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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Schadet exzessiver Bildschirmkonsum dem kindlichen Hirn?

Schadet exzessiver Bildschirmkonsum dem kindlichen Hirn?

Eine neue Studie zeigt auf, wie Bildschirmzeit die kindliche Hirnentwicklung beeinflusst. Reine Übertreibung oder eine realistische Bedrohung? 

Dass Bildschirme für viele Babys und Kleinkinder ein fester Bestandteil ihres Alltags sind, ist ein offenes Geheimnis: Zu Hause läuft für die Kleinen der Fernseher während der elterlichen Homeofficezeiten, in der Kita das Trickfilmchen vor dem Mittagsschlaf, im Auto und im Restaurant das Smartphone als Zeitvertreib.

Der Bildschirm als Babysitter und Unterhalter hat sich etabliert. Wie lange die Kleinsten täglich vor dem Bildschirm sitzen, lässt sich nur erahnen. «Die vorhandenen Angaben über die Bildschirmnutzung von Kleinkindern sind Momentaufnahmen und stammen meistens von den Eltern. Das sind subjektive Informationen, geprägt durch das Wissen, was sozial und gesellschaftlich wünschenswert wäre», sagt Eveline Hipeli, Medienpädagogin und Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Zürich.

Der Bildschirm als Babysitter und Unterhalter hat sich etabliert. Wie lange die Kleinsten täglich vor dem Bildschirm sitzen, lässt sich nur erahnen

Repräsentative Langzeitstudien, wie sich exzessive Bildschirmzeit von Geburt an auf die Hirnentwicklung von kleinen Kindern auswirkt, haben bis anhin gefehlt. «Solche Erhebungen sind zeitintensiv und teuer. Dazu kommt, dass mobile, leicht zugängliche Touchscreens für Kinder ein relativ neues Phänomen sind», ergänzt Kommunikationswissenschaftlerin Hipeli.

Das erste iPhone kam 2007 auf den Markt. Heute benützen laut Statista weltweit 6,92 Milliarden Menschen ein Smartphone – und die Kleinsten nutzen sie mit. «Babys und Kleinkinder kopieren die Menschen in ihrem Umfeld. Schauen diese konstant auf einen Bildschirm, fordern die Kinder das Gleiche», sagt Hipeli. Doch wie beeinflusst eine exzessive frühkindliche Bildschirmnutzung die Hirnentwicklung dieser Kinder?

Bildschirmzeit beeinflusst Hirnbildung
Seit Anfang 2023 stehen an der Stelle von Vermutungen und Einschätzungen klare Fakten. Eine neue Langzeitstudie aus Singapur zeigt auf, dass sich Hirnströme von kleinen Kindern durch häufige Bildschirmzeit verändern. Wer als Kleinkind schon mehrere Stunden am Tag vor dem Bildschirm sitzt, läuft Gefahr, dass die Hirnaktivität langfristig negativ beeinflusst wird. Für die Referenzstudie begleiten Forscherinnen und Forscher 506 Kinder und ihre Mütter von der Schwangerschaft bis zum neunten Lebensjahr.

«Babys und Kleinkinder kopieren die Menschen in ihrem Umfeld. Schauen diese konstant auf einen Bildschirm, fordern die Kinder das Gleiche»

Im Alter von einem Jahr wurden die Kinder, basierend auf ihrem täglichen Bildschirmkonsum, in vier verschiedene Gruppen eingeteilt: Weniger als eine Stunde, eine bis zwei Stunden, zwei bis vier Stunden und mehr als vier Stunden Bildschirmzeit pro Tag. Mit 12 Monaten, 18 Monaten und neun Jahren absolvierten die Kinder jeweils verschiedene Tests zur Aufmerksamkeitsspanne und Selbstregulierung. Ihre Hirnströme wurden mit einer Elektroenzephalografie (EEG) gemessen.

Je höher der durchschnittliche Bildschirmkonsum der Kinder pro Tag war, desto höher war beim Messen der Hirnströme die Frequenz der langsameren Wellen. Diese können für schlechtere Aufmerksamkeitskontrolle und geringere Konzentrationsfähigkeit verantwortlich sein. Die Kinder bekunden dadurch öfter Mühe, sich zu fokussieren, schweifen ab und verlieren schneller das Interesse an einer Aufgabe. Die Kinder haben vermehrt Schwierigkeiten, ihre Aufmerksamkeit, das Verarbeiten von Informationen und ihre Emotionen und Impulse zu kontrollieren. Zusätzlich bedeutet übermässige Bildschirmzeit oft weniger soziale Interaktionen, einen späteren Spracherwerb, weniger Bewegung und weniger freies Spiel.

