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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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«Ich bin ungemein stolz auf meine Tochter und meinen Enkel»

«Ich bin ungemein stolz auf meine Tochter und meinen Enkel»

Elsbeth van Dam freute sich auf die Geburt ihres Enkels. Die Komplikationen nach der Geburt und die später von Ärzten bestätigten Behinderungen des Kleinen, trafen die 71-Jährige hart. Im Gegensatz zu Bekannten und Freunden, distanzierte sie sich nicht von ihrer Tochter und dem Baby, sondern wurde zu deren engsten und einzigen Verbündeten.

Wann und wo sahen sie Ihren Enkel Lio zum ersten Mal? 
«Lio wurde direkt nach der Geburt mehrfach operiert. Ich sah ihn danach zum ersten Mal auf der Neonatologie – und hatte schon sehr früh ein Bauchgefühl, dass irgendetwas mit dem Kleinen nicht stimmte, nicht nur physisch. Er verhielt sich in allen Belangen unüblich. Er zeigte kein Interesse an seiner Umwelt, reagierte auf keine Reize und schrie konstant. Doch ich musste alle Eindrücke zuerst eine Zeit lang setzen lassen und verarbeiten. Für mich war es sehr wichtig, dass ich meine Gefühle und auch Ängste mit meinem Lebenspartner teilen konnte. Meine Tochter direkt auf meine Bedenken betreffend Lio anzusprechen, hat mich grosse Überwindung gekostet, doch für mich war es der einzige richtige Weg.» 

Und wie hat ihre Tochter reagiert? 
«Meine Beobachtungen überraschten sie kaum. Wir haben eine sehr gute und enge Beziehung. Meine Tochter Melanie weiss, dass ich Dinge direkt anspreche. Das gegenseitige Vertrauen gab uns die Möglichkeit offen über Lio, aber auch über ihre Situation zu reden. Denn ausser mir, interessierte sich niemand für die beiden. Melanies Partner war damals noch mit der Situation überfordert. Das Interesse der Ärzte an einem mehrfach behinderten Kind war beschränkt und die anderen Mütter mit ihren gesunden Babys hatten weder die Zeit noch das Bedürfnis sich mit Melanie auszutauschen.» 

Wie haben sie ihre Tochter unterstützt? 
«Wir haben viel telefoniert und ich war öfter zu Besuch. Ich habe versucht zuzuhören, über Gefühle und Ängste zu reden und einfach da zu sein. Es gibt nichts, worüber wir nicht reden können. Dinge auszusprechen, machen sie auch fassbarer, realer und vielleicht auch lösbarer. Manchmal ist es auch nur eine Umarmung, oder gemeinsam zu schweigen und traurig zu sein. Zu wissen, da ist jemand, auf den ich mich immer verlassen kann, ist meiner Ansicht nach wichtig und vermittelt Sicherheit. Melanie weiss, dass sie mich zu jeder Zeit anrufen kann und sich immer auf mich verlassen kann – egal, was kommt.» 

Ihre Tochter Melanie hat sich viel Wissen über Autismus angeeignet und sich schlussendlich für einen «Alleingang» betreffend der Betreuung von Lio entschieden. Wie stehen sie zu dieser Entscheidung? 
«Ich habe und hatte oft Angst um meine Tochter. Wer so ein spezielles Kind wie Lio bekommt, ist anfangs verloren. Da ist niemand der hilft oder berät. Melanie hat nie aufgegeben. Sie hat immer wieder nach neuen Lösungen gesucht und dabei ihren ganz eigenen Weg gewählt: Intuitiv und ohne sich beirren zu lassen. Ich habe sie dabei unterstützt, wo ich nur konnte und bin heute ungemein stolz auf meine Tochter, dass sie ihren eigenen Weg für sich und Lio gefunden hat und ihn unbeirrt weitergeht.» 

Ihre Tochter bezeichnet sie als «ihren Fels in der Brandung», als jemanden auf den man immer zäh- len kann. Wie fühlen Sie sich dabei? «Ich habe die beiden bedingungslos gern. Dass mich die Situation belastet und sehr fordernd bleibt, ist ein Fakt. Doch deswegen davonzulaufen, ist keine Option. Im Gegenteil. Ich habe mich auch dank meiner Tochter und Lio verändert und weiterentwickelt.» 

