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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Dann ist der Wurm drin!

Dann ist der Wurm drin!

Kaum jemand spricht offen über Darmparasiten, obwohl jeder fünfte Mensch auf der Welt damit infiziert ist. Würmer können aber Kinder vom Lernen abhalten und somit deren schulische Leistung und
Entwicklung beeinflussen. 

Wer auf Spielplätzen oder an Kindergeburtstagen beim vertrauten Small Talk zwischen Eltern genau hinhört, ist erstaunt, wie oft Würmer ein Thema sind. Oder wie es eine Mutter von zwei Jungen im Schulalter auf den Punkt bringt: «Jede Familie hat sie irgendwann. Nur spricht kaum jemand darüber. Denn wer möchte sich schon als grausigen Wurmträger outen?» Das Tabu wird noch verschärft, weil nicht nur ein Kind, sondern die ganze Familie betroffen sein kann. 

Ansteckung hat unangenehme Folgen 
In der Schweiz und den übrigen europäischen Industriestaaten sind Madenwürmer die am häufigsten verbreiteten Darmparasiten. Sie sind für den Menschen harmlos. Um sich anzustecken, müssen die Eier der Würmer über den Mund in den Magen-Darm-Trakt gelangen. Am häufigsten sind es Kinder, die sich durch den Kontakt mit Spuren von Kotresten infizieren; sei es auf ungewaschenen Händen oder Lebensmitteln, sei es auf verunreinigten Spielsachen, Bettwäsche oder Kleidern. Andere Familienmitglieder können leicht angesteckt werden. Die weiblichen Exemplare der im Darm geschlüpften, bis zu 13 Millimeter langen Würmer legen ihre Eier dann in Hautfalten an der Afteröffnung. Der dadurch oft in der Nacht ausgelöste Juckreiz ist höchst unangenehm. Unruhiger Schlaf, Müdigkeit und Konzentrationsstörungen können die Folge sein. 

«Jede Familie hat sie irgendwann. Nur spricht kaum jemand darüber. Denn wer möchte sich schon als grausigen Wurmträger outen?»

Global gesehen stellen Darmparasiten ein grosses medizinisches Problem dar. Ein Fünftel der gesamtem Weltbevölkerung und damit an die 1,5 Milliarden Menschen, die Mehrheit davon Kinder, sind mit Darmparasiten infiziert. Die harmlosen Madenwürmer-Infektionen werden dabei nicht mitgezählt. Weltweit am häufigsten treten Spulwürmer auf. Sie sind vor allem in tropischen Gebieten und unter hygienisch mangelhaften Bedingungen verbreitet. Eine Infektion mit Spulwürmern ist auch hierzulande möglich, aber sehr selten (vgl. Interview-Box). Bleibt die Infek- tion unbehandelt, kann sie zu schweren gesundheitlichen Komplikationen führen. 

Wenige Informationen trotz Aktualität
Für Eltern und auch für verschiedene Krankenkassen, die detailliert über Wurmbefall und Massnahmen informieren, sind Darmparasiten ein wichtiges und aktuelles Thema. Statistiken oder klare Fallzahlen zu Infektionen von Schulkindern in der Schweiz mit Darmparasiten fehlen trotzdem. Denn eine Infektion führt weder zu einem Schulausschluss noch ist der Wurmbefall meldepflichtig. Sucht man bei Schulbehörden und kantonalen Schulgesundheitsdiensten nach entsprechenden Angaben, findet man sie nur spärlich. Die Schulgesundheitsdienste der Stadt Zürich und die Medizinischen Dienste Basel-Stadt haben je ein Merkblatt zu Darmparasiten herausgegeben. Erläutert werden dabei Herkunft, Ansteckung, Symptome und Diagnose. Um eine Ansteckung in der Schule, im Kindergarten oder im Hort zu verhindern, empfehlen beide Gesundheitsdienste konsequentes Händewaschen vor dem Essen und nach dem Toilettenbesuch. Aktuell seien Darmparasiten kein Thema, teilt Andrea-Seraina Bauschatz, Ärztin und Leiterin des Schulärztlichen Dienstes der Stadt Zürich, auf Anfrage mit. Differenzierter sieht ein Kinderarzt, der sich täglich um die medizinische Grundversorgung von Kindern kümmert, die Situation in Bezug auf Madenwürmer (vgl. Interview-Box). 

