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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Spielen mit Zeug

Spielen mit Zeug

Kleinkinder, die während drei Monate in einen Kindergarten ohne Spielsachen gehen: Eine pädagogische Schnapsidee oder ein wirkungsvolles Projekt der Suchtprävention?

Die zwei Puppen aus der Spielecke sind dieses Jahr für knapp zwölf Wochen in den Schwarzwald verreist. Sie sind warm angezogen für den Fall, dass es schneit. Der komplette Bauernhof macht Urlaub in den USA und die Bauklötze erholen sich gemeinsam in England. Sorgfältig in Schachteln, Truhen und Koffern verpackt, sind sie nun bereit für die wohlverdienten langen Ferien – und die Kindergartenkinder für den «spielzeugfreien Kindergarten», wie es im Fachjargon heisst. Das Projekt umfasst einen Zeitraum von drei Monaten, während dessen sich keine Spielsachen im Kindergarten befinden beziehungsweise diese in die Ferien geschickt werden. 

Während die alte Holzkuh am Strand in den USA liegt und der gelbe Bauklotz den Big Ben in London bestaunt, bleibt den Kindern viel Zeit und Raum zum Spielen. Die Frage ist nur: womit? 


«Am ersten Tag des spielzeugfreien Kindergartens entscheiden die Kinder selbst, wohin die Sachen verreisen», erklärt Christina Halada. Seit 20 Jahren führt die Kindergartenlehrerin in Kaiseraugst regelmässig das Projekt «Spielzeugfreier Kindergarten» durch, dieses Jahr zum zehnten Mal. Die Kinder entscheiden in demokratischen Abstimmungen, wohin die Spielsachen verreisen. Dann bilden sie Pack- und Umzugsequipen, welche die Schachteln fein säuberlich in einem Regal verstauen oder in einem Nebenraum des Kindergartenzimmers deponieren. Für die Spielsachen endet hier die Reise. Für die Kinder beginnt hier das Abenteuer. Denn während in der kindlichen Fantasie die alte Holzkuh am Strand in den USA liegt und der gelbe Bauklotz den Big Ben in London bestaunt, bleibt den Kindern viel Zeit und Raum zum Spielen. Die Frage ist nur: womit? 

«Die Kinder dürfen das im Kindergarten vorhandene Mobiliar zum Spielen benützen: Tische, Stühle, Regale, aber auch Kissen, Schachteln, Tücher und Seile», erklärt Halada. Auch der Garten mit seinen Pflanzen und Bäumen, den Steinen und dem Sand kann als Spielsetting genutzt werden. Die Fünf- und Sechsjährigen entscheiden selbst, womit, was, wo, wann, wie lange und mit wem sie spielen möchten. Die Zeit für den Znüni und die Pausen teilen sich die Kinder selbst ein. 

Strand, Berge oder in die Stadt? Spielsachen auf dem Wegen die Ferien (Photo: Halada)


Fix ist nur die goldene Regel: «Ich trage Sorge zu mir, zu den anderen Kindern und zum Material, sodass niemand durch mich und mein Spiel zu Schaden kommt.» Der Rest ist Freiheit und Fantasie. Die Tische werden zu imaginären Bärenhöhlen oder Baumhäusern, die Stühle zum Schnellzug oder zur Riesenschlange. Der komplette Kindergarten wird zum Zoo, zur Arztpraxis, zum Supermarkt oder zum Kino umfunktioniert. Im Hintergrund immer dabei ist Kindergartenlehrerin Halada. 

Der langen Weile Raum geben 
Durch das Wegbleiben der Spielsachen und der gewohnten Kindergartenstruktur findet nicht nur bei den Kindern ein Umdenken statt, sondern auch bei den Lehrerinnen und Lehrern. «Wir sind uns als Fachpersonen gewohnt, konstant Inputs zu geben, Lektionen zu führen und zu gestalten sowie Lernwege vorzuzeigen und zu kontrollieren. All dies fällt weg», umschreibt Fachfrau Halada ihre Erfahrungen, die sie in Kursen an interessierte Lehrpersonen weitergibt. AufmerksamesWarten, Zulassen und Beobachten rückt an die Stelle des gewohnten pädagogischen Aktivismus.

