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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Zugedröhnt, bis der Atem stockt

Zugedröhnt, bis der Atem stockt

Die Anzahl der Jugendlichen, die rezeptpflichtige Medikamente konsumieren, um sich zu berauschen, nimmt zu. Der Risiken sind sie sich kaum bewusst. Die Folgen sind fatal. 

Schlaftabletten, Hustensirup und Sprite mischen – kann das überhaupt gefährlich sein? Und können Tabletten, die von Rappern liebevoll «Xanny» genannt werden, wirklich zum Tod führen? Für viele Jugendlichen scheinen rezeptpflichtige Beruhigungs- und Schmerzmittel eine «harmlose» Berauschungsoption. Doch sie liegen falsch. 

Am 5. Oktober 2020 stirbt ein 15-Jähriger in Basel. Medien sprechen von einem Medikamentencocktail. Am 16. August 2020 werden im Kanton Zürich zwei Jugendliche tot aufgefunden. Auch sie scheinen einen Mix aus Medikamenten konsumiert zu haben. Im Dezember 2019 publiziert «Die Zeit» eine Reportage über Jugendliche in der Agglomeration Basel, die süchtig nach Tabletten sind. Im September 2019 informiert die Luzerner Staatsanwaltschaft über einen Konsumenten- und Dealerring mit rund 50 Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 21 Jahren. Die Teenager handelten unter anderem mit rezeptpflichtigen Medikamenten. Zwei junge Erwachsene sterben 2019 an einer Medikamentenüberdosis. Auf Anfrage bestätigt die Staatsanwaltschaft drei weitere Todesfälle im Jahr 2018. 

Gestörte Wahrnehmung von Zeit und Raum
In den erwähnten Fällen spielen Benzodiazepine – kurz Benzos – mit grosser Wahrscheinlichkeit eine entscheidende Rolle. Diese pharmazeutischen Wirkstoffe sind in rezeptpflichtigen Schlaf- oder Berhigungsmitteln wie zum Beispiel Valium enthalten.

«Die Hinweise verdichten sich, dass der jugendliche Medikamentenmissbrauch kein Randphänomen mehr ist, aber auch noch nicht die Regel.»

Diese Psychopharmaka werden sehr häufig verschrieben und sind bekannt für ihre angstlösende, beruhigende, aber auch euphorisierende Wirkung. Schwere Gedanken werden leicht, Probleme tauchen im Nebel der Schwerelosigkeit unter. Alles ist gut. Medizinisch bedeutet dies: Die Benzodiazepine «docken» an Rezeptoren im Gehirn an und dämpfen die Reizweiterleitung. Zeit- und Raumgefühl sowie Erinnerungsvermögen werden gestört oder komplett unterdrückt. Unter Jugendlichen ist vor allem das rezeptpflichtige Medikament Xanax verbreitet, das in wenigen Wochen abhängig macht. Wird es abgesetzt, entsteht ein «Rebound-Effekt»: Die unterdrückten Gemütszustände kommen um ein Vielfaches verstärkt zurück. 

Falsch deklarierte Xanax-Tablette: Anstelle des Benzodiazepins Alprazolam enthält sie Etizolam. Dieses wirkt rund anderthalbmal stärker als Alprazolam. Vom Konsum wird abgeraten. Fotos: DIZ


Auf der Rausch-Medikamentenliste von Jugendlichen stehen weiter Opioide, auch Downers genannt. Das sind Betäubungsmittel wie Morphin oder Codein, die normalerweise in der Schmerztherapie angewendet werden. Codein taucht auch als Wirkstoff in Hustensirups auf. Werden Benzodiazepine und Opioide gemischt und zum Beispiel mit Alkohol eingenommen, verstärkt und verändert sich ihre Wirkung. Es kann zu starker Sedierung, Atemdepression, Koma und schlussendlich zum Tod führen. 

Medikamentenmissbrauch unter Jugendlichen hat sich verdoppelt
«Dass Jugendliche codeinhaltige Hustensirups in hoher Dosierung als Rauschmittel benutzen, ist seit Langem bekannt», sagt Domenic Schnoz, Leiter der Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittelmissbrauchs. «Hingegen sind der jugendliche Konsum von Opioiden und Benzodiazepinen sowie der entsprechende Mischkonsum mit Alkohol für uns ein neues Phänomen.» Die einzige vorhandene repräsentative Umfrage ist die «Health Behaviour in School-aged Children (HBSC)»-Studie. Die aktuellen Ergebnisse aus dem Jahr 2018 zeigen, dass 4,5 Prozent der 15-jährigen Jungen und 4,1 Prozent der gleichaltrigen Mädchen mindestens einmal im Leben bereits Medikamente genommen haben, um psychoaktive Effekte zu erleben. 2010 lag die Zahl bei den Jungen noch bei 2,4 Prozent und hat sich damit in acht Jahren fast verdoppelt. Da vermutlich einige Jugendliche ihren Medikamentenkonsum verbergen oder beschönigen, existiert laut Schnoz wohl eine beträchtliche Dunkelziffer. 