Konkrete Fallzahlen gibt es keine. Wahrscheinlich kommen einige Eltern wegen Madenwürmern mit ihrem Kind nicht direkt in die Arztpraxis, sondern lassen sich telefonisch beraten oder suchen eine Apotheke auf, um ein rezeptfreies Wurmmittel zu beziehen.”

Laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) gibt es in der Schweiz über 50 übertragbare Krankheiten und Erreger, die meldepflichtig sind. Infektionen mit Darmparasiten gehören nicht dazu. Einzige Ausnahme in der Familie der Fadenwürmer ist eine Infektion mit Trichinenlarven. Die lauern in rohem oder ungenügend erhitztem Fleisch. Gelangen die Larven in den Darm und später über die Blutbahn in die Muskeln, spricht man von der parasitären Infektionskrankheit Trichinellose. Die Folgen sind Muskelschmerzen und Schwellungen im Augenbereich, im Extremfall kann der Herzmuskel befallen werden. Es ist unwahrscheinlich, sich über Schweizer Fleisch – sei es vom Pferd, Schwein oder Wildschwein – mit Trichinellen zu infizieren. Denn eine Fleischuntersuchung dieser Schlachttiere auf Trichinellen ist hierzulande obligatorisch. Entsprechend selten sind die Krankheitsfälle. Beim BAG werden pro Jahr zwischen kei- nem und vier Fällen gemeldet. Das Risiko einer Infektion droht eher im Ausland beziehungsweise durch den Genuss von im Ausland erworbenem Fleisch. 

Wenn die Energie für die Hirnentwicklung fehlt 
Krankenkassen, Ärztinnen und Ärzte weisen darauf hin, dass durch die zunehmende Migration und die Reisen in tropische Länder Infektionen mit «exotischen» Darmparasiten auch in der Schweiz zunehmen können. Die aktuelle Situation zeigt jedoch, dass hierzulande eine Infektion mit Darmparasiten mehrheitlich harmlos bleibt. Anders präsentiert sich das Bild in Entwicklungsländern. «Infiziert sich ein Kind in den Tropen oder Subtropen mit Würmern, kann es sich dabei zum Beispiel um sogenannte Soil-transmitted Helminths (STH) handeln, vom Boden übertragene Wurmerkrankungen. Dazu gehören nicht nur Spulwürmer, sondern auch Peitschen- und Hakenwürmer», erklärt Jennifer Keiser, Leiterin der Einheit «Helminth Drug Development» am Schweizerischen Tropen- und Public-Health-Institut (Swiss TPH) in Basel. Hakenwürmer saugen konstant Blut aus der Wand des Dünndarms. Der Peitschenwurm nistet sich im Dickdarm ein. «Ohne medizinische Behandlung reichen die Folgen von starken Bauchschmerzen und Durchfall über Blut- und Proteinverlust bis hin zu einer verzögerten körperlichen und geistigen Entwicklung», hält Expertin Keiser fest. Denn die Würmer rauben dem Träger so viel Substanz und Energie in Form von Eiweissen, Fetten, Kohlenhydraten und Mikronährstoffen, dass das Immunsystem und die kindliche Entwicklung zurückbleiben. Was für fatale Konsequenzen dieser Energieraub vor allem für Kinder haben kann, zeigen folgende Daten: Ein Neugeborenes benötigt etwa 87 Prozent seiner Energie für den Aufbau und die Funktion seines Gehirns. Bei einem Fünfjährigen liegt dieser Anteil immer noch bei 44 Prozent. Fehlt die Energie, leidet die geistige Entwicklung. Im Extremfall können die Parasiten auch tödlich sein. 

