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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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«Krank oder nicht?
Im Einzelfall helfen auch Statistiken nichts»

«Krank oder nicht?
Im Einzelfall helfen auch Statistiken nichts»

Dr. med. Agnes Genewein ist Spezialärztin Neonatologie im Universitäts- Kinderspital beider Basel (UKBB). Die Kinderärztin ist Projektleiterin des Netzwerks Rare Diseases Nordwest und Zentralschweiz, so wie Geschäftsführerin von AllKidS (Allianz Kinderspitäler der Schweiz). Als Ärztin betreut sie Kinder mit seltenen Krankheiten und ihre Familien. 


Sie betreuen Kinder mit seltenen Krankheiten und deren Eltern. Wie sieht eine solche Betreuung aus? 
«Spontan kommt niemand zu uns. Entweder sind es pränatale Überweisungen durch behandelnde Gynäkologen, wenn in der Schwangerschaft eine Fehlbildung festgestellt wurde. Ein interdisziplinäres Team aus Fachärzten und Ärztinnen betreut in diesem Fall die werdenden Eltern. In den anderen Fällen sind es Neugeborene, bei denen erst nach der Geburt Auffälligkeiten festgestellt wurden. Die Kinder werden medizinisch betreut und abgeklärt. Gleichzeitig werden die Eltern begleitet. Diese Betreuung endet nicht mit dem Spitalaufenthalt, sondern wird konstant weitergeführt. Eine Art Coaching, um Eltern ideal begleiten zu können.»


Ein Paar wünscht sich nun trotz einem Kind mit einem Handicap weiteren Nachwuchs. Wie oft werden sie in ihrem Alltag als Ärztin mit diesem Szenario konfrontiert? 
«Diese Fragestellung gehört zu unserem Berufsalltag, denn ein Neugeborenes mit einem angeborenen Leiden führt über kurz oder lang zur Frage nach der Vererbbarkeit der Krankheit. Wir haben quasi immer mindestens ein Kind auf unserer Neonatologie, auf die diese Fragestellung zutrifft und auch immer Eltern, die sich noch ein weiteres (gesundes) Kind wünschen. Viele Eltern schliessen von sich aus die Familienplanung ab. Denn ein Kind mit einer seltenen Krankheit, das nie unabhängig und selbständig sein wird, verändert den Blickwinkel der Eltern auf das Leben radikal. Es ist eine lebenslange, riesige Aufgabe.» 


Mit welchen Fragen kommen die betroffenen Eltern zu Ihnen? 
«Wie wird sich das Kind entwickeln? Wie selbstständig wird es sein? Manche Eltern machen sich zu diesem Zeitpunkt schon Gedanken dazu, was passiert, wenn sie als Eltern mal nicht mehr sind. Und dann kommt natürlich rasch die Frage, wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein weiteres Kind nochmals an dieser Krankheit leiden könnte. Wenn wir eine klare genetische Ursache festgestellt haben, können wir hier oft auch eine klare Antwort liefern. Allerdings hilft im Einzelfall keine Statistik, denn für die Betroffenen bedeutet es erkrankt oder nicht erkrankt. Viele Krankheiten führen aber zu unterschiedlichen Ausprägungen des Krankheitsbildes, wieder andere Krankheiten können wir aktuell keiner genetischen Ursache zuordnen. Dann bleiben viele Fragen der Eltern nach Wiederholungsrisiko, Entwicklungsprognose und Behandelbarkeit offen.» 

«Wichtig ist zu wissen, dass ein behindertes oder krankes Kind oder auch ein Kind, das verstorben ist, für die Familie ein enormes Mass an emotionaler Belastung darstellt.»


Was treibt Ihrer Meinung nach den Wunsch nach einem weiteren Kind an: Ist es heilende Selbstverwirklichung? Das Sehnen nach Normalität? Ein Verarbeitungsprozess? Oder ist es eher unverantwortliche Selbstüberschätzung? 
«Jede Familie und jedes Elternpaar ist anders. Ein weiteres Kind kann eine heilende Wirkung haben. Manche Eltern möchten jedoch einfach ein «gesundes» Kind, um damit ein Stück Normalität zu erleben. Manche Eltern möchten ein Geschwisterchen für das kranke Kind, damit es immer eine Bezugsperson hat, auch wenn die Eltern einmal nicht mehr sind. Heute bestehen allerdings bei bekannten genetischen Krankheiten auch Möglichkeiten, früh in der Schwangerschaft kranke oder gesunde Merkmale zu erkennen. Dann stehen die Eltern erneut vor einer weiteren schwierigen Entscheidung – der Abtreibung. Niemand tut sich leicht damit.»