Zu viel, zu schnell, zu abstrakt
«Für die Erkenntnis, dass vier Stunden Bildschirmzeit pro Tag für ein zweimonatiges Kind und dessen Entwicklung ungesund sind, braucht es kaum eine gross angelegte Studie, sondern gesunden Menschenverstand», sagt Medienexpertin Eveline Hipeli kritisch. Babys und Kleinkinder lernen von Menschen und nicht von Bildschirmen. Dafür braucht es physische Reize und soziale Interaktionen. Kommt hinzu: «Für Kinder unter drei Jahren macht ein Bildschirm noch wenig Sinn. Sie können die Menge an Informationen, die sie über digitale Medien erhalten, noch nicht vollends verarbeiten: Es ist oft zu viel, zu schnell, zu abstrakt. Das Gehirn kommt oft gar nicht hinterher.»

Das singapurische Forscherteam ist sich der Tragweite der präsentierten Resultate bewusst. «Die Studie ergänzt früher durchgeführte Untersuchungen mit der klaren Evidenz, dass die Bildschirmzeit während der frühen Hirnentwicklung von kleinen Kindern genaustens überwacht werden sollte», fassen die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ihre Arbeit zusammen. Rückgängig kann eine mehrheitlich vor dem Bildschirm erlebte Kindheit nicht gemacht werden. Doch wie beeinflusst eine exzessive Bildschirm-Kindheit die Schullaufbahn der betroffenen Kinder? Hat Luis, der seine vier ersten Lebensjahre überwiegend vor dem Fernseher verbracht hat, eine kleinere Chance, den Sprung ins Gymnasium zu schaffen? Und ist der Grund für Ellas Konzentrationsschwäche der Fakt, dass sie mit zwei Jahren ihr erstes Handy erhalten hat?

«Es ist kaum möglich, jene Defizite zu identifizieren, die in der kindlichen Hirnentwicklung auf einen exzessiven, unkontrollierten Bildschirmkonsum zurückzuführen sind»

«Der frühkindliche Bildschirmkonsum ist nur ein einzelnes Puzzlestück, das die Hirnentwicklung eines Kleinkindes prägt», betont Tobias Iff, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin mit dem Schwerpunkt Kinderneurologie. Mangelnde Konzentrationsfähigkeit oder eine ungenügende Frustrationstoleranz eines Kindes nur auf einen exzessiven Bildschirmkonsum in früher Kindheit zurückzuführen, sei ein Trugschluss, auch wenn einzelne Studien diesen Trend aufzeigten. «Die genetische Prädisposition, das sozio-ökonomische Umfeld und der Kontext des Bildschirmkonsums spielen eine sehr grosse Rolle», betont der Kinderneurologe.

Wenn der Bildschirmkonsum exzessiv ohne Aufsicht erfolgt, die Schlafroutine und den Spracherwerb eines Kleinkindes prägen, scheint der Einfluss auf die Hirnentwicklung bedeutend grösser als bei einem gleichaltrigen Kind, das genauso viel Zeit vor dem Bildschirm verbringt, aber von seinen Eltern dabei begleitet wird. Ob und wie sich exzessiver frühkindlicher Bildschirmkonsum auf die Schulkarrieren der betroffenen Kinder auswirkt, ist in Langzeitstudien noch nicht erforscht. Die Welt entwickelt sich rasant. Kleinkinder sind unzähligen Faktoren ausgesetzt. «Es ist kaum möglich, jene Defizite zu identifizieren, die in der kindlichen Hirnentwicklung auf einen exzessiven, unkontrollierten Bildschirmkonsum zurückzuführen sind», betont Iff.

Wo die Grenze zwischen gesundem Bildschirmkonsum und unkontrolliertem Exzess liegt, stellt für Lehrpersonen, Eltern und Kinder eine konstante Herausforderung dar. An Richtlinien und Grundsätzen zur Nutzung von Bildschirmen mangelt es nicht. (Siehe Box: Bildung kommt von Bildschirm, nicht?)

Wie wirksam solche unverbindlichen Empfehlungen sind und ob es nicht klare Massnahmen oder gar Gesetze braucht, wird sich zeigen. Schweden hat 2023 die nationale Digitalisierungsstrategie, die Bildschirme schon in der Vorschule verordnete, aufgrund fehlender wissenschaftlicher Grundlage gestoppt. Die Regierung in Taiwan hat 2015 das Jugendschutzgesetz angepasst. Neben Rauchen und Drogenkonsum ist auch die unverhältnismässig lange Nutzung von Bildschirmmedien unter 18 Jahren verboten. Bei Missachtung und eintretenden Gesundheitsgefährdungen sind die Eltern des Kindes zu Geldstrafen verpflichtet. Auch China hat reagiert. Die «Cyberspace Administration» in China hat im August 2023 einschneidende Restriktionen angekündigt. 

