Von der Sonderschule an die Uni
Wie schaffen es Jugendliche aus einem Sonderschulsetting erfolgreich in den ersten Arbeitsmarkt oder gar an eine Universität? Ein Treffen mit drei jungen Erwachsenen.
Ruhig sitzen und sich konzentrieren, gehörten schon als Kind nicht zu Samaras Stärken. Als unkonzentrierter Wirbelwind wiederholte sie die 2. Klasse. Danach folgte mit Verdacht auf ADHS die Überweisung an eine Schule für «schwererziehbare» Kinder. Die Oberstufe und das anschliessende 10. Schuljahr absolvierte die Innerschweizerin an einer weiteren Sonderschule. Den Traum von einer Lehre als Kleinkindererzieherin gab sie – trotz Sonderschulstatus – nie auf: «Bei den meisten Bewerbungsgesprächen war meine Schullaufbahn ein entscheidendes und oft abschreckendes Handicap», erzählt Samara.
Mit grossem Aufwand findet sie eine Praktikumsstelle und zwei Jahre später eine Lehrstelle. «Die Angst, dass ich als ehemalige Sonderschülerin das Praktikum und später die schulischen Anforderungen einer dreijährigen Lehre mit Eidgenössischem Fachausweiss nicht meistere, war sehr belastend», gesteht die heute 23-Jährige. In Absprache mit den Lehrpersonen stimmt sie einem Ausbildungs-Coaching zu.
«Für mich war das Wissen um Unterstützung wichtig. Die Sicherheit zu haben, dass ich nicht allein bin, wenn es wirklich «brennt», hat mir Stabilität und Vertrauen gegeben»
Die wöchentlichen Treffen mit ihrem Coach ermöglichen nicht nur fokussiertes Lernen, sondern Gespräche über berufliche, schulische und persönliche Herausforderungen. Die Lehrmeisterin ist über das Coaching informiert. Einen direkten Kontakt zwischen Betrieb und Coach gibt es nicht, steht aber als Option bereit. «Für mich war das Wissen um Unterstützung wichtig. Die Sicherheit zu haben, dass ich nicht allein bin, wenn es wirklich «brennt», hat mir Stabilität und Vertrauen gegeben», umschreibt Samara ihre Erfahrung. «Gebrannt» hat es bis heute nie. Im Sommer 2021 schloss Samara die Lehre als Fachfrau Betreuung mit Erfolg ab.
Den Mittelweg zwischen Machbarkeit und Bedürfnis finden
«Für mich bedeutet die wöchentliche Session mit meinem Coach genügen Zeit und Raum zu haben, um strukturiert zu lernen», sagt Ivo Zimmermann. Der 16-Jährige steht im 1. Lehrjahr in der Ausbildung zum Milchtechnologen (EFZ). Aufgrund einer Autismus Spektrum Diagnose hat der Innerschweizer die letzten zwei obligatorischen Schuljahre an einer Sonderschule absolviert. «Mich zu konzentrieren, mein Lernen zu organisieren und dann auch wirklich umzusetzen, macht mir Mühe und schlussendlich einen ungemeinen Stress», reflektiert der Teenager. Ein Zustand, der weder im Alltag im Betrieb noch in der Berufsschule hilfreich ist. Und genau hier setzt Ivos Coaching an.
Die sogenannte «Studien- und Ausbildungsbegleitung» ist eine von der Invalidenversicherung (IV) finanzierte Berufsintegrationsmassnahmen. Wie Samara, ist die grosse Mehrheit der Jugendlichen an einer Sonderschule aufgrund von Leistungseinschränkungen bei der IV gemeldet und wird bei Bedarf entsprechend unterstützt. Ausbildungs-Coachings, ihre Dauer, Intensität, Gestaltung und Ausrichtung sind genau so vielfältig, wie die Jugendlichen und ihre Bedürfnisse. Im Zentrum kann die Vermittlung von Schulstoff, Arbeitsorganisation, fachspezifischer Unterstützung, zum Beispiel bei einer Sehbehinderung, aber auch der direkte Kontakt mit Vorgesetzen, Lehrpersonen, Eltern, Beistand und Behörden stehen.
