«Sag doch was!»
Wenn ein Kind am Unterricht kaum teilnimmt, bei Gruppenarbeiten stumm dasitzt und sich freiwillig nicht zu Wort meldet, fühlen sich Eltern und Lehrer oft machtlos. Fachleute wissen Rat.
Im Kindergarten spielt Marc am liebsten allein. In der Schule bevorzugt er es, allein zu arbeiten. Grosse Gruppen mag er nicht. In der Klasse reicht ihm ein guter Freund. Zu Hause zieht er sich lesend in sein Zimmer zurück. Allein. Der Kinderarzt beruhigt die besorgten Eltern. Marc sei ein gesundes Kind, höre und sehe bestens und entwickle sich seinem Alter entsprechend.
Marc und seine Geschichte stehen symbolisch für introvertierte Kinder und ihre Herausforderungen im Schulalltag. Introvertierte Menschen gelten als zurückhaltend, schätzen Ruhe, sind gerne allein oder in kleinen Gruppen und schöpfen daraus Energie. Ihr Fokus richtet sich nach innen. Im Gegensatz dazu orientieren sich extrovertierte Personen mehr gegen aussen. Sie schöpfen Kraft durch den Austausch und Kontakt mit einer Gruppe und werden als präsent und aktiv wahrgenommen. Introvertierte erscheinen daneben ruhig und zurückgezogen.
«Schüchternheit tut grundsätzlich weh, Introvertiertheit nicht»
Geburtstagspartys und Spielnachmittage mit Gleichaltrigen sind für Marc eine lästige Pflicht. In der Schule gilt er als unproblematischer, ruhiger Schüler. Seine guten Noten wären noch besser, wenn er endlich mehr am Unterricht teilnehmen würde, betont die Lehrerin. Die Forderungen seiner Spielkameraden, der Eltern und der Lehrperson sind die Gleichen: «Mach doch mit! Komm mal aus dir raus! Und sag endlich mal was!»
«Introvertiert» wird darum oft mit «schüchtern» gleichgesetzt. Für Susan Cain, Autorin des Buches «Die Kraft der Introvertierten», ist dies ein grosser Irrtum. «Schüchternheit tut grundsätzlich weh, Introvertiertheit nicht», schreibt Cain. Hinter Schüchternheit stecke oft die soziale Angst, abgelehnt zu werden. Schüchternheit ist demnach eine erlernte Verhaltensweise, die sich je nach Alter und Kontext verändert. Introversion hingegen ist nach innen gerichtete Aufmerksamkeit. Eine Veranlagung, die nicht von Angst geprägt ist, sondern vom Bedürfnis nach Ruhe.
Altes Phänomen, neue Erkenntnisse
Schätzungen zufolge bewegt sich ein Drittel der Menschen im introvertierten Spektrum. Diese Personen werden auch Intros genannt. Ein weiterer Drittel – die Extros – verhält sich eher extrovertiert. Dazwischen liegen die Ambi. Mit ambivertiert sind Personen gemeint, die im gleichen Masse introvertierte und extrovertierte Wesenszüge zeigen. Intro, Extro oder Ambi zu sein, ist weder eine Phase noch eine Diagnose, sondern eine Veranlagung. Eine Tendenz, wie sich Menschen im Umgang mit anderen Menschen verhalten. Jeder Intro hat seine Extro-Seiten und umgekehrt. Je nach Kultur und Kontext werden sie unterschiedlich gewertet und ausgelebt. In Japan wird Introversion als eine Gabe angesehen, in den USA eher als Handicap.
Es gibt oft nur eine Schule zur Auswahl und die orientiert sich an Extrovertierten.
«Introversion und Extraversion sind keine neuen Phänomene», sagt Susanne Schild. Sie betreibt den Blog Introwert und schreibt für verschiedene Publikationen über Introversion. Schild verweist auf den Schweizer Psychiater Carl Gustav Jung, der schon 1921 die Verhaltensweisen von nach innen oder nach aussen gekehrten Menschen beschrieb. Was im Hirn dabei vorgeht, zeigen aktuelle neurologische Erkenntnisse. Bei introvertierten und extrovertierten Menschen werden verschiedene Hirnregionen stärker durchblutet, was zu unterschiedlichen Verhaltensweisen führt.
