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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Duschen als Schulfach

Duschen als Schulfach

Was entsteht, wenn in Kambodscha die Schweizer NGO «Smiling Gecko», die Pädagogische Hochschule Zürich und die ETH Zürich zusammenspannen? Eine Schule, die Schule machen sollte.

Pheara sitzt mucksmäuschenstill auf einem kleinen Hocker zwischen seinen Spielkameradinnen und -kameraden im blitzblanken Klassenzimmer und hört seiner Lehrerin aufmerksam zu. Seine schwarzen kurzen Haare sind frisch gekämmt, die Schuluniform kommt direkt aus der Wäscherei. Auf das aufgeschürfte Knie hat die Lehrerin kurz vorher ein farbiges Pflaster geklebt, den Kleinen getröstet und liebevoll die Mundwinkel mit den letzten Porridge-Resten vom Frühstück abgewischt. Pheara ist vier Jahre alt und bekommt genau das, wovon die mehr als 16 Millionen Menschen in Kambodscha – ein Drittel davon sind Kinder und Jugendliche – täglich träumen: Bildung, Nahrung, medizinische Versorgung – und damit wohl auch eine bessere Zukunft. 

Miserable Bedingungen für den Unterricht 
Kinder wie Pheara, die auf dem Land in Kambodscha aufwachsen, besuchen im Idealfall die nächste Dorfschule – wenn überhaupt. Denn Schulen und ausgebildete Lehrpersonen gibt es landesweit zu wenige. Der Unterricht findet in heruntergekommenen Verschlägen statt, ohne Licht, frische Luft, fliessendes Wasser oder Schulausrüstung. Die Klassen sind gross: 60 Kinder oder mehr sitzen gleichzeitig in einem Raum auf Holzbänken oder dem Lehmboden. Eine Gruppe besucht den Unterricht am Morgen, eine weitere am Nachmittag. Herrscht akuter Lehrermangel, wird der Schultag zwischen drei unterschiedlichen Gruppen aufgeteilt. 

«Die Schule haben wir gegründet, damit sie bleibt und Generationen überdauert. Das bringt wirtschaftlich und sozial eine grosse Verantwortung mit sich.» 

Lerninhalte und Präsenzzeit werden damit verschwindend klein. Pheara und sein Dorf Srae Sar, rund anderthalb Autostunden entfernt von der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh, stehen symbolisch für den Alltag der Landbevölkerung. Und trotzdem ist hier vieles anders als im Rest des Landes. 

Seit 2015 entsteht ausserhalb des Dorfes auf 120 Hektaren ein Entwicklungsprojekt der Extraklasse. Neben den Schulgebäuden gibt es Landwirtschaftsbetriebe, ein Hotel mit Pool, Sportplätze, ein Restaurant, eine Hühnerfarm, eine Fisch- und Schweinezucht, eine Schreinerei, eine Grossküche mit eigener Bäckerei und Metzgerei. Hinter dem Projekt steht die Schweizer NGO «Smiling Gecko» des international erfolgreichen Fotografen Hannes Schmid. Der 73-jährige Schweizer hat sich mit der Gründung von Smiling Gecko und dem Projekt in Kambodscha als Unternehmer ein hohes Ziel gesteckt: langfristige soziale und wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten für die heimische Bevölkerung zu schaffen. Das Herzstück dabei ist nicht nur geografisch, sondern auch inhaltlich und symbolisch die Schule.

«Die heutigen Vorschulkinder sollen in 20 Jahren die jungen Erwachsenen sein, die ihr eigenes Leben, das Leben ihrer Familie und die Anliegen der Gesellschaft mittragen und gestalten», fasst Schmid zusammen. Selbst Vater von zwei fast erwachsenen Kindern und in ärmsten Verhältnissen im Toggenburg aufgewachsen, war Bildung für Schmid nie eine Selbstverständlichkeit. Später schaffte der gelernte Elektriker den internationalen Durchbruch als Fotograf. Heute steht der begnadete Netzwerker und Ehrendoktor der Universität Zürich rund um die Uhr für sein Projekt im Einsatz. «Die Schule haben wir gegründet, damit sie bleibt und Generationen überdauert. Das bringt wirtschaftlich und sozial eine grosse Verantwortung mit sich», ist sich Schmid bewusst. Um ein Schulkonzept zu entwickeln, das pädagogisch und architektonisch Bestand hat, vertraute er auf die Expertise der Pädagogischen Hochschule Zürich (PHZH) und der ETH Zürich.

Wert hat, wofür man Geld bekommt, was man essen oder verkaufen kann. Bildung gehört grundsätzlich nicht dazu. 

