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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Lio und seine Familie: Der lange Kampf aus der lebenslangen Isolation

Lio und seine Familie: Der lange Kampf aus der lebenslangen Isolation

Zu früh, per Kaiserschnitt und ohne zu atmen: Lios Start ins Leben war alles andere als rosig. Die Diagnose «Autismus mit einer mittelschweren geistigen und körperlichen Behinderung» gab der kleinen Familie den Rest. Sie zog sich komplett aus dem sozialen Leben zurück. Heute ist klar: Der Rückzug hat sich gelohnt. Lio geht es besser den je

Was Eltern, Freunden, Familie, Nachbarn und potenziellen Spielkameraden von Lios zwei ersten Lebensjahren in Erinnerung blieb? Sein konstantes Weinen. «Er stoppte nur selten – zum Essen oder Schlafen. Den Rest des Tages brüllte er durch», erinnert sich Mutter Melanie. Die ersten Versuche sich anderen Müttern mit Kindern anzunähern, scheiterten kläglich. Ob Krabbelgruppe oder Spielnachmittag mit gleichaltrigen Babys: Lio hörte nicht auf zu schreien und machte die Situation für alle Beteiligten unerträglich.

«Uns war zu diesem Zeitpunkt klar, dass unser Sohn ein sehr spezielles Kind ist», sagt Mutter Melanie. Die Komplikationen bei der Geburt, die Monate auf der Neonatologie, sein grosser Kopf, die flache Nase und die weitauseinanderstehenden Augen liessen auf gewisse Defizite schliessen. Mit acht Monaten wurde eine Muskelschwäche diagnostiziert.
16 Monate später folgte dann die für die Eltern niederschmetternde Diagnose: starke Autismus-Spektrum-Störung in Kombination mit einer mittelschweren geistigen und körperlichen Behinderung. Zusätzlich entdeckten die Ärzte zwei Zysten im Kleinhirn von Lio, die unter anderem auf den Gleichgewichtsnerv drücken. «Für unsere Umwelt – seien es Nachbarn oder Freunde – waren wir bis dahin einfach «die, mit dem Schreibaby». Ein temporärer Zustand, der sich wohl bald ändern würde. Die Diagnose änderte alles. Mit der «permanenten Behinderung» unseres Sohnes wendete sich auch unser Umfeld von uns ab», umschreibt Mama Melanie ihre damalige Erfahrung. 

«Ob Aufstehen, Essen, Spielen, Schlafen oder zur Therapie fahren: alles hatte seine Zeit und seinen Rhythmus.»

Die damals 32-Jährige fühlte sich komplett alleingelassen und unverstanden. Ihr Ehemann Peter reagierte auf die Situation mit Rückzug. Von den Kinderärzten fühlte sie sich nicht ernstgenommen. Melanie wechselte die Kinderärzte mehrmals und entschied sich selbst zur Expertin für ihr Kind zu werden. Die ausgebildete Drogistin begann sich mit jeglichen Autismus-Therapien auseinanderzusetzen, eignete sich ein fundiertes Wissen an und wagte einen radikalen Schritt. «Ich begann den Alltag mit Lio total durchzustrukturieren: Jegliche Aktivität hatte ihren festen Platz. Ob Aufstehen, Essen, Spielen, Schlafen oder zur Therapie fahren: alles hatte seine Zeit und seinen Rhythmus», umschreibt Melanie die komplette Ritualisierung ihres Alltages. Die einzigen Sozialkontakte zur Aussenwelt waren dabei Melanies Mutter Elsbeth und die behandelnden Therapeutinnen und Ärzte. Den Rest der Zeit verbrachte Melanie total zurückgezogen mit ihrem Sohn zuhause, konzentriert auf seine Bedürfnisse.

Mit «an Bord» war nun auch Vater und Partner Peter. Er realisierte, dass wir ihn brauchten und er nur Teil von unserer Familie bleiben würde, wenn er mich und Lio unterstützen würde, erinnert sich Mutter Melanie. Dass sie mit ihrer eigenen, isolationsbasierten Therapie gegen den Strom schwimmt, ist Melanie von Anfang an klar. Beirren lässt sie sich davon nicht – und ihre Strategie scheint aufzugehen: Nach Monaten der Isolation und Ritualisierung schenkt Lio seiner Mutter einen ersten Blickkontakt. Zögerlich lernt er anhand von Gebärden zu kommunizieren. Nach einem Jahr, geprägt durch die Selbstisolation, beginnt sich die Familie Schritt für Schritt wieder langsam nach aussen zu öffnen. 

