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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Der andere Klassenkampf

Der andere Klassenkampf

Eignen sich Ringen und Raufen als pädagogisches Instrument im Schulunterricht? Besuch bei einer Klasse,die begeistert kämpft.

Der Platz vor der Wandtafel direkt neben dem Lehrerpult, dort, wo sonst die Kinder friedlich im Morgenkreis sitzen, ist leer. Auf dem Boden ist mit weissem Klebeband ein Feld eingezeichnet. Die Schülertische sind auf die Seite geschoben und bilden rund um die Fläche in der Mitte eine Abgrenzung, eine Art Tribüne. Zwei Kinder bewegen sich nun langsam in die Mitte des Feldes, verbeugen sich voreinander, schauen sich in die Augen und sagen gegenseitig zueinander: «Ich kämpfe mit dir und ich achte dich.» Es herrscht dabei totale Ruhe. Dann zählt die zweite Klasse gemeinsam auf drei – und der Kampf beginnt. Ein Kind amtet als Reporter und kommentiert den Kampf – fair und objektiv. Der Rest der Klasse sieht fasziniert zu und fiebert mit.

Einfache und klare Regeln
Stossen oder ziehen? Kraft oder List? Sich ducken oder gerade stehen? Agieren oder abwarten? Schnell entscheiden oder innehalten? Nach wenigen Sekunden ist die erste Runde vorbei. Der körperlich kleinere Kämpfer hat sein grösseres Gegenüber flugs mit einem Trick aus dem Kampffeld gestossen. Wer zweimal verliert, verlässt den Ring und macht Platz für den nächsten Herausforderer. Kampfpflicht besteht keine. Doch fast alle Kinder können es kaum erwarten, bis sie an der Reihe sind. Oft kämpfen auch Jungen gegen Mädchen. Die Regeln sind einfach und klar: Erlaubt ist alles, was nicht weh tut. Und «Stopp» heisst «Stopp», und zwar sofort. «Dass Kinder sich unfair verhalten, die Regeln missachten oder dem Gegner absichtlich schaden, kommt nicht vor», sagt Marion Wagner. Die Pädagogin unterrichtet seit mehr als 20 Jahren auf der Primarschulstufe. Seit zehn Jahren gehört das Kämpfen im Schulzimmer zu ihrem Unterricht – genauso wie Deutsch, Mathematik oder Zeichnen.

 

Zum Ringen und Raufen während der Schulstunde ist Wagner durch Zufall gestossen. «Vor Jahren war ich mit einer Klasse konfrontiert, in der viele Jungs sehr aggressiv waren. Schlägereien auf und neben dem Pausenplatz waren an der Tagesordnung. Am Elternabend adressierte ich dieses Problem und gestand, dass ich mit meinem Latein am Ende sei», erinnert sich die Lehrerin. Eine Mutter empfahl ein Buch zum Thema Kämpfen im Klassenzimmer. Wagner war davon so angetan, dass sie Ringen und Raufen kurzerhand in ihren Unterricht einführte. Die Situation in der Klasse beruhigte sich. Die Aggressivität wurde durch das kontrollierte, begleitete Kämpfen in andere Bahnen geleitet und damit entschärft. Kinder, Eltern, aber auch die Lehrerin waren begeistert. Wagner blieb dem Kampf als pädagogischem Hilfsmittel bis heute treu.

«Es geht um Spass und um eine gute Strategie»
Rat und Inputs findet Marion Wagner immer noch in der empfohlenen Literatur von damals: «Wo rohe Kräfte sinnvoll walten. Handbuch zum Ringen, Rangeln und Raufen in Pädagogik und Therapie» von Wolfgang Beudels und Wolfgang Anders. Es ist ein klarer Leitfaden zur Anwendung verschiedener Kampfformen im Unterricht. «Wir sehen oft, wie Kinder, aber auch Erwachsene eine unbändige Freude am Balgen und Raufen zeigen. Es werden dabei verschiedene Urbedürfnisse befriedigt: das Verlangen nach Nähe, Berührung, Halten, Gehaltenwerden sowie die Lust zu jagen, zu fangen, loszulassen und wie eine Katze mit der Maus zu spielen», beschreiben die beiden Autoren ihre Erkenntnisse in der Bucheinleitung. Der Bewegungsbereich «Ringen, Rangeln und Raufen» soll berührungsfreundlich und sanft sein. Zwar ist ein Kampf in erster Linie eine sachlich objektive Begegnung, geprägt durch Kampfgriffe, Techniken und Strategien, Körperlichkeit und Kraft. Doch Beudels und Anders zeigen auf, dass kämpfen nicht nur auf diese Ebene reduziert werden kann. Kampf ist ein Erlebnis, eine Begegnung. Nähe, Respekt und vor allem Emotionen sind dabei zentral: ein Miteinander, Gegen­ einander, aber auch Füreinander. Und genau diese Ebene schafft eine wichtige und entscheidende Auseinandersetzung mit dem Gegenüber – eine körperliche und geistige Herausforderung.

«Meine Erfahrungen zeigen, dass Bewegung mit Sozialkompetenz kombiniert für alle Kinder sehr förderlich ist.»