In welchem Bereich? 
«Ich habe früher in der Schweizerischen Bibliothek für Blinde, Seh- und Lese- behinderte (SBS) in der Ausleihe gearbeitet. Ich war es gewohnt mit Menschen, die ein Handicap haben, zusammenzuarbeiten. Durch Lio bin ich noch offener und sensibler geworden, und zwar Menschen gegenüber, die wie mein Enkel eine mehrfache oder unbekannte Behinderung haben. Ich habe aber auch erfahren, wie wenig die Leute zum Beispiel über Autisten wissen und wie voreingenommen und ignorant sie Kindern wie Lio gegenüber sind.» 

Sie haben die Ignoranz der Menschen angesprochen. Wo zeigt sich diese im Alltag auch für sie als Grossmutter? 
«Sei es im Supermarkt oder am Bahnhof; Lio hat oft konstant gebrüllt. Die vernichtenden und vorwurfsvollen Blicke der Passanten vergisst man nicht. Nachfragen tut kaum jemand und die eigene Kraft sich jedes Mal selbst zu er- klären, fehlt. Denn viele Menschen können mit dem Begriff «Autist» nichts anfangen. Auch Leute in meinem Umfeld, die wissen, dass mein Enkel Autist ist, machen Kommentare, wie: «Dann kann er ja irgendwas super gut!» basierend auf irgendeinem Spielfilm, den sie über Autisten gesehen haben. Ganz nach dem Motto: Alles nur halb so schlimm! Was der Alltag mit einem Autisten bedeutet, interessiert nicht. Verständnis oder gar Unterstützung bleibt entsprechend aus.» 

Woran liegt diese Haltung? 
«Ich denke, dass es oft Unwissen ist. Autismus hat so viele verschiedene Gesichter und im Vergleich zum Beispiel mit Menschen mit Down-Syndrom ist eine Autismus-Spektrum- Störung sicher weniger bekannt in der Bevölkerung. Was es braucht, ist mehr Sensibilisierung und mehr Information.» 

Das Unwissen und die Unsicherheit der Leute im Umgang mit Menschen mit einer Behinderung führen oft auch zur Isolation. Wie haben sie dies persönlich erlebt? 
«Ich fand es oft sehr belastend, wie sich die Leute im Umgang mit Lio verhielten – seien es Fremde oder Bekannte. Die meisten wandten sich ab. Die gesellschaftliche Isolation wird damit allgegenwärtig. Ich spürte sie direkt, wenn ich mit Lio unterwegs war. Für meine Tochter ist diese konstante, soziale Isolation Alltag. Ich persönlich habe die Isolation in den vergangenen Monaten durch Corona und die entsprechenden Massnahmen noch intensiver empfunden. Ich besuchte meine Tochter und Lio weniger häufig. Wenn ich zu ihnen unterwegs war, versuchte ich ausserhalb der Stosszeiten mit dem Zug zu reisen. Sie nicht zu besuchen, war keine Option.» 

Sie sind die engste Bezugsperson ihrer Tochter Melanie und stehen seit 10 Jahren auch ihrem Enkel Lio sehr nahe. Wie sehen Sie die Zukunft für die beiden? 
«Lio hat uns in der Vergangenheit gezeigt, dass er uns immer wieder überraschen kann. Sitzen, reden, laufen, eine Schule besuchen: Das sind alles Dinge, die lange ausser Reichweite lagen, bzw. laut Experten kaum möglich schienen. Lio hat uns immer wieder das Gegenteil bewiesen. Er wird sich weiterentwickeln, da bin ich mir sicher und uns weiter überraschen. Ich habe ein sehr gutes Gefühl für ihn.» 

Und ihre Tochter? «Melanie ist rund um die Uhr eingespannt. Die Situation ist belastend und fordernd. Pausen oder Ferien gibt es nicht. Ich wünsche ihr von Herzen, dass sie gesund bleibt. Sie macht eine Wahnsinnsarbeit und ich versuche sie dabei zu unterstützen. Denn ohne sie, wäre Lio verloren. Und da setzen auch meine Ängste als Mutter und Grossmutter ein. Ich weiss, dass ich mich in meinem Alter nicht mehr alleine um Lio kümmern könnte. Ändern kann ich an diesem Zukunftsszenario nichts. Was ich machen kann, ist meine Tochter und Lio jetzt zu unterstützen und das hilft allen: meiner Tochter, Lio und mir.» 

publiziert, Oktober 2021, KMSK-Wissensbuch

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