Würmer sind immer wieder ein Thema” 

Marc Sidler ist Kinderarzt in einer Praxis in Binningen (BL) und Kindergastroenterologe am Universitäts-Kinderspital beider Basel. Der erfahrene Mediziner ist Präsident von Kinderärzte Schweiz (KIS), dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte in der Praxis. 

Kantonale schulärztliche Behörden informieren mit Merkblättern sogar über Fusspilz und Ekzeme. Informationen zu Darmparasiten fehlen aber in den meisten Fällen. Sind Würmer bei Schweizer Schulkindern kein Thema? 
MARC SIDLER: “Als Kinderarzt kümmere ich mich um die medizinische Grundversorgung von Kindern und dabei sind Madenwürmer immer wieder ein Thema. Ich verfüge jedoch über keine konkreten Fallzahlen. Wahrscheinlich kommen einige Eltern wegen Madenwürmern mit ihrem Kind nicht direkt in die Arztpraxis, sondern lassen sich telefonisch beraten oder suchen eine Apotheke auf, um ein rezeptfreies Wurmmittel zu beziehen.”

Leiden Kinder in der Schweiz an Darmparasiten, sind es meistens harmlose Madenwürmer. Wie häufig ist ein Befall von Spul-, Haken- oder Bandwürmern? 
“Spul-, Haken- oder Bandwürmer sind bei Kindern enorm selten. In den vergangenen 13 Jahren als Kinderarzt hatte ich keinen einzigen Fall in meiner Praxis. Meine Erfahrungen sind aber nicht repräsentativ. Zum Beispiel liegt in der Migrationsmedizin, das heisst bei der Abklärung von asylsuchenden Kindern, Jugendlichen und unbegleiteten Minderjährigen, ein Fokus auf tropischen Infektionen und damit auch auf Darmparasiten.” 

Was sollten Lehrpersonen über Darmparasiten wissen?
“Ich denke, dass ein Grundwissen immer von Vorteil ist. Merkblätter wie diejenigen der Gesundheitsdienste des Kantons Basel-Stadt oder der Stadt Zürich sind hilfreich. Lehrpersonen sollen wissen, dass von Madenwürmern keine Gefahr für die Kinder ausgeht. Sie können damit gegebenenfalls Eltern beruhigen. Um sich anzustecken, müssen die Eier der Würmer über den Mund in den Magen-Darm-Trakt gelangen. In der Regel geschieht dies über kontaminierte Hände, die sogenannte fäkoorale Übertragung. Entsprechend sind Hygienemassnahmen sehr wichtig. Bei Kindern befinden sich die Wurmeier auch oft unter den Fingernägeln. Händewaschen allein nützt nichts. Die Fingernägel sollten gut gereinigt und wenn möglich kurzgeschnitten werden.”

Dank Wurmtabletten eine bessere Zukunft 
Welch grossen Einfluss Darmwürmer auf die schulische Leistung und Entwicklung von Kindern haben, haben der Wissenschaftler Michael Kremer und sein Team aufgezeigt. Mit gross angelegten Feldforschungen an Schulen in Entwicklungsländern schaffte es Kremer, nachzuweisen, dass nicht nur, wie oft angenommen, Armut und ethnische Herkunft für mögliche Unterschiede in der Abwesenheitsquote im Unterricht und in generellen Schulleistungen verantwortlich sein können, sondern auch Infektionen wie Darmparasiten. Damit klar wurde, welche Massnahmen die Lernbedingungen in lokalen Schulen verbessern, führte Kremer in seinen Feldstudien an unterschiedlichen Schulen jeweils eine unterschiedliche Massnahme ein. Dazu gehörten kostenlose Mahlzeiten, Schulbücher, Uniformen, Entwurmungspillen, aber auch zusätzliche Lehrpersonen. Kremers Versuche zeigten, dass eine der effektivsten und kostengünstigsten Massnahmen die Abgabe von Entwurmungstabletten war. 