Da ist zum Beispiel das Mädchen, das einen ganzen Morgen lang im Zimmer herumtigert, auf der Suche nach einer Beschäftigung, einer Idee, einem Spiel. Im gewohnten Kindergartenalltag verkroch sie sich die meiste Zeit in der Malecke und musste sich nichts Neuem oder Ungewohntem stellen. Nun gibt es weder Malecke noch Stifte und Papier. Die Sechsjährige hat ihre Komfortzone verloren und muss sich neu orientieren. Schlussendlich baut sie sich ein Haus aus Seilen – und ist ungemein stolz auf ihr Werk.

«Diesem Suchen, dieser langen Weile Raum geben und dem Kind ermöglichen, die eigene Lösung zu finden, egal, wie lange es dauert, all dies fordert von der Lehrperson ein grosses Umdenken», erklärt Halada. Wenn es gelingt, profitieren beide Seiten davon. Die Kinder gewinnen an Selbstständigkeit, viele werden mutiger. Halada sieht vor allem in der Sprachentwicklung grosse Fortschritte: Miteinander spielen, aber auch Konflikte lösen, sei ohne Kommunikation nicht möglich. 

Kindergartenlehrerin Halada hat die Einsicht gewonnen, dass sie häufig zu früh und zu oft eingreift, dass Loslassen und Zulassen wertvolle Handlungsoptionen sind. Ein gutes Beispiel dafür ist der blaue Stuhl, der bei Streit und Unstimmigkeiten eingesetzt wird. Wenn Anna andere Kinder schlägt, Paul nirgends mitspielen darf oder es zu laut für Frau Halada ist, setzt sich die oder der Betroffene auf den blauen Stuhl und ruft eine Helferkonferenz ein. Das Problem wird geschildert, die Gemeinschaft ist zum Zuhören verpflichtet und sucht dann gemeinsam nach Lösungen. «Die ersten Konferenzen habe ich moderiert. Später übernehmen die Kinder diese Aufgabe und lösen ihre Probleme selbstständig», berichtet die Lehrerin. 

Den Plagegeist an den Stuhl fesseln
In einem Konfliktfall beschlossen die Kinder einstimmig, einen Plagegeist kurzerhand an einen Stuhl zu fesseln. Wo liegen die Grenzen beim selbstbestimmten, «grenzenlosen» Spiel? «Eine zentrale Regel ist: Stopp bedeutet Stopp. Zusätzlich bin ich als Lehrerin immer vor Ort und wäge ab, ob eine Situation ein Kind gefährdet», konkretisiert Halada. Der Junge wurde an den Stuhl gefesselt, spielte aber kurze Zeit später wieder friedlich mit. 

Ein Schnellzug, eine Hundehütte oder vielleicht Löwenkäfig? (Photo: Halada)


Ein Blick auf die Kindergartenlandschaft Schweiz zeigt, dass spielzeugfreie Kindergarten keine nationale Alltäglichkeit sind. 1992 in Süddeutschland als Suchtpräventionsprojekt entwickelt und durchgeführt, übernehmen fast zehn Jahre später einzelne Schweizer Kindergärten die Projektidee. 2001 integriert die Suchtprävention Aargau den spielzeugfreien Kindergarten in ihr Programm und entwickelt sich über die Jahre zu einer der Referenzadressen im deutschsprachigen Raum. Arbeitsmaterialien, ein passendes Bilderbuch, Ausbildungskurse für interessierte Fachpersonen und entsprechendes Coaching in der praktischen Umsetzung werden von der Suchtprävention Aargau angeboten. 

Was hat ein fünfjähriger Knirps, der im Kindergarten aus Mangel an Spielzeug aus einer alten Kartonschachtel eine Rakete baut und Ausserirdische jagt, mit Suchtprävention zu tun?

Weitere Kantone wie Luzern, Zürich oder Solothurn nehmen den spielzeugfreien Kindergarten in ihre Suchtpräventionsprogramme auf und begleiten die Umsetzung in der Praxis. «Wir bekommen Anfragen aus anderen Kantonen, aber auch aus dem Ausland, sei es aus Deutschland, Brasilien oder der Türkei», weiss Susanne Wasserfallen, Mitarbeiterin der Suchtprävention Aargau und seit 2017 Leiterin des Projekts «Spielzeugfreier Kindergarten». Durch die Corona-Einschränkungen werden Kurse nun auch online angeboten, so zum Beispiel für 150 Erziehende aus der Türkei.

Lernen – auch ausserhalb der Komfortzone
Doch was hat ein fünfjähriger Knirps, der im Kindergarten aus Mangel an Spielzeug aus einer alten Kartonschachtel eine Rakete baut und Ausserirdische jagt, mit Suchtprävention zu tun? «Das Projekt soll Lebenskompetenzen stärken», hält Susanne Wasserfallen fest. «Das bedeutet, Strategien zu finden, um Probleme zu lösen, mit anderen zu kommunizieren, kritisch zu sein, Verantwortung zu übernehmen, aber auch zu wissen, wo Hilfe erhältlich ist.» 