Antrag zur Erforschung ist beim Bund hängig
«Abgesehen von der HBSC-Studie fehlen wissenschaftliche Fakten zum Medikamentenmissbrauch unter Jugendlichen», sagt Suchtmittelexperte Domenic Schnoz. Die vorhandenen Informationen basieren auf Ermittlungen der Polizei, Einschätzungen von Fachpersonen, Rückmeldungen von Suchtberatungsstellen und individuellen Aussagen von jugendlichen Konsumentinnen und Konsumenten. Leistungsdruck, Einsamkeit, Langeweile, Probleme in der Schule oder der Familie, Gruppendruck, Neugier oder Nachahmungsdrang können Gründe für den Konsum sein. Die Liste ist genauso lang und divers wie die offenen Fragen der Expertinnen und Experten. «Denn ohne Zahlen und Fakten fehlen Antworten», unterstreicht Schnoz die aktuelle Lage. Ein Antrag um Fördergelder, damit der Mischkonsum erforscht werden kann, ist beim Bundesamt für Gesundheit hängig. 

«Abgesehen von der HBSC-Studie fehlen wissenschaftliche Fakten zum Medikamentenmissbrauch unter Jugendlichen.»

«Die Hinweise verdichten sich, dass der jugendliche Medikamentenmissbrauch kein Randphänomen mehr ist, aber auch noch nicht die Regel», erklärt Schnoz. Von einem «Mischkonsum-Trend» zu sprechen, sei zu früh. Der Suchtmittelexperte warnt deshalb davor, einen Hype um das Thema auszulösen und den jugendlichen Konsumentinnen und Konsumenten eine attraktive mediale Plattform zu bieten. 

Intensive Auseinandersetzung mit Medikamentenmissbrauch
Bezieht man sich auf die Zahlen der aktuellen HBSC-Studie, bedeutet dies, dass in jeder Schulklasse im Minimum ein Teenager Medikamente missbräuchlich konsumiert. Angesprochen auf die Problematik wollte keines der kontaktierten Gymnasien – sei es in Basel, Zürich oder St. Gallen – Stellung beziehen. Anders reagiert Aldo Magno, Leiter der Dienststelle Gymnasialbildung des Kantons Luzern. 

Falsch deklarierte Xanax-Tablette: Anstelle von Alprazolam enthält sie Flubromazolam. Diese potente neue psychoaktive Substanz kann bei Mischkonsum zu Bewusstlosigkeit und lebensgefährlicher Atem- depression führen. Fotos: DIZ


«Wir haben uns intensiv mit dem Thema beschäftigt», stellt er klar. Ganz freiwillig war diese Priorisierung nicht: Seit Sommer 2019 ermittelt die Polizei in Luzern gegen einen jugendlichen Konsumenten- und Dealerring; Luzerner Kantonsschulen waren betroffen. Die Polizei habe betont, dass sie über die Dimensionen des Handels und Konsums zutiefst schockiert und alarmiert sei, erklärt Magno. «Diesen Schrecken und die Besorgnis haben wir kommuniziert und Schulleitungen und Kollegien entsprechend informiert.» Die Lehrpersonen wurden angehalten, auf auffälliges Verhalten zu achten, zum Beispiel häufige Toilettengänge während des Unterrichts. Zusätzlich wurde die Situation in den Klassenstunden thematisiert. Doch Magno macht klar: «Bei aller Offenheit, Hellhörigkeit und Sensibilität ist die Priorität unserer Lehrpersonen, Fachunterricht zu erteilen, nicht der Mischkonsum der Schülerschaft.» 

Wichtig sei die generelle Haltung der Gymnasien betreffend Suchtmittelprävention. «Prävention ist kein Selbstläufer und geschieht nie einfach so. Es liegt an uns, die Präventionsangebote im Kanton anzunehmen, immer wieder Fragen zu stellen und genau hinzuschauen», unterstreicht Aldo Magno. Die Polizei in Luzern plant, zwecks Prävention und Information die Klassen an den Gymnasien zu besuchen – in Uniform und mit einer klaren Botschaft: Medikamentenmissbrauch ist schädlich, strafbar und hat schwerwiegende Konsequenzen. 