Der Ausweg? Die Flucht nach Innen. 
«Für mich persönlich war dieser selbstbestimmte Rückzug, die einzige Möglichkeit meinem Kind gerecht zu werden und selbst nicht an der Situation zu Grunde zu gehen», sagt Mutter Melanie heute. Mit grossen zusätzlichen Verlusten sei dieser rigorose Schritt nicht verbunden gewesen. Denn die Isolation habe schon mit Lios Geburt im Juni 2011 und seinem mehrmonatigen Aufenthalt in der Neonatologie begonnen, stellt die heute 42-Jährige rückblickend fest. Die Energie der Eltern reichte damals kaum für sich selbst und ihren neugeborenen Sohn. An soziale Aktivitäten war nicht zu denken. Und dabei blieb es. Lios konstantes Weinen und die Diagnosen der Ärzte stürzen die Familie in ein grosses schwarzes Loch. Die ehemalige Arbeitsstelle in einer Exportfirma, der Kontakt zu Freunden oder Nachbarn, Ausflüge oder Reisen: all dies rückte in unerreichbare Ferne. Der Ausweg? Die Flucht nach Innen. Die Konzentration auf sich selbst und ihren Sohn, brachte bei Mutter Melanie viel in Bewegung. «Durch die Therapien mit Lio wurde mir klar, dass auch ich vom Asperger-Syndrom betroffen bin. Diese Erkenntnis half mir nicht nur mich selbst und mein Verhalten besser zu verstehen, sondern auch Lio in seiner Welt näher zu sein», erklärt Melanie ihre Erfahrungen. 

«Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weiterlaufen. Liegenbleiben ist keine Option».

Ein Kind mit einer mehrfachen Behinderung alleine und meist isoliert betreuen und dabei feststellen, dass man selbst Autistin ist: Woher nahm Melanie die Kraft, um solche Belastungen zu tragen? «Mein Fels in der Brandung war und ist meine Mutter Elsbeth. Sie hat uns immer bedingungslos unterstützt», stellt Melanie klar. Auf psychologische Hilfe, einen Coach oder geistlichen Beistand verzichtet Melanie bis heute. Glauben tut sie weder an Schicksal noch an Gott, sondern nur an sich selbst und ihre Familie. Ihr Leben sei eine reine Willensleistung, stellt sie klar und bringt es auf den Punkt: «Hinfallen, aufstehen, Krone richten, weiterlaufen. Liegenbleiben ist keine Option». Was dabei nie vergessen werden dürfe, sei liebevoll zu sich selbst zu sein, betont Melanie. Und sei es nur sich im Alltag die Zeit zu nehmen, tief durchzuatmen oder am Abend bewusst wahrzunehmen, wie gut es sich anfühlt im Bett zu liegen. 

Lio kam mit einem zu grossen Kopf (Makrozephalie), weit auseinander stehenden Augen und einer flachen Nase (Sattelnase) zur Welt. Die Ärzte diagnostizierten eine Muskelschwäche und eine starke Autismus-Spektrum- Störung. Zwei Zysten im Hirn führen zu Gleichgewichtsproblemen und Gefühlsstörungen in den Extremitäten.

Als Lio vier Jahre alt ist, zieht die Familie um. Das neue Zuhause steht in einem kleinen ländlichen Dorf in der Agglomeration von Zürich. Die 856 Einwohnerinnen und Einwohner lernen die kleine Familie schnell kennen und schätzen. Die Familie wohnt direkt im Gemeindehaus. Melanie ermöglicht dies, wieder zu arbeiten. Sie kümmert sich um die Mieter des Gemeindesaales im Untergeschoss des Gebäudes. Lio besucht einen Heilpädagogischen Kindergarten in der Region, kann vollständig mit Gebärden kommunizieren und spricht mit sechs Jahren sein erstes Wort. 

