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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Kleine Schritte aus der grossen Stille

Kleine Schritte aus der grossen Stille


Wer 140 km Anfahrtsweg zu einer einzigen Therapiesitzung in Kauf nimmt, muss verzweifelt sein. Es sind Väter und Mütter mit ihrem Kind, das über alle Kompetenzen verfügt, um zu reden – und trotzdem schweigt. Ein Gespräch mit Psychologin Franziska Florineth über selektiven Mutismus und den langen Weg aus der Sprachlosigkeit.

Selektiver Mutismus. Was ist mit dem Fachbegriff gemeint?
«Selektiver Mutismus» ist offiziell als Angststörung kategorisiert. Viele ExpertInnen sehen die Störung jedoch eher als eine massive Stressreaktion des autonomen Nervensystems. Betroffene Kinder verfügen über die Fähigkeit sich verbal auszudrücken und reden in ihrem vertrauten Umfeld. Im Kindergarten, in der Schule oder im Hort verstummen sie. Ein einheitliches Krankheitsbild gibt es nicht. Einige Kinder sprechen nur innerhalb ihrer Kernfamilie. Andere sprechen nur mit einzelnen Freunden und gewissen Verwandten. Das Verstummen steht meistens im Bildungskontext. Es gibt Kinder, die schweigen, sobald sie das Schulhaus oder das Klassenzimmer betreten. Andere verstummen nur in Anwesenheit einer bestimmten Lehrkraft. Selektiver Mutismus wirkt sich in einigen Fällen nicht nur auf das Sprechen aus. Die Muskeln können sich derart verspannen, dass die Betroffenen nicht mehr auf etwas zeigen, gehen oder laufen können.»

«Mit der Person rede ich nicht!» Das tönt nach einer kleinkindlichen Trotzreaktion. Wann ist Schweigen eine ernstzunehmende Störung?
«Kinder möchten sich mitteilen und reden im Normalfall gerne. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis. Aus Trotz, Wut oder Unsicherheit verstummen sie vielleicht für ein paar Minuten oder Stunden. Ein schüchternes Kind schweigt anfänglich, «erwärmt» sich, taut langsam auf, das Eis bricht und Kommunikation findet statt. Ein Kind mit selektivem Mutismus bleibt sprachlich und motorisch bewegungslos: blockiert und wie eingefroren. Es schweigt in bestimmten Settings während Monaten oder Jahren.»

Die Ursache für das Verstummen von Kindern ist nicht bekannt. Was sind Faktoren, welche selektiven Mutismus begünstigen?
«Mädchen sind öfter betroffen als Jungen. Zwischen 35 bis 50 Prozent der Kinder, die an selektivem Mutismus leiden, haben zusätzlich eine Sprachstörung. Sie fühlen sich in ihrer Sprache unsicher, haben Angst Fehler zu machen und schämen sich dafür. Überdurchschnittlich viele mutistische Kinder, verfügen über einen Migrationshintergrund. Für sie ist nicht nur die neue Sprache ein Unsicherheitsfaktor, sondern auch der Verlust ihrer gewohnten Umgebung und Gesprächskultur. Neben genetischen, psychologischen und sprachlichen Einflüssen können auch das persönliche Temperament, die familiäre Disposition, wie zum Beispiel Angststörungen und Depressionen, eine Rolle spielen.»

“Sprachlich bewegungslos”: Schweigendes Kind (Foto / Wüthrich)

0,7 bis 2 Prozent aller Kinder sind von selektivem Mutismus betroffen. Das bedeutet, dass in jedem grösseren Schulhaus eine Handvoll Kinder stumm im Klassenzimmer sitzt. Die Dunkelziffer liegt laut ExpertInnen um einiges höher. An was liegt das?
«
Selektiver Mutismus ist in kaum einem pädagogischen Studium ein Thema. Auch in den psychologischen und medizinischen Ausbildungen wird es nur rudimentär behandelt. Zusätzlich stellen stumme Kinder in grossen und lauten Klassen für die Lehrperson kein Problem dar. Sie stören nicht. Konstantes Schweigen, wird als Introversion oder Zurückgezogenheit gedeutet. Dass es sich um eine ernstzunehmende Krankheit handelt, wird oft nicht oder erst spät erkannt. Für Fachpersonen in Kindergärten, Schulen und Kindertagesstätten gibt es seit kurzem Screening Leitfäden, um selektiven Mutismus früh zu erkennen.»