«Es gewinnt nur selten der Stärkere, sondern meistens der Schlauere», sind sich die Kinder der 2. Klasse im Zürcher Schulhaus Am Wasser einig. Die aktuelle Klasse von Marion Wagner kämpft, wie es eine Schülerin auf den Punkt bringt, «fürs Leben gerne». Die Gründe für die Begeisterung sind vielseitig. «Manchmal bin ich mega hibbelig. Durch das Kämpfen kann ich all meine Energie rauslassen und nachher wieder ruhig arbeiten», umschreibt die achtjährige Lilly ihre Erfahrung. Klassenkamerad Nik pflichtet ihr bei und meint beiläufig: «Beim Kämpfen im Schulzimmer geht es nicht darum, sich in die Fresse zu schlagen. Es geht nicht um Streit. Es geht um Spass und um eine gute Strategie, schlauer zu sein als das Gegenüber.»

 

Wer die kämpfenden Kinder beobachtet, ist davon beeindruckt, mit welcher Selbstverständlichkeit sie verlieren. Keine Tränen, kein Drama, sondern meistens eine Umarmung oder ein Schulterklopfen für den Gegner. «Beim Kämpfen im Unterricht heisst verlieren nicht schwach sein, sondern noch nicht die richtige Strategie gefunden zu haben. Beim nächsten Mal muss man den Gegner anders zu überlisten versuchen. Das ist cool», betont Schülerin Stella.

Die Bewegungslust kontrolliert ausleben
«Ringen, Rangeln und Raufen» im Schulzimmer bezieht sich auf diverse Kampfsportarten. Verschiedene Bewegungs- und Kampfelemente bilden ein Bewegungsfeld, das sich für Schulkinder eignet: triebhaft, spielerisch, lustbetont, archaisch, animalisch-menschlich und gleichzeitig übend und kräfteentwickelnd. Handelt es sich beim Ganzen also nur um ein freundschaftliches Rumgebalge? Ringen-Rangel-Experten Beudels und Anders verneinen. «Den Sinn des Ringens sehen wir darin, Kindern und Jugendlichen einen legalen, strukturierten Rahmen für das Ausleben ihrer Bewegungslust zu schaffen, den sie sonst nicht, nur selten oder an ungeeigneten Orten und zu ungünstigen Anlässen vorfinden.»

«Viele Lehrpersonen denken, sie verlieren durch das Kämpfen im Unterricht wertvolle Zeit.»

Kämpfen im Unterricht als universales Erfolgsrezept gegen Unruhe und Konflikte im Klassenzimmer darzustellen, wäre falsch. «Wir verkaufen Kämpfen nicht als Heilmittel für persönliche und gesellschaftliche Bedürfnisse. Es ist ein Beziehungsereignis, das glücken und etwas Gutes bewirken kann, oder es misslingt», stellen Beudels und Anders klar. Sie betonen, dass Pädagogen eine gute Kenntnis der Bewegungsinhalte, aber auch Inhalts- und Handlungskompetenzen und vor allem Selbsterfahrungen vorweisen sollten. Denn nur wer spielerisches Kämpfen selbst erfahren hat, kann die kindlichen Aktionen und Reaktionen verstehen und nachempfinden. Heisst das in die Praxis übersetzt: «Lehrer id Hose»?

Mehr als nur ein Kampf: Abbildung im Handbuch zum Ringen, Rangeln und Raufen. (Bild: Wuethrich)

Marion Wagner verneint. Sie selbst hat keine physische Kampfvergangenheit. Eurythmie und Tanz stehen ihr näher als Ringen und Raufen. Was zähle, seien Offenheit, Neugier und der Mut, sich auf etwas Neues einzulassen.

Zeitverlust oder Kompetenzgewinn?
Doch hat das Kämpfen im Unterricht überhaupt Platz? «Kämpfen ist pädagogisch in», sind sich Beudels und Anders einig. «Kampfsportarten erleben einen Boom. Sozialbehörden und Ministerien unterstützen Programme zur Gewaltprävention und Lehrpläne öffnen sich immer mehr», betonen die beiden. Pädagogin Marion Wagner sieht die Situation in Lehrer- und Schulzimmern ein wenig differenzierter: «Viele Lehrpersonen denken, sie verlieren durch das Kämpfen im Unterricht wertvolle Zeit.» Was zähle, sei oft nur der akademische Inhalt. Die Angst, nicht genügend Stoff zu vermitteln und dann leistungstechnisch ins Hintertreffen zu geraten, dominiere. «Meine Erfahrungen zeigen, dass Bewegung mit Sozialkompetenz kombiniert für alle Kinder sehr förderlich ist. Schulische Leistungen leiden darunter nicht. Im Gegenteil: Oft sind Schülerinnen und Schüler dadurch mehr stimuliert, motiviert und schaffen dadurch den obligatorischen Schulstoff problemlos.»

Weiter im Netz
Wolfgang Beudels, Wolfgang Anders:
«Wo rohe Kräfte sinnvoll walten. Handbuch zum Ringen, Rangeln und Raufen in Pädagogik und Therapie», 2014, borgmann publishing, Dortmund.

publiziert März 2018, in der Zeitschrift “BILDUNG SCHWEIZ”

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