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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Die “Bleiben-Sie-Zuhause” Jugendlichen

Die “Bleiben-Sie-Zuhause” Jugendlichen

Immer mehr Kinder und Jugendliche bleiben der Schule fern. In den USA ist jedes vierte schulpflichtige Kind schulabstinent, in Grossbritannien ist es jedes fünfte. In der Schweiz fehlen verbindliche Zahlen. Doch der Trend ist klar: Schulabsentismus ist auf dem Vormarsch. Der Versuch einer Einordung.

“Bleiben Sie Zuhause” sind mehr als nur drei Worte. Es war während der Corona-Pandemie die unumgängliche Aufforderung auf den Alltag ausserhalb der eigenen vier Wände zu verzichten. Heute sind die meisten Lebensbereiche aus der auferlegten Isolation erwacht. Mit zwei Ausnahmen: Erwachsene, die nicht mehr ins Büro gehen. Und schulpflichtige Kinder, die nicht mehr in die Schule wollen oder können. Die Fachwelt spricht von Schulabsentismus. Damit werden unterschiedliche Erscheinungsformen von Schulbesuchsproblemen über einen längeren Zeitraum umschrieben. Da ist zum Beispiel die Sekundarschülerin, die über Monate systematisch dem Französischunterricht fernbleibt oder der Primarschüler, der sich wegen Schulangst während Tagen im Zimmer verschanzt. Mit gelegentlichem «Blau-machen» hat dies nichts gemeinsam. 

Die Resultate beruhen auf Selbsteinschätzungen der Jugendlichen. Objektiv und «methodisch sauber» erfasste Daten fehlen in der Schweiz.

Eine neue Erscheinung ist Schulabsentismus nicht. Margrit Stamm, Professorin für Erziehungswissenschaften, bezifferte die Absentismus-Rate in der Schweiz schon 2005 auf fünf Prozent. Diese Quote bedeutet im Schnitt ein schulabstinentes Kind pro Klasse. Schulabsentismus war auch Thema bei einer Gesundheitsbefragung von über 2000 Jugendlichen der 2. Sekundarklassen der Stadt Zürich vergangenes Jahr. Sieben Prozent der Mädchen und fünf Prozent der Knaben gaben an, mehrmals einen Tag nicht zur Schule gegangen zu sein, ohne krank gewesen zu sein. Fachpersonen schätzen, dass die realen Zahlen deutlich höher liegen. Die vorliegenden Resultate beruhen auf Selbsteinschätzungen der Jugendlichen. Objektiv und «methodisch sauber» erfasste Daten zu Schulabsentismus fehlen in der Schweiz.

Anders sieht die Faktenlage in den USA aus. Laut dem American Enterprise Institute galten im vergangenen Schuljahr landesweit 26 Prozent der SchülerInnen an öffentlichen Schulen als chronisch abwesend. Vor Corona lag die Zahl bei noch bei 15 Prozent. Als chronisch abwesend gilt, wer mindestens 10 Prozent des Schuljahres aus beliebigen Gründen verpasst. 

SchülerInnen: Verschnaufpause mit Konsequenzen
Schulabsentismus fassbar zu machen, ist komplex. Kinder, und Jugendliche, die der Schule chronisch fernbleiben, zeigen eine grosse Bandbreite an Symptomen: von Bauchschmerzen, Lustlosigkeit, Migräne, Schlafstörungen bis hin zu Angstzuständen und Depressionen. Auch die Liste der möglichen auslösenden Faktoren ist lang: Druck, Mobbing, Stress, Versagensängste, familiäre Probleme oder ein suboptimales Schul- und Lernsetting. «Schulabsentismus kann nicht isoliert betrachtet werden», sagt Jana Bryjova, Oberpsychologin am Ambulatorium für Schul- und Ausbildungsprobleme (ASAP) in Bern. Es sei immer eine Kombination an Umständen. «In vielen Fällen sind psychische Störungen einer dieser Faktoren», konkretisiert Bryjova. Schulabsentismus zieht sich durch alle Gesellschaftsschichten durch. Was schulabstinente Jugendliche und Kinder gemeinsam haben: Die Schulabsenz gibt ihnen kurzfristig eine “Verschnaufpause”. Langfristig gesehen, kumulieren sich die sozialen und schulischen Probleme. 

“Es ist wichtig, dass die Eltern und auch die Schule klar vermitteln, dass die Schulpräsenz verpflichtend ist. Schonhaltung und Vermeidungsstrategien bringen weder Eltern noch Kinder weiter.”

Das häufige Fehlen von KlassenkameradInnen kann sich auch negativ auf die Leistung und Anwesenheit der Schulklasse auswirken. Die Ungewissheit welche SchulkollegInnen zum Unterricht erscheinen oder nicht, kann zu zusätzlichen Absenzen führen. Der amerikanische Professor Michael A. Gottfried zeigt in seiner Forschung auf, dass wenn 10 Prozent der Klasse an einem bestimmten Tag abwesend waren, am Folgetag die Wahrscheinlichkeit zusätzlicher Absenzen zunimmt. 