«Ohne medizinische Behandlung reichen die Folgen von starken Bauchschmerzen und Durchfall über Blut- und Proteinverlust bis hin zu einer verzögerten körperlichen und geistigen Entwicklung»,

Zwischen 1998 und 2001 führten Kremer und sein Team an 75 Schulen in Kenia eine grossangelegte Wurmtabletten- Studie durch, in der 75 Primarschulen mit 30 000 Schülerinnen und Schülern involviert waren. Die Resultate bestätigten Kremers These: Ohne Darmparasiten litten die Kinder weniger unter Müdigkeit, Bauchschmerzen und Blutarmut und sie hatten genügend Energie, um die Schule zu besuchen und dem Unterricht zu folgen. Schwerwiegende Wurminfektionen wurden um 61 Prozent reduziert; die Zahl der Kinder, die häufig der Schule fernblieben, verminderte sich um 25 Prozent. Die gegenseitigen Ansteckungen unter den Schulkindern nahmen ebenfalls ab. Die Kosten betrugen damals pro Kind jährlich an die 60 Rappen. Kremer blieb mit den Kindern bis ins Erwachsenenalter in Kontakt. Er konnte damit belegen, dass Schulkinder, die Entwurmungstabletten bekamen, bessere Schulleistungen zeigten und später über ein höheres Einkommen verfügten als ihre Peers, die während der Schulzeit permanent an Darmparasiten litten. 

Wurmtabletten als wirksames Mittel gegen Schulabsenz (Bild: Evidence Action)

Engagement für Entwurmungskampagnen 
Kremers Feldstudien haben die Armutsforschung geprägt und die Sicht auf Massnahmen verändert, die Menschen aus der Armut helfen sollen. 2001 erliess die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Resolution, um Darmparasiten in den meistbetroffenen Entwicklungsländern durch medizinische Behandlung zu bekämpfen. Kremer selbst gründete mit «Evidence Action» eine Organisation, die sich weltweit für Entwurmungskampagnen einsetzt. Seine «Deworm the World»-Initiative basiert auf wissenschaftlichen Studien und Resultaten. 2019 unterstützte sie die Regierungen von Indien, Kenia, Nigeria und Pakistan, um 270 Millionen Kinder zu behandeln. Der Kostenpunkt für die Wurmtabletten pro Kind und Jahr lag bei 50 Rappen. Für seine Forschungen erhielt Michael Kremer zusammen mit den Wissenschaftlern Abhijit Banerjee und Esther Duflo im Oktober 2019 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Gleichzeitig schätzte die WHO, dass immer noch eine Milliarde Kinder weltweit Wurmmedikamente brauchen würden 

 

Weiter im Netz
www.who.int > Health topics > Fact sheets > S > Soil-transmitted helminth infections (2 March 2020)
www.evidenceaction.org > What We Do > Deworm the World www.stadt-zuerich.ch/ssd >
Gesundheit & Prävention > Schulärztlicher Dienst > Ansteckende Krankheiten > Informationsblätter zu ansteckenden Krankheiten – Informationsblatt Madenwürmer (Oxyuriasis) 
www.gesundheit.bs.ch > Schulgesundheit > Merkblätter > Stich- wort «Krankheiten» – Merkblatt «Wurmerkrankungen»
www.povertyactionlab.org/evaluation/primary-school-deworming- kenya – Studien und Entwurmungsprogramm von Michael Kremer 

Schulkinder mit Wurmtabletten: Kosten: 50 Rp. pro Kind pro Jahr! (Bild: Evidente Action)

publiziert Mai 2020, Zeitschrift “Bildung Schweiz” (05/2020)

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