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Agnes Genewein – Porträtbild und Interview im KMSK Wissensbuch 2019 


Wann und warum raten Sie von einem weiteren Kind ab? 
«Grundsätzlich beraten wir die Eltern, entscheiden müssen sie sich dann aber selber. Wir spielen nicht Richter über die Familienplanung. Aber es gibt natürlich genetische Konstellationen der Eltern, die die Wahrscheinlichkeit für ein krankes Kind extrem erhöhen. Das legen wir den Eltern auch offen dar. Und dann kommt es auf die persönliche Risikobereitschaft an. Ich hatte einmal Eltern, die ein Kind an einer angeborenen Krankheit verloren hatten. Sie wollten das erste gesund Kind aber nicht ohne Geschwisterkind aufwachsen lassen. Gleichzeitig kam für sie eine pränatale Diagnostik nicht in Frage, weil eine Abtreibung nicht in Frage kam. Für sie war die Wahrscheinlichkeit, dass zu 25% das Kind auch an der gleichen Krankheit leiden könnte, nicht so gross, als dass sie es nicht noch einmal hätten versuchen wollen. Sie hatten Glück und bekamen ein gesundes Kind.»


Solche Beratungsgespräche sind ungemein emotional und persönlich. Wie gelingt es die Eltern fachlich einwandfrei zu informieren und gleichzeitig all den Hoffnungen und Ängsten Raum zu geben? 
«Eine gute Gesprächsführung ist entscheidend. Was die Fachpersonen sagen und was die Eltern verstehen, ist oft nicht das Gleiche. Es ist immens wichtig, sich die Zeit zu nehmen, um nachzufragen, wie die Eltern die vermittelten Informationen verstanden und aufgefasst haben – und entsprechend zu reagieren.» 

 

«Oft hält die Paarbeziehung dieser Belastung nicht stand. Aber auf so einen Ausnahmezustand ist man als einzelner Mensch meist nicht gut vorbereitet und als Paar schon gar nicht – manche Paar wachsen auch enger zusammen.»


Was ist das Risiko und wo liegen die Chancen, wenn eine Familie mit einem kranken Kind nochmals ein Baby bekommt? 
«Diese Frage kann nicht pauschal beantwortet werden. Wichtig ist zu wissen, dass ein behindertes oder krankes Kind oder auch ein Kind, das verstorben ist, für die Familie ein enormes Mass an emotionaler Belastung darstellt. Nicht alle sind dieser Belastung gleich gewachsen. Viele Familien bringt dies physisch und psychisch an ihre Grenzen. Leider haben wir in der Schweiz wenig Unterstützungsangebote. Oft hält die Paarbeziehung dieser Belastung nicht stand. Das ist irgendwie verständlich, wenngleich mich das jeweils sehr traurig macht. Aber auf so einen Ausnahmezustand ist man als einzelner Mensch meist nicht gut vorbereitet und als Paar schon gar nicht – manche Paar wachsen auch enger zusammen.»


Was bedeutet «gesunder Familienzuwachs» fürs kranke Kind? 
«Es kommt darauf an, wie die Eltern damit umgehen. Meist profitieren die kranken Kinder von gesunden Geschwistern in vielerlei Hinsicht. Kinder haben in der Regel einen sehr unkomplizierten Umgang mit ihren kranken Geschwistern. Dadurch ist das kranke oder behinderte Kind immer Teil des ganzen Familiengeschehens. Häufiger kommen die Geschwisterkinder «zu kurz», bzw. müssen früh selbstständig werden, weil die Eltern für das kranke Kind mehr Zeit benötigen. Das ist nicht einfach schlimm, sondern es kann auch eine Chance für die gesunden Kinder sein. Sie werden unter Umständen robuster als ihre Altersgenossen. Aber es kommt schon sehr auf die Familiendynamik an. Auch das Gegenteil kann der Fall sein.» 


Für ein weiteres Kind: Gibt es einen idealen Zeitpunkt? Altersabstand? 
«Nein. Aus meiner Sicht wäre es gut, wenn sich das Paar zuerst emotional wieder in eine ausgeglichene Stimmung bringt, bevor sie rasch ein weiteres Kind zeugen. Aber da mögen Betroffene auch anderer Meinung sein.» 



KMSK Wissensbuch 2019, publiziert November 2019
http://www.kmsk.ch

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