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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Warum gibt es immer mehr Autisten?

Warum gibt es immer mehr Autisten?

Noch nie gab es mehr Schulkinder mit einer Autismus-Spektrum-Diagnose. Was sind die Gründe und was bedeutet dies für die Lehrkräfte?

Autismus hat den Sprung vom Handicap einer Randgruppe zum gesellschaftsfähigen Anderssein geschafft. Schätzungsweise ein Prozent der Schweizer Bevölkerung leidet an einer autistischen Störung. Das sind rund 83 000 Kinder und Erwachsene. Bezogen auf die aktuellen 86559 Geburten pro Jahr (2015) kämen hierzulande zusätzlich jährlich an die 860 Kinder mit einer autistischen Störung dazu. Diese Zahlen bedeuten, dass in jedem grösseren Primarschulhaus mehrere Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Diagnose den Untericht besuchen.

«Von null auf dreihundert»
Da ist zum Beispiel Bruno. Er leidet an einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS), genauer am Asperger-Syndrom. Der Zweitklässler findet sich wohl in klaren Strukturen und statischen Mustern zurecht, geprägt durch bekannte Handlungen und Routine. Alles, was dynamisch oder emotional ist, bereitet ihm Mühe. Beim gemeinsamen Znüni-Essen rastet er aus. Er findet auf den Holzbänken nur schwer einen Platz und stösst seinen Nachbarn in die Rippen. Die Trinkflache fällt zu Boden, gefolgt von der Znünibox. Statt die verstreuten Brezeln aufzuheben, tritt Bruno drauf. Der Achtjährige wirft sich auf den Boden und beginnt zu schreien. Der Primarschüler ist mit der Situation überfordert. Was meint die Lehrerin mit «Platz aussuchen»? Neben wen setze ich mich? Wo stelle ich die Wasserflasche hin? Konstante Überforderung und Stress entladen sich in seiner Aggression.

Situationen wie diese und Kinder wie Bruno sind in Schweizer Schulen keine seltenen Ausnahmen mehr. Trotzdem überrascht die Menge an Kindern, die an einer Autismus-Störung leiden.

Situationen wie diese und Kinder wie Bruno sind in Schweizer Schulen keine seltenen Ausnahmen mehr. Trotzdem überrascht die Menge an Kindern, die an einer Autismus-Störung leiden. In der Volksschule im Kanton Bern gab es laut der Tageszeitung «Der Bund» im Jahr 2000 noch kein einziges Kind mit der Diagnose Asperger-Syndrom. Zehn Jahre später waren es offiziell 341 Kinder. Die Tageszeitung thematisierte die Entwicklung mit der Überschrift «Von null auf dreihundert». Nachgefragt bei den Schulpsychologischen Diensten verschiedener Kantone und Autismus-Beratungsstellen passt der Titel zur Autismus-Situation in der Schweiz und umschreibt auch den globalen Trend treffend. In den frühen 1970er Jahren schätzten US-Forscher, dass ein Kind aus 14 000 Kindern autistisch sei. Glaubt man einer aktuellen Studie aus Südkorea, leidet jedes 38. Kind zwischen sieben und zwölf Jahren an einer Art von Autismus. Doch woran liegt diese sprunghafte Zunahme an ASS?

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Mehr Betroffene bedeutet auch eine größere Lobby: Sensibilisierungskampagne des Autismus Forum Schweiz (Bild Wüthrich).

 

Mehr Autisten aufgrund medizinischer Fortschritte und Frühdiagnosen
Die Fortschritte in der Diagnostik erklären einen Teil der Zunahme. Früher galten Menschen mit Autismus als schizophren und schwerst gestört. Unter dem Begriff «autistische Psychopathie» umschrieb Hans Asperger zwar schon 1944 die Symptomatik des späteren Asperger-Syndroms. Doch erst Jahrzehnte später wurde die Arbeit von Asperger wieder aufgegriffen, weitergeführt und schliesslich Anfang der 1990er-Jahre in die zwei internationalen Diagnosesysteme ICD-10 und DSM-IV aufgenommen. Zusätzlich integrierte das DSM-IV vor drei Jahren auch die ASS. Bis es solche Neuerungen in die Praxis schaffen, braucht es Jahre. Der sprunghafte Anstieg der Autismus-Diagnosen zeigt, dass die neue Autismus­Auslegung in Arztpraxen und Psychiatrischen Diensten angekommen ist. Die Fachpersonen sind sensibilisiert.

«Wir stellen eine grosse Zunahme von Anfragen von Erwachsenen fest, die ihr Leben lang unter vielfältigen Problemen litten, aber erst heute ihre Probleme mit einer Autismus­Spektrum-Störung in Verbindung bringen»

Auch die Frühdiagnose und die Erfassung von ASS tragen zum Anstieg der Diagnosen bei. Bis in die 1980er-Jahre gab es kein Früherkennungssystem. Heute werden in der Schweiz Kinder mit frühkindlichem Autismus (Kanner-Autismus) schon im Alter von zwei bis vier Jahren diagnostiziert. Das Asperger-Syndrom wird oft schon bei fünf – bis sechsjährigen Kindern erkannt. Zusätzlich dazu gibt es zahlreiche Spätdiagnosen. «Wir stellen eine grosse Zunahme von Anfragen von Erwachsenen fest, die ihr Leben lang unter vielfältigen Problemen litten, aber erst heute ihre Probleme mit einer Autismus­Spektrum-Störung in Verbindung bringen», umschreibt Patricia Müller, Psychologin bei der Fachstelle Autismushilfe Ostschweiz ihren Beratungsalltag.

