«Abkürzungen machen keinen Sinn»
Pädagoge Jean-Pierre Thaler unterrichtet seit bald 20 Jahren auf verschiedenen Schulstufen. Mit seinen Klassen gemeinsam «zu gehen», gehört für ihn zum Schulalltag. Ein Gespräch über Lernen und Laufen, Abkürzen und Anvertrauen.
Spazierend die Deutschprüfung besprechen und gehend die Mathematikübung repetieren. Sieht so ein typischer Schulspaziergang aus?
«In keiner Weise. Während dem Gehen stehen nicht die Lerninhalte, sondern der soziale Kontakt im Vordergrund. Gemeinsame Spaziergänge sind eine Chance sich direkt bei einzelnen Kindern zu erkundigen, wie es ihnen geht, abseits von Noten und Hausaufgaben.»
Seit bald 20 Jahren «gehen» sie zusammen mit ihren Schulklassen. Was sind die Vorteile davon?
«Beim Gehen lerne ich die Schülerinnen von einer anderen, oft unbekannten Seite kennen. Es gibt Kinder, die im Klassenzimmer scheu und zurückhaltend sind, beim Gehen sich jedoch wohl fühlen und gerne reden. Es entstehen Gespräche, die sonst kaum stattgefunden hätten. Im Klassenzimmer würden die Kinder für ein Gespräch mit der Lehrperson den Platz oder den Raum wechseln. Beim Gehen geschehen Gespräche hingegen spontan, aus der Bewegung heraus. Es scheint manchmal einfacher Dinge anzusprechen und anzuvertrauen.
Es entstehen Gespräche, die sonst kaum stattgefunden hätten.
Natürlich kann ich nur begrenzt steuern, wer zuhört oder mitredet. Ein Spaziergang ist kein geschützter Raum, um individuelle Schwierigkeiten im Detail zu besprechen, doch eine grossartige Möglichkeit sich gegenseitig auszutauschen.»
Sind die «Schul-Walks» im Stundenplan verankert?
«Wann und wie lange wir als Klasse spazieren, ist situationsbedingt. Sind die Kinder unruhig, müde oder es fällt ihnen schwer sich zu konzentrieren, ist ein Spaziergang eine gute Option. Dabei nutze ich die Randzeit vor der Mittagspause, wenn die Aufmerksamkeitsspanne nachlässt. Ich wähle zwischen zwei verschiedenen Routen aus, die jeweils eine halbe oder ganze Lektion dauern, je nach Bedürfnis. Auch für die Häufigkeit gibt es keine fixen Vorgaben. Manchmal sind es nur zwei Spaziergänge pro Monat, manchmal einige mehr.»
Was sind die Reaktionen der Schüler- und Lehrerschaft auf die «Geh-Lektionen» während des Schulunterrichts?
«In der Gemeinde und im Schulhaus bin ich und meine Klassenspaziergänge bekannt. Kollegium und Schülerschaft haben sich daran gewöhnt. Andere Lehrkräfte haben das Gehen mit der Klasse bis jetzt noch nicht für sich entdeckt. Kinder, welche sich über das Gehen beschweren, gibt es in jeder Klasse. Der Mehrheit geniesst jedoch die Zeit draussen, die Bewegung und Freiheit.»
Mit einer Gruppe Schulkindern oder Jugendlichen während der offiziellen Schulzeit ausserhalb des Schulgeländes sich frei zu bewegen, birgt auch Risiken. Ist ein «Schulspaziergang» nicht eine Steilvorlage unbemerkt der Aufsicht der Lehrperson zu entwischen? «Ich denke, es ist von Vorteil eine einfache und überschaubare Route zu wählen. Unsere Schule grenzt an eine Landwirtschaftszone. Das Gebiet ist übersichtlich; weder bewaldet noch hügelig. Das heisst, ich habe die Klasse beim Gehen konstant im Blick. Die Kinder können sich frei bewegen. Mit der Zeit übernimmt die Klasse die Regie und wartet selbständig auf langsamere Kinder. Abkürzungen und Umwege machen keinen Sinn.»
Eine überschaubare Route und eine klare Zeitvorgabe. Was sind weitere Tipps für das Gehen mit einer Klasse?
«Ich ermutige alle Lehrpersonen «Gehen mit der Klasse» auszuprobieren, ohne irgendwelche Erwartungen an sich selbst oder die Schülerinnen zu haben. Beim Gehen geht es weder um Leistung noch zurückgelegte Distanz oder Geschwindigkeit. Es ist eine Chance sich neu zu begegnen.»
publiziert Dezember 2022, Zeitschrift “Bildung Schweiz”