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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Toi, toi, toi!

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«Schulfach Glück»: Eine utopische Spinnerei oder realistischer Schulalltag?

Schulstart im Morgengrauen. Dann eine Lektion nach der anderen, um spät nachmittags entlassen zu werden – mit vollem Hausaufgabenheft für den nächsten Tag. Mit Glücksgefühlen hat dieser Alltag für viele Schülerinnen und Schüler in der Schweiz wenig zu tun. Dass das Schulfach «Glück» kaum irgendwo auf einer Stundentafel erscheint, erklärt sich von selbst: Es herrscht «Schulpflicht» und nicht «Spasskultur». Die Schule ist für Lesen, Rechnen und Leistung zuständig, nicht für die Glückseligkeit der Schülerschaft. Gefordert wird Eigeninitiative: Jeder ist seines Glückes Schmied. Ansonsten hält man es am besten wie die Rockgruppe Züri West, glaubt ans Glückspilzdasein und summt leise hoffend vor sich hin «Irgendeinisch fingt ds Glück eim. Irgendwo uf em e Parkplatz». Was soll Glück in der Schule zu suchen haben? Viel, beweist die Wissenschaft.

Es herrscht Schulpflicht nicht Spasskultur
Erforscht und bewiesen Glücksstudien zeigen, dass Menschen, die sich glücklich fühlen, gesünder sind und länger leben als Personen, die sich als unglücklich bezeichnen. Den Gegenpol zu Glücksgefühlen bilden Depressionen. Die Hälfte aller Menschen in der Schweiz wird im Verlauf ihres Lebens mit psychischen Problemen konfrontiert; jeder Fünfte entwickelt eine Depression. Therapien, Hospitalisierungen und Ausfälle im Arbeitsmarkt belasten das Budget der Schweizer Volkswirtschaft mit insgesamt über zehn Milliarden Franken pro Jahr.

«In der Glücksstunde geht es nicht explizit ums Glück oder die Suche danach. Die Jugendlichen sollen Strategien erlernen, um mit der eigenen Gefühlswelt zurechtzukommen»

Von psychischen Problemen betroffen sind immer häufiger auch Schulkinder. Seit 2012 nehmen die psychiatrischen Hospitalisierungen von Kindern und Jugendlichen zu. Das Risiko eines Suizids wird durch eine psychische Störung um das 30- bis 50-Fache erhöht. Die Diskussion um die Existenzberechtigung des «Schulfachs Glück» erübrigt sich durch diese Fakten. Doch hat eine Glücksstunde im Schweizer Schulalltag Platz? Selbstverständlich, meint die Glücksstundenlehrerin. 

Ausdruck von Glück*

«Für ein positives Lebensgefühl sind Strategien, um Konflikte zu lösen und die eigenen Gefühle auszudrücken, sehr wertvoll. Das sind überfachliche Kompetenzen, die im Lehrplan 21 verankert sind», sagt Primarlehrerin Vanessa Costanza. Seit rund zwei Jahren hat im Stundenplan ihrer Mittelstufenklasse im bernischen Büren an der Aare eine wöchentliche Glücksstunde Platz – offiziell im Rahmen des NMG-Unterrichts (Natur, Mensch und Gesellschaft). Oft beginnt die Klasse eine Schulstunde mit einer kurzen Meditation. Die Schülerinnen und Schüler sollen sich spüren, ruhig werden und ankommen im Moment. 

Später notieren sie Ereignisse, die sie stolz machen, in ihr Erfolgsheft und schreiben positive Erlebnisse auf kleine Zettel. Diese bewahren sie in ihrem Glücksglas auf. «In der Glücksstunde geht es nicht explizit ums Glück oder die Suche danach. Die Jugendlichen sollen Strategien erlernen, um mit der eigenen Gefühlswelt zurechtzukommen», sagt Pädagogin Costanza. Wer über einen differenzierten Wortschatz verfügt, kann seine Gefühle besser mitteilen. Wer Strategien kennt, um mit Ängsten und Frustrationen umzugehen, löst Konflikte effizienter. 

Die Unfassbarkeit des Glücks
Da ist zum Beispiel der Junge, der es schafft, im Klassenverband darüber zu sprechen, dass er Angst davor hat, Freunde zu verlieren. Und ein Mädchen schreibt ins Erfolgsheft vom Stolz, die Hängebrücke überquert zu haben, und es merkt, dass nicht nur schulische Leistungen wertvoll sind. Die Klasse sei durch die Glücksstunde ruhiger geworden und stehe sich näher, sagt Costanza. Schulleitung und Lehrkollegium unterstützen den Glücksgedanken. Die Eltern haben bis anhin positiv reagiert – oder gar nicht. Kinder entwickeln durch Glücksstunden ein höheres Selbstwertgefühl als ihre Peers ohne Glückstraining, zeigt eine wissenschaftliche Arbeit an der Universität Mannheim. Ist Glück damit endlich greif- und definierbarer geworden? Ausgeschlossen, zeigt die Realität. 

Es gibt so viele unterschiedliche Glücksinterpretationen wie Menschen. Sie alle in ein einziges Fach zu zwängen und es dann noch kindlich naiv «Glück» zu nennen, bleibt eine Steilvorlage für alle Kritiker.