Schule als ganzheitliches System 
«Eine Schule muss zu den Menschen, ihrer Kultur und ihren täglichen Herausforderungen passen, sonst ist das Projekt zum Scheitern verurteilt», erklärt Iris Henseler Stierlin, Dozentin und Projektverantwortliche in der Abteilung Internationale Bildungsentwicklung der PHZH. Die von Henseler durchgeführten Umfeldanalysen zeichneten ein klares Bild: Die Familien im Dorf sind arm und kinderreich, die Arbeit in der Textilfabrik ist lebensbestimmend. Der Zugang zu sanitären Anlagen, sauberem Wasser und medizinischer Versorgung ist nicht gegeben, die Ernährung mangelhaft. Häusliche Gewalt und Alkoholismus sind häufig. Die Kinder sind sich selbst überlassen. Schule ist Glückssache. Die Muttersprache der Menschen ist Khmer, aber ein beträchtlicher Teil der Eltern ist ihrer nicht mächtig. Das bedeutet, sie können sich weder differenziert ausdrücken noch lesen oder schreiben. Englisch spricht niemand. Wert hat, wofür man Geld bekommt, was man essen oder verkaufen kann. Bildung gehört grundsätzlich nicht dazu. 

«Unsere Aufgabe war es, eine Fachexpertise abzugeben und eine Schulstruktur zu entwickeln, in der all diese Gegebenheiten berücksichtigt werden», umschreibt Henseler ihre Arbeit. Die Steuerung und die Umsetzung blieben immer Sache des Teams vor Ort. Den gleichen Denkansatz teilt auch Architekt und Professor Dirk Hebel. «Am Anfang war es weder ein Architektur- noch ein Schulprojekt, sondern Hannes Schmids Idee eines kompletten ‹ökonomischen Systems›. Die Architektur dient dabei nur als Mittel zum Zweck, als Instrument – und das faszinierte mich», erinnert er sich. Hebel, der zu diesem Zeitpunkt an der ETH Zürich unterrichtete und sich auf nachhaltiges Bauen spezialisiert hat, machte das Projekt zum Thema eines Entwurfsstudios. Zusammen mit 34 Studierenden stellte er sich die Schlüsselfragen: Wie können wir nicht nur für die Menschen, sondern auch mit ihnen bauen? Wie stärken und widerspiegeln wir dadurch den sozialen und kulturellen Zusammenhalt? Und wie schaffen wir es, mit dem Land und nicht gegen das Land zu bauen beziehungsweise den klimatischen Bedingungen gerecht zu werden? Und in welchen Aspekten kann sich das pädagogische Konzept im Schulhaus widerspiegeln? «Zusätzlich zu diesen Überlegungen war uns bewusst, dass die Bauweise nachvollziehbar und so einfach wie möglich sein sollte, damit wir nur lokale Ressourcen nutzen – einheimische Materialien, Handwerker und Baufachleute», ergänzt Hebel. Mit dem Bau wurde ein lokaler Architekt beauftragt, der in engem Kontakt mit Hebel und den Studierenden stand. Die Schulleitung übernahm ein einheimischer Pädagoge, begleitet von Henseler und ihrem Team. Im November 2017, nach nur drei Monaten Bauzeit, startete der Schulbetrieb mit 130 Kindern. 

Grosse Pläne mit kleinen Kindern 
Heute zählt die Schule 306 Kinder von der Vorschule bis zur dritten Klasse. Jedes Jahr soll der Schulbetrieb um eine Klasse aufgestockt werden, bis das Angebot die ersten zwölf Schuljahre umfasst. 2018 übernahm mit Barbara Beaufait eine international erfahrene Pädagogin die Schulleitung. Die Handschrift des Grundkonzepts der PHZH ist immer noch sichtbar. Die Schule ist eine Tagesschule und fängt schon um 6.15 Uhr an, ausgerichtet auf die Arbeitszeiten in der Fabrik. Da die Kinder zu Hause weder duschen, frühstücken noch eine Möglichkeit haben, Hausaufgaben zu machen, startet der Schulalltag mit einer Dusche, frischen Kleidern und einem ausgewogenen Frühstück. Hausaufgaben gibt es keine. Die dreckigen Kleider werden bis zum Schulschluss gewaschen, getrocknet und vor dem Nachhausegehen wieder angezogen. Ist ein Kind krank oder verletzt, wird ein Arzt konsultiert. Beaufait agiert nicht nur als Schulleiterin und Vorgesetzte der Lehrpersonen, sondern auch als Sozialarbeiterin und Psychologin. «Eine entscheidende Grundvoraussetzung ist es, die Eltern vom Wert der Bildung zu überzeugen. Die Kinder in der Fabrik arbeiten zu lassen, erscheint oft lohnender, als sie in die Schule zu schicken», erklärt sie. Nicht nur die Kinder, sondern auch die Eltern sollen ausgebildet werden. Im Notfall geht Beaufait höchstpersönlich bei den Eltern zu Hause vorbei. «In Fällen von häuslicher Gewalt gibt es keine Toleranz und das mache ich den Eltern mit meinem Erscheinen klar», betont die Schulleiterin. Meistens hat sie damit Erfolg; in Extremfällen schaltet sie die Polizei ein. 

«Unser Ziel ist es, den Kindern beizubringen, wie sie lernen, wie sie Lösungen finden und erfolgreich anwenden können. Dabei werden sie ihre Talente und Stärken entdecken. Der Rest wird sich ergeben.» 