Ambulatorium für Schul- und Ausbildungsprobleme (ASAP)
Das Ambulatorium für Schul- und Ausbildungsprobleme (ASAP) in Bern behandelt schulabsente Jugendliche und Kinder. Ein Coach und eine Psychologin betreuen die Betroffenen während etwa drei Monaten. Die Kombination aus psychotherapeutischer Behandlung und Praxisunterstützung soll den Wiedereinstieg in die Schule ermöglichen. Die Warteliste am ASAP verhält sich dynamisch. Schulabsentismus weist einen «saisonalen» Verlauf auf. Im Sommer ist die Nachfrage reduziert. Sobald die Schule losgeht und spätestens nach den Herbstferien gibt es einen Ansturm. Eine Studie betreffend Qualität und Erfolgsrate der Behandlung am ASAP ist in Planung.

Schulsystem: Effektive Reaktion ist schwierig
Das Schulsystem tut sich schwer mit einer schnellen Reaktion. Schülerinnen haben oft verschiedene Fachlehrpersonen. Die Übersicht zu behalten wer, wie oft, wann und wie lange aus welchen Gründen fehlt, ist nicht einfach. Die erhöhte Ausfall- und Fluktuationsrate von Lehrpersonen verschärft die Situation zusätzlich. Erschwert wird die Lage durch Eltern, welche die Schulabsenzen ihrer Kinder tolerieren und damit unterstützen. “Es ist wichtig, dass die Eltern und auch die Schule klar vermitteln, dass die Schulpräsenz verpflichtend ist,” bringt es Psychologin Jana Bryjova auf den Punkt. Schonhaltung und Vermeidungsstrategien bringen weder Eltern noch Kinder weiter. Eltern und Lehrpersonen entsprechend zu informieren, ist entscheidend. Die Kantonalen Bildungsdirektionen sind alarmiert. In verschiedenen Kantonen gibt es Informationsbroschüren. Sozialämter und Schulpsychologische Dienste sind sensibilisiert.

Für die amerikanische Psychologin und Professorin Katie Rosanbalm war Corona ein Brandbeschleuniger, was die Schulabsentismuszahlen anbelangt. Im Gespräch mit der New York Times vergangenen März betont sie. „Unsere Beziehung zur Schule ist optional geworden“. Selbstverständlichkeit ist seit Corona kein Argument mehr. Das “Selbst” und die “Verständlichkeit” stehen in einem neuen Kontext. Was früher eine logische Routine für die Allgemeinheit war – aufstehen, anziehen, in die Schule gehen – ist heute eine volatile Angelegenheit, die sich an der Tagesform des Individuums und dem Zustand seines Umfeldes orientiert. Während dem Fernunterricht fielen Absenzen kaum ins Gewicht. Warum soll ein Jugendlicher nicht auch heute ab und zu wie seine Eltern einen zusätzlichen Homeoffice-Tag einlegen? 

Schulabsentismus: Das «Neue Normal»? 
Die Zahlen aus den USA zeigen, dass sozio-ökonomische Faktoren eine Rolle spielen. Es gibt Jugendliche, die der Schule fernbleiben, weil sie auf ihre jüngeren Geschwister aufpassen müssen. Andere verpassen am Morgen den Bus – und bleiben Zuhause sitzen. Es fehlt schlichtweg die Möglichkeit in die Schule zugehen. Die Distanz ist zu gross und die Erwachsenen sind bei der Arbeit. In der Schweiz sind solche Szenarien kaum vorstellbar. Es scheint vielmehr, als schrecken Schulpflichtige und Arbeitstätige oft vor dem gleichen Szenario zurück: sich ausserhalb der eigenen vier Wände im Beisein anderer unter Druck zu fremdgesteuerter Arbeit zu überwinden. In der Erwachsenenwelt hat sich die hybride Arbeitskultur etabliert. Ort, Zeit und die Arbeitsweise sind zweitrangig, solange die Leistung stimmt. Wird dies auch im Schulsektor bald der Fall sein? Wird Schulabsentismus zum “neuen Normal”? 

„Unsere Beziehung zur Schule ist optional geworden.“

«Jugendliche wären motiviert Arbeitsbedingungen und Räume ausserhalb der Schule zu entdecken», sagt Psychologin Jana Bryjova. Laut dem heutigem Forschungsstand ist es jedoch der Entwicklung von Jugendlichen kaum förderlich, wenn sie sich der Schule und den damit verbundenen sozialen Herausforderungen entziehen. Für eine gesunde psychische Entwicklung braucht es Beziehungen und Auseinandersetzung. In der Vergangenheit war die Schule der designierte Raum dafür. Die “Bleiben-sie-Zuhause-Jugendlichen” stellen dies nun in Frage  – von zu Hause aus. 

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