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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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«Können Sie noch mit gutem Gewissen eine KV-Lehre empfehlen?»

«Können Sie noch mit gutem Gewissen eine KV-Lehre empfehlen?»

Die Hälfte aller Berufe wird es in ihrer jetzigen Form in 20 Jahren nicht mehr geben – und den grossen Teil der Zukunftsjobs kennen wir noch gar nicht. Ist die heutige Berufswahl eine Lotterie?

Wirft man einen Blick auf die Rangliste der beliebtesten Berufslehren der Schweizer Jugendlichen, beschleicht einen das gleiche mulmige Gefühl wie beim Anblick der roten Liste der bedrohten Tierarten: Ein grosser Teil der Aufgelisteten wird mit hoher Wahrscheinlichkeit den Sprung in die Zukunft nicht schaffen. Was für den wandernden Monarchfalter, den afrikanischen Waldelefanten und den atlantischen Nordkaper der Klimawandel ist, sind für viele Berufsgruppen die neuen Technologien. Wer sich heute um Patientendossiers oder Zahlbelege kümmert, wird durch einen Algorithmus ersetzt. Routinearbeiten werden automatisiert. Wo früher Assistenz gefragt war, übernehmen die Nachkommen von Alexa, Siri und Cortana. Digitalisierung und damit verbundene Dematerialisierung ersetzen komplette Produktionsprozesse und ganze Wertschöpfungsketten. 

«Unsere Aufgabe als Berufsberatende ist nicht ‹abraten›, sondern ‹beraten›.»

Laut der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) träumen knapp die Hälfte der 15-Jährigen von einem Beruf, der aufgrund der Automatisierung in vielen Bereichen schon bald wegfallen könnte. Doch die Schweizer Berufsberatenden empfehlen weiterhin Ausbildungen als Kaufmännische Angestellte, Detailhandelsangestellte oder Medizinische Praxisassistentinnen- und assistenten. Warum? 

«Unsere Aufgabe als Berufsberatende ist nicht ‹abraten›, sondern ‹beraten›», sagt Berufs- und Laufbahnberater Michael Messerli, Stellenleiter der Berufs-, Studien- und Laufbahnberatung St. Gallen. «Wir sind als öffentliche kantonale Stelle neutral und unabhängig. Wir haben den klaren Auftrag, individuelle Möglichkeiten aufzuzeigen. Dabei steht keine Berufsgruppe im Zentrum oder im Abseits. Im Mittelpunkt stehen immer der Mensch und seine Bedürfnisse», ergänzt er. Doch ist es mit Blick in die Zukunft, die geprägt sein wird durch ein erhöhtes Tempo und von neuen Technologien, noch möglich mit gutem Gewissen zum Beispiel eine KV-Lehre zu empfehlen? 

Ein emotionaler Prozess
«Mit Sicherheit. Berufe verschwinden nicht plötzlich. Sie verändern sich und adaptieren sich an neue Bedingungen. Wer heute eine Lehre macht – egal in welchem Bereich – hat für die Zukunft eine gute Grundlage», ist der Berufsexperte überzeugt. Globale Trends und mögliche digitale Zukunftsszenarien stehen bei der ersten Berufswahl nicht im Vordergrund, zieht Michael Messerli nach 14-jähriger Tätigkeit als Berufs- und Lauf bahnberater Bilanz. «Die Vorstellung, dass alle 15-Jährigen aus über 200 Berufslehren die passende Ausbildung finden sollten – und zwar reibungslos, schnell und mit allen möglichen Automatisierungsrisiken im Hinterkopf –, entspricht nicht der Realität», klärt er auf. Für die Mehrheit der Jugendlichen kommt maximal eine Hand voll Berufslehren infrage. Dies geschieht aufgrund ihrer Fähigkeiten und Interessen, kombiniert mit ihrem Umfeld und ihren Bedürfnissen. Die Berufswahl ist weder eine Lotterie noch ein Wunschkonzert. «Was zählt, sind das direkte Umfeld und die persönlichen Beziehungen. Fühle ich mich im Betrieb wohl? Werde ich unterstützt? Kann ich mich entfalten und habe Freude an der Arbeit?», konkretisiert Messerli. Sich für eine Lehre zu entscheiden sei ein Prozess und vor allem eines: eine emotionale Sache. 

«Kompetenzen veralten schnell, neue werden gefordert. Erfolg hat, wer lebenslang neugierig und lernfähig bleibt.» 

Ob sich jemand nun für eine Lehre zum Drogisten oder für eine Ausbildung zur Maurerin begeistert, spiele keine grosse Rolle, sagt Messerli. Entscheidend sei die Offenheit für Veränderungen. «Eine Lehre ist ein Anfang. Lebenslanges Lernen folgt danach. Kompetenzen veralten schnell, neue werden gefordert. Schlussendlich hat Erfolg, wer lebenslang neugierig und lernfähig bleibt.» 

