Dem Geist Beine machen!
Gehen fördert Kreativität, Kommunikation und Konzentration. «Walking Meetings» gelten als effiziente Alternative zur traditionellen Sitzung im Büro. Eine Chance für das Lernen in der Schule?
Auf der Suche nach Ideen für die nächste Gruppenarbeit können die Lernenden wählen, ob sie sich an einen Gruppentisch setzen oder gemeinsam zu Fuss auf eine kurze «Brainstorming-Tour» gehen. Die obligatorischen Hausaufgaben beinhalten immer eine freiwillige «Walking-Option»; einen Vorschlag, wie eine Aufgabe mit Gehen kombiniert werden kann. Die Klassenlehrerin ihrerseits führt die Coaching-Gespräche mit ihren Schülerinnen und Schülern während eines Spaziergangs ums Schulhaus.
Egal ob im Schulzimmer oder im Park: Laut einer Studie der Universität Stanford (2014) kann Gehen die Kreativität um bis zu sechzig Prozent steigern. Die Inspiration bleibt auch bestehen, wenn man sich später hinsetzt. Andere Forschungsprojekte zeigen auf, dass Spaziergänge das Stresslevel reduzieren und die Gedächtnisleistung fördern können. Gehen aktiviert das Gehirn, verbessert die Laune und fördert die Kommunikation.
Ein Argument gegen das Gehen als Kreativitätsquelle und Inspirationslieferant zu finden, ist schwer. Gehen ist weltweit die meistverbreitete körperliche Aktivität, unabhängig von Nationalität, Kultur und Religion.
Für Apple-Gründer Steve Jobs war ein langer Spaziergang die bevorzugte Art, eine ernsthafte Unterhaltung zu führen. Er war dafür bekannt, seine Ideen beim Gehen zu entwickeln. Auch Facebook-Gründer Mark Zuckerberg und Jack Dorsey, Mitgründer von Twitter, setzen auf «Walking Meetings». Vorstellungsgespräche mit Job-Kandidatinnen und -Kandidaten führen beide gehend.
Schritt für Schritt zur Idee
Betreffend Kreativität und Gehen waren jedoch weder Zuckerberg noch Jobs Pioniere. Schon seit Jahrtausenden gilt Gehen für viele Menschen als eine Quelle der Inspiration. Ob Philosoph Sokrates, die Komponisten Beethoven und Tschaikowski, der Literat Goethe oder Physiker Albert Einstein: Sie alle fanden Inspiration im und beim Gehen. Die Inspiration für die 6. Symphonie fand Beethoven bei seinen täglichen Spaziergängen in den Wäldern und Hügeln rund um Wien. Und Physiker Albert Einstein begann laut Erzählungen seine bahnbrechenden Aufsätze über die Relativitätstheorie an einem Abend im Mai zu schreiben – nach einem Spaziergang mit einem Freund durch Bern.
Ein Argument gegen das Gehen als Kreativitätsquelle und Inspirationslieferant zu finden, ist schwer. Gehen ist weltweit die meistverbreitete körperliche Aktivität, unabhängig von Nationalität, Kultur und Religion. Gesund, kosteneffizient sowie zeit- und raumunabhängig scheint es die ideale Inspirationstechnik. Gehen ist ein bewegender Perspektivenwechsel, der es – wie Studien belegen – einfacher macht sich mit den «Mitgehenden» zu verbinden und zu verbünden: Auf Augenhöhe und immer mit Blick in die gleiche Richtung.
Für viele unserer Vorfahren war das Leben nichts anderes als ein langer Fussmarsch.
Ein Spaziergang fürs Gehirn: Trotzdem ist auf kaum einem Stundenplan in der Schweiz eine Lektion für «Walk & Talk» vermerkt. Sich zwecks Inspiration frei im Klassenzimmer oder Schulareal zu bewegen, gilt selten als alltägliches und akzeptiertes Lernverhalten. Die in diesem Text anfangs erwähnten gehfreundlichen Lernsettings sind eine reine pädagogische Fantasie. Hirnforscher John Medina von der University of Washington findet solche Impulse jedoch notwendig. Ein «geh-hemmendes» Umfeld macht laut dem Forscher keinen Sinn. In seinem Buch «Gehirn und Erfolg: 12 Regeln für Schule, Beruf und Alltag» betont er: «Aus der Evolutions-Perspektive ist es klar, dass sich unsere Hirne durch körperliche Bewegung weiterentwickelt haben, gehend oft mehr als zwölf Meilen pro Tag. Unser Hirn lechzt auch heute noch nach dieser Erfahrung.» Medina empfiehlt Laufbänder und Hometrainer in den Klassenzimmern. Die Kinder sollen mit Sportkleidern zur Schule kommen, damit Bewegung überall und jederzeit möglich wird.