Glück ist ein vielschichtiger, kulturell und zeitlich geprägter Begriff und eine äusserst subjektive Empfindung. Schon 270 Jahre vor Christus verfasste der griechische Philosoph Epikur das Werk «Wege zum Glück». Für ihn bestanden Glück und Seligkeit aus Schmerzlosigkeit und der Beruhigung der Leidenschaften. Heute wird Glück im Duden als «angenehme und freudige Gemütsverfassung, in der man sich befindet, wenn man in den Besitz oder Genuss von etwas kommt, was man sich gewünscht hat; Zustand der inneren Befriedigung und Hochstimmung», abgehandelt. Der deutsche Philosoph Nietzsche hingegen sah Glück als Widerstandsüberwindung – und die Yogalehrerin um die Ecke ist nur «happy im Flow». Es gibt so viele unterschiedliche Glücksinterpretationen wie Menschen. Sie alle in ein einziges Fach zu zwängen und es dann noch kindlich naiv «Glück» zu nennen, bleibt eine Steilvorlage für alle Kritiker. Ist «Schulfach Glück» also ein «sprachliches Unglück»? Zweifellos, sagt die Glückstrainerin. 

Glück: kein Zufall, sondern ein Lernprozess 
«Die Bezeichnung ‹Schulfach Glück› ist öffentlichkeitswirksam und medientauglich, rein inhaltlich ist sie jedoch eine eher unglückliche Wahl», sagt Lucia Miggiano. Bessere Vorschläge seien willkommen. Die heutige Sekundarlehrerin und ehemalige Bankerin ist Gründerin von remaking.ch. Das Unternehmen bietet seit 2017 in Kooperation mit dem Fritz-Schubert- Institut in Heidelberg den Lehrgang «Schulfach Glück» an. Es sei jedoch vollkommen irrelevant, wie die Lektion benannt werde. Ein abgesondertes Fach «Glück» sei nicht zwingend notwendig, macht Miggiano klar: «Die Fachbereiche Ethik, Religion, ‹personal skills› oder die Stunden für die Berufswahl eignen sich, um das Wohlergehen, die Zufriedenheit und damit das Glück der Schülerinnen und Schüler zu thematisieren.» 

Ausdruck von Glück*

Mit Blick auf die konstant wachsende Glücksindustrie findet Miggiano: «Alles was glücklich macht, ist willkommen.» Mit einem Glückstee oder Happy-Size-Kleidern sei die angebotene Ausbildung jedoch in keiner Weise vergleichbar. «Es geht nicht um einen kurzen Glücksmoment, sondern um dauerhaftes Wohlbefinden. Glück ist kein Zufall, sondern ein Lernprozess, Persönlichkeitsentwicklung – und entsprechend harte Arbeit», sagt die Pädagogin. Zu den Absolvierenden des Lehrgangs «Schulfach Glück» gehören Fachpersonen aus der Pädagogik und Unternehmertum sowie Fotografinnen, Fotografen und sogar Spitalclowns. 

«Was zählt, ist zu begreifen, dass es keine Rolle spielt, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Zentral ist, ob ich damit befriedigend meinen Durst löschen kann»

Wer sich nach 144 Trainingsstunden für 4200 Franken Kurskosten ein allgemein gültiges Glücksrezept erhofft, wird enttäuscht. «Was zählt, ist zu begreifen, dass es keine Rolle spielt, ob das Glas halb voll oder halb leer ist. Zentral ist, ob ich damit befriedigend meinen Durst löschen kann», erklärt Miggiano. Ist dies nicht der Fall, sei es entscheidend, über die Werkzeuge und Kompetenzen zu verfügen, um die Situation zu verändern, also vom Erdulder zum Gestalter zu werden. Dabei lauten wichtige Schlüsselfragen: Wer bin ich? Was kann ich? Was brauche ich? Und was will ich? «Wer sich diesen Fragen direkt und ehrlich stellt, weiss schlussendlich, was er oder sie für die eigene Lebenszufriedenheit und damit auch für das persönliche Glück braucht», konkretisiert Miggiano. Unglück, Trauer und Angst können dabei nicht ausgeklammert werden. Der Weg zum Glück hat nichts mit einer heilen Welt zu tun, sondern mit der eigenen Haltung. Achtsamkeit, Ref lexion und Dankbarkeit sind Fähigkeiten, die lernbar sind. Am besten schon im Kindergarten. 

Ausdruck von Glück*


*Die Bilder /Texte stammen aus dem Lyrikbuch “fernsonah” (Christa Wuethrich / 2010)




Weiter im Netz 
www.remake.ch – Ausbildung zur Glücks- lehrperson 
www.privatgymnasium-weinheim.de – Studie: Glück Selbstwertgefühl von Sarah Hess 

Weiter im Text
Bruno S. Frey, Claudia Frey Marti: «Glück – die Sicht der Ökonomie», 2010, Rüegger- Verlag, Chur. 


publiziert September 2022, Zeitschrift “Bildung Schweiz” (09/2022)

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