Kinder haben keine Wahl
Neu sei auch das Bewusstsein und die wachsende Präsenz der Thematik, ergänzt Schild. Verantwortlich dafür seien vor allem Soziale Medien. Es entspricht introvertierten Menschen, sich zu Hause in aller Ruhe vor dem Bildschirm eine Meinung zu bilden, dann überlegt das Wort zu ergreifen und sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. «Erwachsene haben das Privileg, ihr soziales und berufliches Umfeld passend zu ihren Bedürfnissen auswählen zu können», sagt Schild. Introvertierte Erwachsene, die Smalltalk und Menschenansammlungen meiden, arbeiten kaum als Verkäuferinnen oder Verkäufer im Grossverteiler und sie verbringen ihre Freizeit nicht an Megapartys. Introvertierten Kindern hingegen fehlt diese bedürfnisorientierte Selbstbestimmung. Es gibt oft nur eine Schule zur Auswahl und die orientiert sich an Extrovertierten.

«Kinder haben keine Wahl. Sie müssen ins vorhandene System hineinpassen», betont Schild. Grosse Klassen, Gruppentische und ein entsprechender Lärmpegel sind in der öffentlichen Schule Alltag. Gefordert werden Teamarbeit, Vorträge und die aktive Partizipation im Unterricht. Selbstbewusstes Auftreten wird mit Kompetenz gleichgesetzt. Wer etwas weiss, sagt es. Wer schweigt, weiss wohl nichts. «Unser Bildungssystem und die Gesellschaft bevorzugen extrovertierte Verhaltensweisen. Aufmerksamkeit und Anerkennung bekommt, wer sich hör- und sichtbar macht», fasst Schild zusammen.
Einfache Empfehlungen
Über Introversion Bescheid zu wissen, verändert den Umgang von Lehrpersonen mit introvertierten Schulkindern entscheidend. Die Empfehlungen von Fachpersonen an Lehrpersonen sind klar und einfach: Aufmerksamkeit schenken, auch wenn die nicht laut und explizit eingefordert wird. Wertschätzung zeigen für die introvertierten Seiten eines Kindes und den Fokus auf seine Stärken richten: Empathie, Beobachtungsgabe, Ausdauer und Konzentration. Das Bewusstsein haben, wie ein introvertiertes Kind tickt und dafür Verständnis aufbringen.
Introvertierte Kinder wie Marc überlegen still und lange und zögern dann, ihre Antworten in grossen Gruppen zu teilen. Im performanceorientierten Setting der Schule wirken sie verloren und weniger kompetent als extrovertierte Lernende. Es sei jedoch wichtig, introvertierte Kinder nicht als scheu oder teilnahmslos abzustempeln, sondern ihnen Raum zu geben, sagt Schild und führt aus: «Extrovertierte und introvertierte Lernende sind gleichwertige Gruppen, die voneinander profitieren und lernen.»
Druck und Zwang verunsichern. In extremen Fällen kann sich eine Angststörung entwickeln. Eine Form davon ist der selektive Mutismus.
«Das heisst nicht, dass introvertierte Lernende keine Vorträge halten müssen, weil es für sie vielleicht unangenehm ist. Introversion ist keine Ausrede oder Entschuldigung», macht Susanne Schild klar. Introvertierte Kinder blühen genauso auf wie ihre extrovertierten Mitschülerinnen und Mitschüler, wenn sie ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen und über ihre Leidenschaft reden – auch wenn sie es nach aussen weniger zeigen.

Kontraproduktiv sind hingegen Kommentare wie «Sag doch mal was!» und «Meld dich endlich mehr im Unterricht». Druck und Zwang verunsichern. In extremen Fällen kann sich eine Angststörung entwickeln. Eine Form davon ist der selektive Mutismus. Dabei verweigern Kinder die verbale Kommunikation.
Qualitäten für die Chefetage
Introversion wurde lange als ein Defizit angesehen – auch im Hinblick auf die berufliche Karriere. «Früher waren Führungspersönlichkeiten mehrheitlich mitreissende, laute Individuen», sagt Schild. Das habe sich jedoch geändert. «Heute sind es vermehrt auch ruhigere Persönlichkeiten. Nicht immer geht es darum, den Ton anzugeben, sondern auch darum, zuzuhören und anderen Raum zu geben.» Introvertierte Menschen bringen diese Voraussetzungen mit. Für Marc und seine introvertierten Klassenkameradinnen und Klassenkameraden ist die Berufswelt noch weit entfernt. Auf dem Stundenplan stehen auch diese Woche Teamsport, Gruppenarbeit und Klassenrat.
publiziert Mai 2023 in “Bildung Schweiz” (05/2023)