«Wir fühlen uns hier im Dorf wohl», bringt es Melanie auf den Punkt. Jeder kennt jeden. Zur kompletten Integration fehlt jedoch das «aktive Teilnehmen und Haben». Da Lio weder den lokalen Kindergarten noch einen Turnverein besuchen kann, sind er und seine Familie immer noch «Aussenseiter». Sie seien zwar im Dorf präsent, aber noch nicht «eingebettet». Lange werde dies wohl nicht mehr dauern, ist Melanie überzeugt. Denn seit dem 17. Mai 2018 ist die Familie zu viert. Lios kleiner Bruder Bent kam ohne Komplikationen gesund zur Welt. Er wird im Dorf aufwachsen und somit für die gesamte Familie eine Brückenbauer sein. Corona und die damit einhergehenden Massnahmen haben diese Annäherung bis jetzt verzögert, aber auch die eigene Isolation in ein anderes Licht gerückt. «Denn wer ist heute nicht sozial isoliert?», fragt Melanie schulterzuckend. Für einmal erscheint die Familie mit ihrer zurückgezogenen Lebensweise ganz normal. 

Das Netz und die Sprache als Ausweg aus der Isolation
«Ich bin in meiner Rolle als Mutter von Lio und seinem kleinen Bruder Bent angekommen», macht Melanie klar. Dazu gehört auch das Akzeptieren, dass der Alltag mit einem behinderten Kind nicht ins unkomplizierte «Lebensbild» von jüngeren, oft ahnungslos anmutenden Müttern passt. «Ich zähle auf wenige, gute Freundschaften in meiner unmittelbaren Umgebung. Meine restlichen sozialen Kontakte kommen vor allem übers Netz zustande. Mich mit Familien auszutauschen, die in einer ähnlichen Situation wie wir stecken, ist ungemein wertvoll. Sich nicht dauernd erklären zu müssen, hilft ungemein», gesteht die zweifache Mutter ein. 

Das erste Mal seit langem schleicht sich in das von schweren Herausforderungen dominierte Leben der Familie eine Prise Leichtigkeit. Ob und wie lange sie anhält, weiss niemand. Die zwei Zysten in Lios Kleinhirn sind immer noch da. Inoperabel heisst es bis jetzt.

Auch für Lio hat sich in den vergangenen Monaten das Leben entscheidend verändert. Der 10-Jährige hat grosse Fortschritte gemacht und ist fähig verbal zu kommunizieren. Er spricht fliessend Hochdeutsch. Früher brauchte Lio seine Mutter Melanie, um jede seiner Gebärden für Aussenstehende zu übersetzen und seine Anliegen oder Bedürfnisse begreifbar zu machen. Dank der Sprache steht er nun im direkten Kontakt und Austausch mit seiner Umgebung. Lio hat damit nicht nur seine komplette Selbstisolation überwunden, sondern auch die behandelnden Fachpersonen überrascht. Er gilt nun als lernbehindert ohne jegliche Intelligenzminderung. Seit August besucht er die dritte Klasse einer Tagesschule für Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten und Lernschwierigkeiten. Eine Klassenassistenz hilft ihm dabei den Schulalltag zu meistern. Der Drittklässler ist ein herzlicher, noch sehr scheuer Junge, der von all seinen Klassenkameradinnen und -kameraden geschätzt wird. Schritt für Schritt lernt er nun durch Sprache sich anzunähern und zu agieren. 

Wovon Lio träumt? Besser Englisch zu lernen und einen richtigen Freund zu haben, der ihn versteht und den er zum Spielen nach Hause einladen kann. Mutter Melanie teilt diesen Traum und träumt für sich noch ein wenig weiter: «Die Ärzte hätten es nie für möglich gehalten, dass Lio irgendwann redet oder in grossen Bereichen selbständig seinen Alltag meistern kann. Wir wissen nun was möglich ist», sagt Melanie. Das erste Mal seit langem schleicht sich in das von schweren Herausforderungen dominierte Leben der Familie eine Prise Leichtigkeit. Ob und wie lange sie anhält, weiss niemand. Die zwei Zysten in Lios Kleinhirn sind immer noch da. Inoperabel heisst es bis jetzt. Doch Dinge können sich ändern. Lio und Melanie glauben fest daran. 

publiziert Oktober 2021, KMSK-Wissensbuch

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