Die Kinder werden in Englisch und Khmer unterrichtet. Die Zweisprachigkeit verschafft den Schülerinnen und Schülern im Arbeitsmarkt riesige Vorteile. Mit dem Beherrschen der lokalen Sprache bleiben sie verwurzelt und verstehen ihre Kultur und Herkunft besser. «Unser Ziel ist es, den Kindern beizubringen, wie sie lernen, wie sie Lösungen finden und erfolgreich anwenden können», betont Beaufait. «Dabei werden sie ihre Talente und Stärken entdecken. Der Rest wird sich ergeben.» 

Pheara und seine Klassenkameraden sind Teil der Vorschule. Neue Kinder werden nur noch in dieser Altersgruppe aufgenommen. «In diesem Alter adaptieren sich die Kinder ungemein schnell und lernen eine Zweitsprache auf spielerische Weise», argumentiert Beaufait. Wenn eine Schülerin oder ein Schüler erst mit neun Jahren und ohne grosse Schulerfahrung aufgenommen werde, habe er keine Chance, dem Unterricht zu folgen. Kinder, die willentlich den Unterricht schwänzen, unmotiviert herumsitzen oder sich gar verweigern, sucht man an dieser Schule vergebens. Englischlehrerin Anne hat an verschiedenen internationalen Schulen in Kambodscha unterrichtet. «Kinder, welche die Schule als lästige Pflicht ansehen und den Unterricht als Störung ihrer Privatsphäre wahrnehmen, waren dort an der Tagesordnung. Die Kinder hier sind präsent, unglaublich wissbegierig, begeisterungsfähig und dankbar», umschreibt die gebürtige Filipina ihre Erfahrungen. 

Architektur und Bildung im Einklang
Dass sich Schüler- und Lehrerschaft so wohl fühlen, hat auch mit der Architektur des Schulhauses zu tun. Jeweils zwei Zimmer mit einem gemeinsamen Ruhe- oder Gruppenraum sind in einem Gebäude untergebracht. Die Räume sind hoch und die Fenster so gross, dass auch ohne Klimaanlage die Luft konstant zirkuliert. Das Temperaturempfinden bleibt damit auch bei tropischer Hitze überraschend angenehm. Dirk Hebel und sein Team haben die Räume bewusst grosszügig und offen gestaltet – genau so, wie der Unterricht sein soll. Das gestaltende und bestimmende Element sollen die Kinder sein. Es gibt Platz sowohl für individualisiertes Arbeiten als auch für Gruppenaktivitäten. Die kleinen Nischen an den Aussenwänden bieten Rückzugsmöglichkeiten, aber auch Begegnungsraum. Die Stufen zu den nach aussen identisch wirkenden Bauten wurden alle unterschiedlich gestaltet, damit auch die Kleinsten «ihr» Schulgebäude wiedererkennen. 

«Lokale Handwerker betreuen die Bauten und kümmern sich um die komplette Wartung. Damit rückt auch in diesem Aspekt wieder das Massgebende ins Zentrum: der Mensch.» 

Um dem tropischen Klima und den sintflutartigen Regenfällen gerecht zu werden, entschied sich das Architektenteam, mit dem Aushubmaterial eines Sees die Schulgebäude leicht höherzulegen und diese «Inseln» mit Brücken zu verbinden. Das Regenwasser wird dadurch nicht gestaut, sondern fliesst direkt in den See, in dem heute eine Fischzucht betrieben wird. Als Baumaterialien dienten lokaler Bambus, Holz aus der Region und in der Gegend fabrizierte Ziegelsteine. Die projekteigene Schreinerei fertigte die Holzstrukturen der Gebäude an. Die Menge an verwendetem Holz und Bambus wurde nachgepflanzt. Doch die Nachhaltigkeit endet nicht beim Material: Das Projekt ist auch sozial nachhaltig. Hebel erklärt: «Smiling Gecko bildete lokale Handwerker aus, welche die Bauten betreuen und sich um die komplette Wartung kümmern. Damit rückt auch in diesem Aspekt wieder das Massgebende ins Zentrum: der Mensch.» 

Es ist nur der Anfang 
Vollendet ist das «Smiling Gecko Village School Project» mit den vorhandenen Schulbauten noch lange nicht. Gründer Schmid plant weitere Schulhäuser, ein Internat und eine Universität. Architekt Hebel, der alle sechs Monate persönlich vor Ort ist, spricht von offenen Räumen, vom Lernen mit und in der Natur. Schulleiterin Beaufait kümmert sich darum, dass die Schule internationalen Standards entspricht. Für Dozentin Henseler Stierlin und die PHZH wäre eine institutionelle Kooperation in der Lehrerinnen- und Lehrerausbildung anzugehen. Und für Vorschüler Pheara? Der träumt davon, gross und stark zu werden und endlich lesen und schreiben zu können – aber richtig. 

Weiter im Netz
www.smilinggecko.ch 



publiziert Februar 2020, Zeitschrift “Bildung Schweiz” (02/2020)

Comments

  • Tanja Homeister
    REPLY

    Toller Artikel Christa – ein einfacher aber tiefer Einblick in das Leben der Kinder/Menschen dort.
    Wie schön, dass sich Menschen wie Herr Hebel dort engagieren.

    LG Tanja

    March 1, 2020

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