Nicht auf vertraute Spielsachen zurückgreifen zu können, bringt viele Kinder in eine Situation ausserhalb ihrer Komfortzone. Womit spiele ich nun und wie finde ich eine neue Spielidee? Mit wem möchte ich spielen und wie kann ich das erfolgreich kommunizieren? «Sich solchen Herausforderungen ohne fremde Hilfe zu stellen und sie schliesslich aus eigener Kraft zu meistern, gibt Selbstvertrauen und stärkt ein Kind», beobachtet Wasserfallen. 

«Wer als Teenager Strategien kennt, um Konflikte zu lösen und Probleme aktiv anzugehen, hat weniger Grund, gewalttätig zu werden, und greift vielleicht seltener zu Alkohol oder Drogen.» 

Menschen, die Unsicherheit, Frustration und Langeweile ertragen können und daraus etwas Positives erarbeiten, entwickeln Resilienz. Dies macht vielleicht auch später im Leben einen entscheidenden Unterschied, sagt Wasserfallen. «Wer als Teenager Strategien kennt, um Konflikte zu lösen und Probleme aktiv anzugehen, hat weniger Grund, gewalttätig zu werden, und greift vielleicht seltener zu Alkohol oder Drogen.» 

Geschwätz oder gar Kindsmissbrauch? 
Dennoch fehlt die wissenschaftliche Evidenz, was ein spielzeugfreier Kindergarten wirklich bewirkt. Studien zum Thema gibt es keine. Von viel «geschwollenem Geschwätz» und einer «antikapitalistischen Stossrichtung» berichtete die «Weltwoche» im März 2016. Das deutsche Nachrichtenmagazin «Focus» schrieb über den spielzeugfreien Kindergarten als eine neue Heilslehre, «als eine Art Schutzimpfung gegen Drogen-, Zigaretten- und Alkoholsucht». Dabei sei diese Idee nur eines: «eine Form von Kindesmisshandlung». 

Für Susanne Wasserfallen und Christina Halada ist klar, dass es immer kritische Stimmen geben wird und gewisse Eltern und Fachleute spielzeugfreie Kindergärten als doof und sinnlos anschauen. «Die Erfahrung hat gezeigt, dass die frühe und detaillierte Information der Eltern Kritik und Vorurteile entkräftet», halten die beiden Expertinnen fest. So gibt es Informationsabende vor und während des Projekts «Spielzeugfreier Kindergarten». Zusätzlich werden die Eltern zu Besuchstagen eingeladen, um sich ein eigenes Bild und eine eigene Meinung zu machen. Danach seien gemäss Wasserfallen und Halada in den meisten Fällen Bedenken und Zweifel beseitigt.

Viele Eltern beobachten, dass ihr Kind durch das Projekt gelernt hat, seine Meinung zu vertreten, und dies nun auch zu Hause tut. Oft beginnen die Kinder auch, in ihren eigenen vier Wänden auf Spielsachen zu verzichten, und nutzen lieber das Sofa in der Stube als Drachenhöhle oder den Esstisch als Surfbrett. Der spielzeugfreie Kindergarten fordert damit nicht nur Kinder und Lehrpersonen heraus, sondern auch die Eltern. 

Wenn der Urlaub länger dauert 
Aus der Spielzeug-Thematik weder ein Drama noch ein Problem zu machen, dafür plädiert der deutsche Pädagoge und Erziehungswissenschaftler Volker Mehringer in einem Interview mit der «Süddeutschen Zeitung» vom Dezember 2021. Er empfiehlt Erwachsenen, die kindliche Perspektive einzunehmen, an die eigene Kindheit zu denken und die Vielfalt der Spielwelt zuzulassen. Schliesslich ist alles nur Zeug zum Spielen, ob industriell vorgefertigt oder mit der eigenen Fantasie produziert. Die Kindergartenkinder in Kaiseraugst werden nach ihren Frühlingsferien die Spielsachen aus dem «Urlaub» zurückholen. Je nach Klasse werden den Bauklötzen, Puppen und Kühen sogar noch ein paar zusätzliche Ferientage oder gar -wochen in England, den USA oder dem Schwarzwald gegönnt. 

publiziert März 2022, Zeitschrift “Bildung Schweiz” (03/2022)

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