Für die Zukunft hingegen steht das Wort «anagata», zu Deutsch etwa «dort, wohin wir noch nicht gekommen sind»
Sich auf zwei Füssen fortzubewegen, spielt in der menschlichen Entwicklung eine Schlüsselrolle — sowohl für den Körper als auch für den Geist. Vorwärtskommen hat das Weltbild der Menschen über Jahrhunderte geprägt. Für viele unserer Vorfahren war das Leben nichts anderes als ein langer Fussmarsch. In seinem Buch «Gehen. Weiter gehen» befasst sich Autor und «Weltenwanderer» Erling Kagge mit der Geschichte des Gehens. Er erklärt darin, dass «Vergangenheit» in Sanskrit, einer der ältesten Sprachen der Welt, «gata» heisst. Übersetzt heisst dies so viel wie «wo wir gegangen sind». Für die Zukunft hingegen steht das Wort «anagata», zu Deutsch etwa «dort, wohin wir noch nicht gekommen sind»
Freiwilligkeit und Tempo
«Anagata» umschreibt treffend die Verbreitung und Akzeptanz vom Gehen in einer grossen Anzahl der öffentlichen Schulen in der Schweiz. Das Bundesamt für Gesundheit empfiehlt Schülerinnen und Schülern minimal eine Stunde Sport respektive Bewegung pro Tag. Laut der Gesundheitsförderung Schweiz verbringen Kinder und Jugendliche tagsüber neunzig Prozent der Zeit sitzend, liegend oder in leichter Aktivität. In der Primarschule ist knapp jedes sechste Kind übergewichtig; in der Oberstufe ist es jeder fünfte Jugendliche. In vielen Fällen wird auch der Schulweg nicht mehr zu Fuss bewältigt, was nicht nur die Kondition, sondern auch die Hirnleistung und Konzentrationsfähigkeit der Kinder beeinflusst.
In der Primarschule ist knapp jedes sechste Kind übergewichtig; in der Oberstufe ist es jeder fünfte Jugendliche.
Dem Geist Beine zu machen, würde sich lohnen. Die University of Illinois zeigte in einem Forschungsprojekt auf, dass zehnjährige Kinder, die zuvor zwanzig Minuten zu Fuss marschiert sind, sich besser konzentrieren können. Sie schnitten auch beim Überprüfen des Lernstoffs besser ab als jene Kinder, die sich nicht bewegten. Das dänische Projekt «Mass Experiment» bestätigte die Erkenntnisse aus den USA: Aus den über 20’000 teilnehmenden Kindern und Jugendlichen im Alter von fünf bis 19 Jahren konnten sich die Schülerinnen und Schüler, die zu Fuss zur Schule gingen, in den ersten vier Unterrichtsstunden deutlich besser konzentrieren als ihre «motorisierten» Mitschülerinnen und Mitschüler.
«Solvitur amulando». Es wird beim Gehen geklärt
Bei allen gelobten Eigenschaften des Gehens sind zwei Aspekte besonders wichtig: Freiwilligkeit und Tempo. Experimente mit Mäusen zeigten auf, dass bei Tieren, die zur Bewegung gezwungen wurden, nur halb so viele neu gebildete Nervenzellen im Gehirn überlebten wie bei den Tieren, die sich freiwillig bewegten. Kindern und Jugendlichen zu verordnen, täglich dreissig Minuten lang zu rennen, hätte genau diesen Effekt. Was zählt, ist nicht die Geschwindigkeit, sondern die Bewegung, egal wie langsam: Bei jedem Schritt sind über 200 Muskeln im Einsatz. Das Gehirn ist damit beschäftigt, sie zu koordinieren, schüttet mehr Botenstoffe aus, bildet mehr Nervenzellen – und Geist vergisst dabei den Stress und findet Freiraum für Kreativität. Mehr gehen, weniger grübeln.
Wer Gehen und die womöglich positiven Wirkungen der Bewegung auf Konzentration, Kreativität und Kommunikation als reinen Humbug einstuft, soll sich so wie der griechische Philosoph Diogenes verhalten. Als er mit der These konfrontiert wurde, es gäbe überhaupt keine Bewegung, antwortete er: «Solvitur amulando». Es wird beim Gehen geklärt.
publiziert Dezember 2022 in der Zeitschrift “Bildung Schweiz”