Bildung kommt von Bildschirm, nicht?

Wie viel Bildschirmzeit sollen Kinder haben? Eine Sammlung an Empfehlungen, Tricks und Tipps für einen gesunden Bildschirmkonsum. 

1. Gutes Vorbild: Kinder kopieren die Menschen in ihrem Umfeld. Ob und wie Kinder Bildschirme nutzen, hängt zu einem grossen Teil vom Verhalten ihrer Vorbilder ab und weniger von den Apps oder den Kindern selbst. Je mehr die Eltern sich mit ihrem Smartphone beschäftigen, desto mehr tun dies die Kinder auch. Dies schreibt Henry Rygel im Artikel «Wie gefährlich ist das Smartphone für Kinder? Über den Einfluss der Smartphone-Nutzung auf die kindliche Gesundheit.»

2. Klare Vorgaben: Ob die Weltgesundheitsorganisation (WHO) oder nationale Vereinigungen von Kinderärzten: Alle fordern klare Vorgaben und Regeln für den Bildschirmkonsum. In der Schweiz erläutert die Broschüre «Medienkompetenz – Tipps zum sicheren Umgang mit digitalen Medien» mögliche Rahmenbedingungen für Schule und Privatleben. Empfohlen wird: «Kinder unter drei Jahren gehören nicht vor den Fernseher. Geschaute Inhalte sollten altersgerecht sein und gestoppt bzw. mit Unterbrüchen angeschaut werden können. Drei- bis Fünfjährige können bis zu 30 Minuten am Tag in Begleitung von Erwachsenen altersgerechte Bildschirmmedien nutzen. Sechsbis Neunjährigen reichen fünf Stunden Bildschirmzeit pro Woche. Zehn- bis Zwölfjährige sollten pro Woche nicht mehr als zehn Stunden vor dem Bildschirm verbringen.» Mehr Informationen enthält die Broschüre «Medienkompetenz – Tipps zum sicheren Umgang mit digitalen Medien» des Instituts für Angewandte Psychologie der Zürcher Hochschulen für Angewandte Wissenschaften.

3. Starke Basis: Um die Hirnkapazität zu fördern und Kindern später einen guten Start in die Schule zu erleichtern, erachten Neurologinnen und Neurologen vier Erfahrungen in der frühen Kindheit als entscheidend: eine achtsame Bezugsperson, differenzierte Sprache, freies Spiel und gute Ernährung. Eine Vertiefung dazu bietet der Dokumentarfilm «Brain Matters» von Carlota Nelson.

4. Pausen, Langeweile, Interaktionen: Das Gehirn braucht Pausen, Ruhe und Abwechslung. Bildschirmfreie Tage schaffen Raum für gemeinsame Aktivitäten, aber auch für Langeweile. Bildschirmfreie Räume können «nicht digitale» Akzente setzen: Zeit für Gesellschaftsspiele, für Bücher, zum Musizieren oder Meditieren. Mehr Informationen dazu gibt es in einem Artikel zum Thema unter dem Link http://bit.ly/3tsDFCL.

5. Vom Bildschirm ins Leben: Wer gemeinsam vor dem Bildschirm sitzt, kann das Gesehene teilen und ins «eigene Leben» transferieren. Anstelle von Farbtöpfchen auf dem Bildschirm anzuklicken, malen Kinder mit Pinsel und Farbe ein Bild. Der Tanzfilm kann im Wohnzimmer nachgespielt und die Kochshow in die eigene Küche verlegt werden. Ein Tipp aus dem Artikel «Screen time and preschool children: Promoting health and development in a digital world» im Positionspapier «Canadian Paediatric Society».

6. Familienzeit: Ein gemeinsames Abendessen, ein Nachmittag auf dem Spielplatz oder eine Gute-Nacht-Geschichte: Familienerlebnisse und Routinen sind Gelegenheiten, um soziale Fähigkeiten zu erlernen, zu trainieren und Bildschirme wegzulegen. Dies ist ein weiterer Vorschlag aus dem unter dem Punkt 5 aufgeführten Artikel.

7. Eine Prise Humor: Bildschirme nicht verteufeln, Perspektiven wechseln, Distanz gewinnen und auch mal drüber lachen – so wie der Deutsche Kabarettist Dieter Hildebrand: «Bildung kommt von Bildschirm und nicht von Buch, sonst hiesse es ja Buchung.»


publiziert November 2023 in der Zeitschrift “Bildung schweiz” (11/2023)

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