Repräsentative Zahlen, wie oft und erfolgreich die Ausbildungscoachings der IV als Integrationsmassnahme genutzt werden, gibt es laut dem Bundesamt für Sozialversicherungen keine. «Der Stellenwert und die Akzeptanz eines Coachings, während dem Übergang von der Schule zum Beruf hat in den vergangenen Jahren jedoch stetig zugenommen», ist Claudia Hofmann, Wissenschaftlerin und Co-Leiterin der Fachstelle für Berufliche Inklusion (FABI) überzeugt. Es sei ein Modell mit grossem Potenzial, aber keine allgemeingültige Patentlösung, betont Sie im Interview. https://wuethrich.eu/de/2022/02/21/akzeptanz-den-umwegen/
Für den Lerncoach gilt es die richtige Mischung zwischen freundschaftlich und professionell, zwischen fordernd und beruhigend zu finden
«Vermittlung von Wissen und Sicherheit durch Lernorganisation und das Erarbeiten des Schulstoffes», bringt es Ivos Coach Bruno Jutz auf den Punkt. Auch das Umfeld – von Elternhaus, über Lehrbetrieb bis Berufsschule – sollen damit entlastet werden. Für den erfahrenen Pädagogen und Lerncoach gilt es bei seiner Arbeit die richtige Mischung zwischen freundschaftlich und professionell, zwischen fordernd und beruhigend zu finden. Oder wie es Jutz zusammenfasst: «Es gilt konstant den Mittelweg zwischen Machbarkeit und Bedürfnis anzuvisieren.»
Sich selbst zu fordern, ist sich Lehrling Ivo gewohnt – wenn auch in einem anderen Bereich. Es gibt keinen einzigen Pass in der Schweiz, den der passionierte Fahrradfahrer nicht schon überquert hat und an den er sich nicht in jeder Einzelheit erinnern kann. Höhe, Route, Datum, Zeit, Wetter. Eine der nächsten Touren soll über den San Bernardino führen – zusammen mit seinem Coach.
In den meisten Fällen beschränkt sich bei Jugendlichen die Begleitung durch einen Coach auf eine Schul- oder Ausbildungsphase. Oft sind Schulwechsel, der Abschluss eines Studiums oder einer Lehre die Endpunkte der Zusammenarbeit. In sehr seltenen Fällen wird aus der temporären Begleitung ein permanentes Arrangement. Ein Beispiel dafür ist Marcel Klauser. Beim heute 24-jährigen, der im realen Leben anders heisst, wurde schon in seiner Kindheit das Asperger-Syndrom diagnostiziert. Seit 15 Jahren wird er von einem Coach betreut.
«Ich kann weder Gesichter erkennen noch mich an sie erinnern. Emotionen, Humor oder Ironie verstehen und deuten, fällt mir schwer. Gespräche zu führen, ist für mich anstrengend», erzählt der Informatik-Student. Früher erkannte er manchmal nicht einmal seine Eltern. In der Schule eckte Marcel an; die fehlende Empathie macht ihn bei Lehrpersonen und Mitschüler unbeliebt und schlussendlich zum Problemschüler. In der 3. Klasse wechselt er an eine Sonderschule.
Die einzige Person, die beide Seiten versteht – «mich und die Anderen» – ist mein Coach.
«Für mich war dies ein Gewinn. Kleine Gruppen, individuelle Betreuung, verständnisvolle Lehrpersonen und die Chance zu lernen, wie ich mich gegenüber Klasse und Lehrperson verhalten sollte», erinnert sich Marcel. Knappe zwei Jahre später wechselt er wieder in eine Regelklasse. Dieses Mal sind Lehrpersonen und Schulgemeinschaft informiert. Zusätzlich wird der damals 9-Jährige durch einen Coach betreut. Dieser kümmert sich im Schulalltag um ruhige Lehrräume, die gerechte Beurteilung, schlichtet bei Konflikten, sucht den Kontakt zu Lehrpersonen und vermittelt bei Missverständnissen. Leistungstechnisch gehört Marcel immer zu den Klassenbesten. Schon in der Primarschule programmiert er für seine Mitschüler Lernprogramme. Zu kommunizieren, fällt dem Einzelgänger aber immer noch schwer.
Die einzige Person, die beide Seiten verstehe – «mich und die Anderen» – sei sein Coach. «Für mich ist sie Übersetzerin, Vermittlerin, Problemlöserin, Organisatorin und Vertraute in einem», bringt es Marcel Klauser auf den Punkt. Das Setting hat Erfolg. Marcel schafft ohne Probleme den Sprung ins Gymnasium, später ins Studium und in ein globales Forschungsprojekt. Ende 2022 schliesst er – spezialisiert auf Quantenkryptographie – sein Informatik-Studium ab. Auf Jobsuche wird er sich allein machen.
publiziert Februar 2022, Zeitschrift “Bildung Schweiz”