Straffällige Jugendliche nicht dem gewohnten Umfeld entreissen 
«Das Jugendstrafgesetz stellt den Schutz und die Erziehung eines straffällig gewordenen Jugendlichen vor die Bestrafung», erklärt Hans Melliger, Leiter der Jugendanwaltschaft im Kanton Aargau. «Wir prüfen, ob und welche Schutzmassnahmen nötig sind, damit künftige Straftaten vermieden werden.»

«Bei aller Offenheit, Hellhörigkeit und Sensibilität ist die Priorität unserer Lehrpersonen, Fachunterricht zu erteilen, nicht der Mischkonsum der Schülerschaft.» 

Wenn immer möglich werde dabei versucht, den Jugendlichen ihr gewohntes Umfeld – sei es das Elternhaus, die Schule oder die Lehre – zu erhalten und unterstützende ambulante Strukturen einzuleiten. Wenn dies nicht funktioniert, werden stationäre Massnahmen geprüft. Zusätzliche psychiatrische Unterstützung braucht es bei einem kontrollierten Entzug. 

Freunde, Bekannte oder Familie als Bezugsquelle
Die Beschaffungswege, um an rezeptpflichtige Medikamente zu kommen, sind gefällig. Das Bild vom Dealer, der in einer dunklen Ecke auf seine Kundschaft wartet, hat ausgedient und damit auch der Beschaffungsstress der Konsumentinnen und Konsumenten. Zu den Anbietern zählt heute der Freundes- und Bekanntenkreis. Da ist die 15-Jährige, die einen Teil ihrer vom Arzt verschriebenen Ritalin-Tabletten an Schulkollegen verhökert, um sich Kleider zu finanzieren. Oder der 17-Jährige, der die rezeptpflichtigen Psychopharmaka aus dem elterlichen Medikamentenschrank selbst konsumiert und den Rest verkauft. Eine 10-mg-Ritalin-Tablette kostet in der Apotheke etwa 35 Rappen. Für fünf Franken wird sie weiterverkauft. Andere Bezugsquellen sind Foren auf sozialen Plattformen im Internet oder das Darknet. 

Falsch deklarierte Xanax-Tablette: Anstelle von Alprazolam enthält sie Flualprazolam. Dieses ist wenig erforscht und wird nicht als Medikament angewandt. Es besteht das Risiko einer Überdosierung. Fotos: DIZ


Der Verkauf wickelt sich angenehm «online» ab. Die Ware wird nach Hause geliefert oder persönlich übergeben. Tabletten können auch mit einem gefälschten Rezept in einer Apotheke bezogen werden. Junge Erwachsene, die mit einem Rezept für Psychopharmaka in die Apotheke kommen, seien keine Seltenheit mehr, sagt Karin Häfliger. Die Luzernerin ist Inhaberin und Geschäftsführerin einer Apotheke in Emmenbrücke und sitzt im Vorstand des Luzerner Apotheker Vereins. «Es gilt, jeden Fall einzeln zu prüfen. Wir müssen uns aber auch bewusst sein, dass sich vor allem digital erstellte Rezepte fälschen oder vervielfältigen lassen», erklärt sie. Repräsentative Zahlen fehlen; vorhanden sind die individuellen Einschätzungen der Apotheker und Apothekerinnen, geprägt durch den Standort der Apotheke. 

Die Einteilung der Medikamente in verschiedene Abgabekategorien macht den illegalen Bezug von rezeptpflichtigen Medikamenten nicht einfach, betont Häfliger. Seit der Revision des Heilmittelgesetzes 2019 werden zum Beispiel codeinhaltige Hustensirups nur gegen Rezept oder nach einem persönlichen Beratungsgespräch abgegeben. Dabei muss ein Suchtpotenzial ausgeschlossen werden. Die Bezügerin, der Bezüger wird registriert, die Abgabe dokumentiert. Die Abgabe von Opioiden wie Morphin oder Ritalin wird von Swissmedic engmaschig kontrolliert und überwacht. «Diese Betäubungsmittel einfach mal so zu verschreiben oder abzugeben, ist sicher nicht die Realität», stellt Apothekerin Häfliger klar. Anders sieht die Situation in Deutschland oder in den USA aus. 