Häufigere Stellenwechsel
Wer durch seine Berufslehre Resilienz, Vertrauen und Selbstwirksamkeit gewinnt und lernt, sich schnelleren Veränderungen anzupassen, ist für die digitalisierte Welt gut gewappnet. Denn weiterentwickelt werden konstant auch die Berufslehren. Eine reformierte KV-Lehre startet im Sommer 2023. Neu gehören Handlungskompetenzen wie «Interagieren in einem vernetzten Arbeitsumfeld» oder «Einsetzen von Technologien der digitalen Arbeitswelt» zu den Ausbildungsinhalten. Die Fähigkeit und der Wille einer Gesellschaft, effektiv auf zukünftige Entwicklungen zu reagieren, machen mit Blick auf die «roten Listen» schlussendlich den grossen Unterschied. 

Weder Lotterie, noch Wunschkonzert – sondern eine emotionale Entscheidung.

In Zukunft werden wir nicht nur öfter unsere Arbeitsstellen wechseln, sondern auch durch das Erwerben zusätzlicher Fähigkeiten in neuen Fachgebieten arbeiten. «Sich zu adaptieren ist eine Kompetenz, die lernbar ist», versichert Messerli. «Es wird aber auch Menschen geben, die aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage dazu sind. Hier Lösungen zu finden, wird zu den gesellschaftlichen Herausforderungen der Zukunft gehören.» 

«Alle wollen die besten Talente. Mir fehlt der Fokus auf die Jugendlichen selbst: Warum bilden wir als Gesellschaft Jugendliche aus?»

Angst vor der beruflichen Zukunft, weil womöglich ein Roboter die eigene Arbeitsstelle übernimmt, haben die Jugendlichen selten, stellt Messerli bei den persönlichen Gesprächen fest. Den 14- und 15-Jährigen fehle dafür oft noch das Bewusstsein. Schaut man in die Vergangenheit, würde Angst vor Arbeitslosigkeit oder Jobmangel keinen Sinn machen. Eindrücklich aufgezeigt hat dies eine Deloitte- Studie (Deloitte 2015), welche die ersten Wellen der Digitalisierung am Beispiel von Grossbritannien analysiert hat. Zwischen 1992 und 2014 verlor jede zweite Sekretärin und jede zweite Schreibkraft in England ihre Arbeit, was mehr als 110 000 Jobs entsprach. Die Globalisierung führte zusätzlich dazu, dass bei metallverarbeitenden Berufen und in der Textilbranche zwischen 70 und 80 Prozent der Stellen verloren gingen. Trotzdem stieg die Gesamtbeschäftigung um fast einen Viertel an. Verantwortlich dafür waren Stellen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Beratung. Dass die zukünftige technologische Entwicklung auch heute Vorteile bringt, davon ist Zukunftsforscher Georges T. Roos überzeugt. «Die Erfahrung mit den bisherigen industriellen Revolutionen zeigt, dass es nach einer gewissen Zeit jedes Mal mehr qualifizierte Arbeitsplätze gab.» (Siehe Interview) 

Berufs- und Laufbahnberater Michael Messerli wünscht sich in Zukunft vor allem ein Umdenken. «Aktuell liegt der Fokus stark auf den Bedürfnissen der Branchen, Betriebe sowie Mittel- und Hochschulen. Alle wollen die besten Talente. Mir fehlt der Fokus auf die Jugendlichen selbst: Warum bilden wir als Gesellschaft Jugendliche aus? Was ist das Ziel, wenn wir junge Menschen in die Arbeitswelt integrieren? Es geht schluss- endlich nicht um wirtschaftliche Megatrends, sondern um die individuelle Entwicklung», hält Michael Messerli fest. Den Jugendlichen empfiehlt er, sich Zeit zu nehmen bei der Berufswahl, aktiv zu bleiben und Erfahrungen zu sammeln. «Wer aktiv und neugierig ist und bleibt, wird seinen Weg machen.» Davon können der wandernde Monarchfalter, der afrikanische Waldelefant und der atlantische Nordkaper nur träumen.


Weiter im Netz 
Deloitte-Studie zum Arbeitsmarkt 2035: https://bit.ly/3ETzhQT 
Studie zum zukünftigen Arbeitsplatz Schweiz (McKinsey): https://mck.co/3gckshS
Neue KV-Lehre:
www.kfmv.ch > Über uns > News & Medienmitteilungen > Weg frei für die neue KV-Lehre 


publiziert November 2022, Zeitschrift “Bildung Schweiz”

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