Sie arbeiten mit schweigenden Kindern, für die ein scheues Nicken, schon als Erfolg gilt. Wie bringt man einen mutistisches Kind wieder zum Reden?
«Es ist eine Politik der kleinen, gemeinsamen Schritte. Jeder ist mit dem Kind und dem Umfeld abgesprochen. Lehrpersonen, TherapeutInnen, Eltern, Geschwister, Freunde und Klassenkameradinnen sind involviert. Für mich als Therapeutin ist es zentral, dass das Kind es schafft das Gefühl der enormen Unsicherheit zu überwinden.

«Es wird in kleinen Schritten Vertrauen und Mut aufgebaut – so lange, bis das Kind sich genügend gestärkt fühlt, um die Lehrerin direkt anzusprechen.»

Wenn möglich findet der erste Kontakt zu Hause im persönlichen «safe place» des Kindes statt. Danach wird in kleinen Schritten Vertrauen und Mut aufgebaut. Der Lehrerin werden zum Beispiel Sprachnachrichten geschickt. Zuerst nur ein Wort, danach ein kurzer Satz, bis hin zur kompletten Nachricht. Geübt wird so lange, bis das Kind sich genügend gestärkt fühlt, um die Lehrerin direkt anzusprechen.»

“Wie eingefroren”: Schweigendes Kind (Foto / Wüthrich)

Wie können Aussenstehende mutistische Kinder unterstützen?
«Wer das Schweigen als Verweigern versteht, reagiert automatisch verärgert. Es gilt dem Kind Zeit zu geben und Verständnis entgegenzubringen: Dranzubleiben, ermutigen, Zuversicht auszustrahlen, damit der nächste kleine Schritt gelingt. Oft haben die mutistischen Kinder Angst vor einer übermässigen Reaktion der Aussenstehende, wenn sie auf einmal zu reden beginnen. Die Erfahrung zeigt, dass ein grosses Tamtam kontraproduktiv ist und die Kinder wieder verstummen lassen kann. Das heisst: Keine grosse Sache, um das Schweigen machen. Nicht aufgeben und mit dem Kind weiterreden.»

Sie haben in den vergangenen 25 Jahren mehr als 100 Kinder und Jugendliche mit einer selektiven Mutismus Diagnose therapiert. Kein Fall war gleich. Aber gibt es Ähnlichkeiten und Parallelen?
«Je früher selektiver Mutismus entdeckt wird, desto einfacher ist es sie zu therapieren. Jahrelanges Schweigen wirkt sich negativ auf Bildungs- und Entwicklungsverläufe der Betroffenen aus. Auch ihre sozialen Interaktionen und Kontakte sind beschränkt und durch die Sprachlosigkeit geprägt. Zusätzlich braucht Entwicklung Zeit. Bei selektivem Mutismus sind es manchmal Jahre, bis die Störung überwunden ist.»

Es gibt Familien, die 140 km anreisen, um ihr Kind bei Ihnen in Therapie zu schicken. Sind Mutismus-Fachpersonen so selten?
«Eine Mutismus-Fachperson zu finden, ist nicht einfach. In Deutschland gibt es Ausbildungslehrgänge. Die meisten Expertinnen, sind PsychologInnen oder LogopädInnen, die sich ihr Wissen durch Weiterbildungen und jahrelange Arbeit mit mutistischen Kindern angeeignet haben. Seit einigen Jahren haben sich Fachpersonen in der Schweiz auf einer Plattform vernetzt und sind somit einfacher auffindbar.»

“Blockiert”: Schweigendes Kind (Foto / Wüthrich)

Eine kurze Version des Interviews ist in der Zeitschrift “Bildung Schweiz” (05/2023) erschienen https://www.bildungschweiz.ch

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