Schweiz ist nicht mit Deutschland oder den USA vergleichbar
Die USA sind seit Jahren mit einer Opioidkrise konfrontiert. Als einer der Hauptgründe gilt die freizügige Verschreibung von opioidhaltigen Schmerzmitteln. In Deutschland haben das Lied «Tilidin» und das Suchtgeständnis des Rappers Capital Bra einen Ansturm auf den Stoff ausgelöst. Tilidin ist ein starkes rezeppflichtiges Schmerzmedikament aus der Gruppe der Opioide. Der Verbrauch stieg in Deutschland in der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen innert zwei Jahren um das Dreissigfache – auf drei Millionen Tagesdosen.In der Schweiz ist ein solches Szenario undenkbar.«Tilidin ist bei uns in Valoron-Tropfen enthalten, die sehr selten verschrieben werden. Ich hatte in den vergangenen zehn Jahren keinen einzigen Fall. Ein Rezept dafür würde sehr genau geprüft», bestätigt Häfliger. 

«Diese Betäubungsmittel einfach mal so zu verschreiben oder abzugeben, ist sicher nicht die Realität.»

Rapper Capital Bra ist in der Musikbranche keine Ausnahme. Xanax, von den Rappern Xanny genannt, wird in der Hip- Hop-Szene verherrlicht. Dessen Konsum ist in den Liedern und damit auch auf den persönlichen Playlists der Jugendlichen und in den öffentlichen Charts omnipräsent. Der Musik-Streamingdienst Spotify bietet mit «Xanax & Chill» sogar eine eigene Playlist. Die Glorifizierung der Beruhigungs- und Schmerzmittel endet nicht in der Musikbranche. In der Netflix- Serie «How to Sell Drugs Online (Fast)» bauen Teenager einen Onlineshop für Partydrogen auf und werden dabei reich.Laut Netflix gehört die Serie zu den meistgesehene deutschen Eigenproduktion im vergangenen Jahr. Im deutschsprachigen Raum gibt es kaum einen Teenager, der die Serie nicht kennt oder gar bewundert. Denn die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. 2013 startet in Deutschland ein damals 18-Jähriger von seinem Kinderzimmer aus einen Online-Drogenhandel. Innerhalb 15 Monaten verkaufte er übers Internet eine Tonne Drogen und setzte an die 4,3 Millionen Franken um. 2015 folgte die Verurteilung zu 7 Jahren Haft. 

Echte Xanax-Tablette: Sie enthält 2 mg Alprazolam. Die gleichzeitige Einnahme mit Opioiden kann zu starker Sedierung, Atemdepression, Koma und Tod führen. Fotos: DIZ


publiziert Januar 2021, Zeitschrift “Bildung Schweiz” (01/2021)


Weiterer Artikel zum Thema:https://wuethrich.eu/de/2021/01/19/vielleicht-ein-guter-flash-vielleicht-der-tod/

Weiter im Netz 

www.infodrog.ch – Schweizerische Koor- dinations- und Fachstelle Sucht 

www.streetrx.com/de – Strassenpreise für Suchtmittel und Medikamente 

www.safezone.ch – Onlineberatung zu Suchtfragen 

www.stadt-zuerich.ch/diz – Drogeninfor- mationszentrum der Stadt Zürich

www.zfps.ch – Zürcher Fachstelle zur Prä- vention des Suchtmittelmissbrauchs 

www.saferparty.ch – Informationen und Warnungen zu Suchtmitteln 

www.praxis-suchtmedizin.ch/praxis- suchtmedizin/index.php/de/medikamente – Praxis Suchtmedizin Schweiz: Informationen zu Medikamenten und deren Sucht- potenzial 

www.ssam.ch – Schweizerische Gesell- schaft für Suchtmedizin

www.bit.ly/2JIYVNM – «Alle sind zubeto- niert» (Artikel vom 16.12.2019 in «Die Zeit») 

www.bit.ly/39H1qLq – «Ich wollte immer high werden – richtig ausgeknockt» – wie 50 Luzerner Jugendliche einen Drogenring gründeten (Artikel vom 13.06.2020 in der NZZ) 

www.bit.ly/2L38xU1 – Medikamente als Drogen: «Wenn ich weiter konsumiere, sterbe ich» (Artikel vom 05.11.2020 auf www.srf.ch) 

www.bit.ly/3g6CMFd – «Jugend im Rausch: Wenn der Drogencocktail tödlich ist» (Beitrag vom 02.12.2020 in der SRF- Rundschau) 

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