Besser ASS als ADHS …
Die Gesellschaft hat auf die vielen neuen Autisten reagiert. Die Häufigkeit der Erkrankung bringt eine starke Lobby mit sich. In der Schweiz gibt es ein Netz an Beratungsstellen, Programmen und Organisationen für Betroffene und deren Angehörige. Gewisse Unternehmen und Jobvermittlungen haben sich auf Menschen mit Asperger-Syndrom spezialisiert. Medien berichten ausführlich über erfolgreiche Menschen mit einer autistischen Störung. Bewunderung für die Prise Wahnsinn und Genie schwingt mit. Asperger tönt für Aussenstehende nach Nerd und Hochbegabung. Für Betroffene und deren Umfeld bedeutet die Diagnose mehr Akzeptanz und vor allem mehr Unterstützung im Vergleich zu anderen Befunden, wie zum Beispiel bei ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung). Bei einer ASS kommt je nach Kanton und Schweregrad der Diagnose eine Schulassistenz zum Einsatz. Das heisst eine Person, die das Schulkind während des Unterrichts begleitet. «Es gibt Eltern, die nichts unversucht lassen, um für ihr Kind eine Asperger-Diagnose zu erhalten. Vergessen wird dabei, dass das Asperger-Syndrom nur einen Teil des autistischen Spektrums ausmacht. An die 50 bis 60 Prozent aller Menschen mit einer ASS-Diagnose leiden an einer schwerwiegenden Störung, die ein selbständiges Leben zu grossen Teilen verunmöglicht. Personen mit Asperger-Syndrom, die ihr Leben alleine und selbständig meistern, gehören heute noch zur Minderheit», erklärt Heilpädagogin Monika Casura. Seit mehr als 30 Jahren arbeitet die Pädagogin mit autistischen Menschen, coacht Betroffene, Eltern und Lehrkräfte. «Ein autistisches Kind zu unterrichten, ist eine grosse Herausforderung für die Lehrkraft. Denn es kann in Kürze eine ganze Klasse durcheinanderbringen und ‹sozial› demontieren», erklärt die Autismus­Expertin.

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Seit mehr als 30 Jahren coacht  Monika Casura mit autistischen Menschen, Eltern und Lehrkräfte. (Bild Wüthrich)

 

Visualisieren und strukturieren seien die wichtigsten Massnahmen, betont Casura. Im Fall von Bruno und den Problemen in der Pause bedeutet dies: ihm klar einen Platz zuzuordnen, genügend Abstand zu seinem Nachbarn zu schaffen und eine gut sichtbare Markierung für die Wasserflasche und die Znünibox auf die Bank zu kleben, damit er weiss, wo er sie hinstellen soll. Bruno hat dies geholfen. Er und die Klasse essen nun in Ruhe. «Zusätzlich wird oft vergessen, dass autistische Menschen Emotionen schlecht oder gar nicht wahrnehmen oder deuten können», betont die Heilpädagogin. Das Gleiche gelte für emotional-individuell geprägte Begriffe. Die Aufforderung «Räume deinen Tisch schön auf» könne einen Autisten zum Verzweifeln bringen. Was heisst schön? Wie ist schön? Für wen schön? Das Kind rotiert zwischen Dutzenden von Fragen. Aufräumen bleibt unmöglich. Zusammen mit der Lehrkraft hat Casura den aufgeräumten Tisch fotografiert und dem Kind das Bild als Vorlage abgegeben. Mit Hilfe dieser visuellen Vorlage ist das Aufräumen nun problemlos möglich.

Wird das autistische Kind zum Pionier?

Und wie reagieren die Lehrkräfte auf die Herausforderung «Autismus»? Die Fachfrau für Autismus-Spektrum stellt den Schweizer Lehrerinnen und Lehrern ein gutes Zeugnis aus. Sie treffe in der Regel auf offene und motivierte Fachpersonen – und sehe auch, dass ein Kind mit Asperger-Syndrom für alle Beteiligten ein Gewinn sein könne. «Immer mehr Schulkinder haben keine Strukturen. Sie profitieren von den klaren Anweisungen und einfachen Mustern, die man für Asperger-Kinder schafft. Aus diesem Blickwinkel ist ein Asperger-Kind sogar ein wenig ein Pionier für die Herausforderungen, die heute an die Schule gestellt werden.»

 

AUTISMUS-SPEKTRUM-STÖRUNG
Der Begriff «Autismus» stammt aus dem Griechischen und bedeutet «sehr auf sich bezogen sein». Um die ganze Bandbreite der Betroffenen abzudecken, spricht man heute von Autismus-Spektrum-Störungen (ASS). Die ASS umfasst verschiedene Ausprägungen: von schwerwiegenden Beeinträchtigungen, teilweise gepaart mit Intelligenzminderung (frühkindlicher Autismus) bis hin zu weniger schwerwiegenden Beeinträchtigungen bei durchschnittlicher oder überdurchschnittlicher Intelligenz (Asperger­Syndrom). Die Ursachen des Autismus sind nicht vollständig geklärt. Klar ist, dass Autismus weder Folge von Erziehungsfehlern noch familiärer Konflikte ist und dass die Mehrheit der Betroffenen Knaben sind. Eine Rolle spielt mit Sicherheit die genetische Disposition. Die ASS wird von der Weltgesundheitsorganisation zu den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen gerechnet und nicht als Krankheit kategorisiert.

weiter im Netz:
http://www.autismus.ch

publiziert 10/16, Bildung Schweiz

Comments

  • Whim
    REPLY

    Dear Ms. Wüthrich, to your knowledge, is there a connection between vaccines and autism? See Vaxxed and Vaxxed2.
    Thanks for your response in advance.

    June 14, 2020

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