischen Früherziehung (HFE) an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH). Sie kennt die HFE nicht nur von der akademischen Seite her, sondern auch aus der Praxis. Christina Koch hat über zehn Jahre als Heilpädagogische Früherzieherin gearbeitet. 

Die Heilpädagogische Früherziehung gibt es in der Schweiz seit den 60er-Jahren. Wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit fehlen. Was sind die Gründe dafür? 
«Dafür gibt es verschiedene Gründe. Für Nachweise wäre ein einheitliches nationales System hilfreich. Die HFE und ihre Ausführung ist jedoch den Kantonen unterstellt. Jeder Kanton setzt sie individuell mit verschiedenen Konzepten, Fachorganisationen und Schwerpunkten um. Auch für die Erhebung der Zahlen sind die einzelnen Kantone verantwortlich. Nur das Berufsbild, zentrale Aufgabenfelder und einheitliche Vorgaben der Ausbildung auf Masterebene gelten übergreifend. Da die HFE die Kinder und ihre Familien individuell in ihrem privaten Umfeld betreut, bleibt das Generalisieren oder gar Standardisieren fraglich. Wissenschaftlich wären vor allem Einzelfall-Verlaufsstudien im Hinblick auf die zentralen Handlungsmaximen spannend.»

Wie sieht für Sie eine typische «HFE-Erfolgsgeschichte» aus?
«Erfolg lässt sich auf drei verschiedenen Ebenen messen. Auf der Ebene der Eltern, wenn sie sich kompetent fühlen, das Leben mit ihrem Kind zu meistern. Dann auf der Ebene des Umfelds. Das heisst, die Familie ist integriert, wird unterstützt und nimmt am gesellschaftlichen Leben teil. Die dritte Ebene betrifft die Entwicklung des Kindes mit Blick auf Beeinträchtigungen, die Vermeidung von Folgeschäden und Partizipationsmöglichkeiten, zum Beispiel in der Kita.»

Christina Koch, Studienleiterin der Heilpädagogischen Früherziehung (HfH Zürich)

Die Familienorientierung ist das Kern- element der HFE und in jedem Prozess omnipräsent. Können Sie uns diesen Ansatz erklären? 
«Bei der HFE geht es nicht allein um das betroffene Kind und das Vermitteln von altersgerechten Fähigkeiten und Fertigkeiten, sondern um die ganze Familie. Voraussetzung für Fortschritte – sei es beim Kind oder den Eltern – ist immer Vertrauen, aber auch Zutrauen. Und genau hier setzt die HFE an. Wir versuchen Kinder und Eltern in ihrer Lebenswelt zu unterstützen. Wir sind nur eineinhalb Stunden pro Woche da. Die Mutter oder der Vater ist aber oft 24 Stunden mit dem Kind zusammen. Wie können wir ihre Kompetenzen stärken, die Fähigkeit, die familiären und erzieherischen Aufgaben zu bewältigen? Wir gehen auf die individuellen Bedürfnisse und Ausgangssituationen ressourcenorientiert ein, um so ein entwicklungsförderndes Umfeld zu bieten und damit das Kind in seiner Entwicklung bestmöglich zu unterstützen. Erst wenn dies gelingt, findet Förderung in den verschiedenen Facetten statt.»

Sind wöchentlich eineinhalb Stunden Betreuung nicht zu wenig, um solche Resultate zu erreichen?
«Die eineinhalb Stunden sind ein Richtwert und entsprechen etwa dem HFE-Jahreskontingent für ein Kind. Wie die Ressourcen individuell am effizientesten eingesetzt werden, steht in der Verantwortung der Heilpädagogischen Früherzieherin. Die benannten eineinhalb Stunden dürfen nicht losgelöst von der Sonderschulstrategie der einzelnen Kantone betrachtet werden.»

Weiter im Netz 

www.szh.ch – Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik 

www.szh.ch/themen/sonderpaedagogi- sches-angebot/hfe – Allgemeine Informationen zur HFE 

www.frueherziehung.ch – Berufsverband Heilpädagogische Früherziehung 

www.hfh.ch – Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik HfH 

www.zeppelin.hfh.ch – Informationen zum Projekt Zeppelin 

www.zeppelin-familien.ch – Umsetzung des Projekts Zeppelin in der Praxis

www.hpdienst.ch – Heilpädagogischer Dienst St. Gallen – Glarus 


publiziert Dezember 2020, Zeitschrift “Bildung Schweiz” (12 / 2020)

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