Vom respektierten Alphatier zum geprügelten Sündenbock?
In einer Schule in Wien reisst ein Schüler seine Lehrerin an den Haaren zu Boden. In Baden Württemberg sticht ein Sieben jähriger ein Messer in den Bauch seiner Lehrperson und im zürcherischen Dietikon würgt eine Mutter die Lehrerin ihres Sohnes.
Laut der repräsentativen Umfrage «Gewalt gegen Lehrkräfte», die das unabhängige Forschungsinstitut forsa unter 2000 Lehrpersonen in Deutschland durchgeführt hat, wurde fast ein Viertel der Befragten schon Opfer von Bedrohungen, Beleidigungen, Beschimpfungen oder Mobbing. Die Studie ist vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) in Auftrag gegeben worden, der rund 164000 Pädagoginnen und Pädagogen in ganz Deutschland vertritt. Gemäss den im November 2016 publizierten Resultaten sind auch körperliche Angriffe wie beispielsweise schlagen, schütteln, stossen, treten, boxen, an den Haaren ziehen, mit den Fäusten oder mit Gegenständen prügeln, verbreitet. Zwar waren «nur» sechs Prozent der befragten Pädagoginnen und Pädagogen in den vergangenen fünf Jahren davon betroffen. Das heisst jedoch, dass in jedem grösseren Schulhaus mit mehr als einem Dutzend Lehrpersonen mit hoher Wahrscheinlichkeit mindestens ein Pädagoge arbeitet, der Opfer von körperlicher Gewalt ist. Als Täter agieren in den meisten Fällen Schülerinnen und Schüler, gefolgt von Eltern. Zur Anzeige kommt es nur sehr selten – nicht einmal in jedem zehnten Fall.
Ähnlich präsentiert sich die Situation in Österreich. Laut der Gewerkschaft der österreichischen Pflichtschullehrerinnen und Pflichtschullehrer (GÖDaps) stimmen die Zahlen aus Deutschland auch für Österreich. Und wie sieht die Situation in der Schweiz aus?
Das Thema ist stark mit Scham belegt. Keine Lehrperson spricht gerne darüber, dass sie von psychischer oder physischer Gewalt betroffen ist.
In der Schweiz fehlen die offiziellen Zahlen. Laut dem Bundesamt für Statistik gibt es keine Erhebungen betreffend Gewalt gegen Lehrpersonen. Auch der LCH kann mit keinen repräsentativen Zahlen aufwarten. Für Franziska Peterhans, Zentralsekretärin LCH, ist die Situation in der Schweiz mit Deutschland vergleichbar. Auch die Ursachen seien die gleichen: «Der Ton und die Sprache in Gesellschaft und Politik sind rauer geworden. Konflikte eskalieren öfter und schneller und werden mit härteren Mitteln ausgetragen. Autoritäten wie Pfarrer, Ärzte und auch Lehrpersonen sind deutlich weniger anerkannt», skizziert Peterhans die Entwicklung. Der erwähnte Vorfall in Dietikon, wo eine Mutter im September 2017 die Lehrerin ihres Sohnes attackierte, sei kein Einzelfall mehr. Trotzdem sucht man in der Schweiz vergebens nach Fakten und Zahlen zur Problematik. Auch der öffentliche Diskurs fehlt. «Das Thema ist stark mit Scham belegt. Keine Lehrperson spricht gerne darüber, dass sie von psychischer oder physischer Gewalt betroffen ist», analysiert Franziska Peterhans. Sie fügt hinzu, dass in Deutschland wie auch in der Schweiz die Dunkelziffer von betroffenen Lehrpersonen sehr hoch sei. «Das heisst, viele Fälle kommen gar nie bis zur Schulleitung oder zur Anstellungsbehörde und schon gar nicht an die Öffentlichkeit.»
Krisenkompass und Interventionsteams
Um betroffene Lehrpersonen zu unterstützen, hat der Schulverlag plus mit Unterstützung des LCH einen Krisenkompass lanciert. Thematisiert wird darin das ganze mögliche Krisenspektrum im Schulkontext: Suizid einer Schülerin, Erpressung unter Teenagern, pornografisches Material auf dem Handy. Das Handbuch ist eine Sammlung an Listen, Empfehlungen, Kontaktadressen und Nummern. 2010 veröffentlicht, wurde es 2013 neu aufgelegt. Rund 2000 Ordner stehen nun in den Schweizer Lehrerzimmern. In Krisensituationen sollen Schulen damit möglichst rasch, praxistauglich und selbständig handeln können. Seit vergangenem Jahr ist der Krisenkompass auch online verfügbar (www.edyoucare.net), ergänzt mit der Möglichkeit einer persönlichen Beratung durch ein Expertenteam.
Ob die Lehrerinnen und Lehrer in einer Ausnahmesituation, sei es ein Amoklauf oder eine Attacke gegen eine Lehrperson, noch in der Lage sind, online oder im Lehrerzimmer nach Notfallnummern und Lösungsansätzen zu suchen, bleibt offen. Wozu ist jemand noch im Stande, der sich vor einem Amokschützen unter einem Tisch versteckt? Und wie überlegt reagieren Beteiligte, wenn eine Lehrperson tätlich angegriffen wird? Für solche Ausnahmesituationen hat eine Schweizer Firma im Auftrag der Bildungsdirektion des Kantons Zürich ein neues Tool entwickelt (Siehe Interview ).
Wozu ist jemand noch im Stande, der sich vor einem Amokschützen unter einem Tisch versteckt?
Kommt es zu direkter Gewalt gegen Lehrpersonen, sind oft auch Eltern involviert. Der LCH hat im vergangenen Jahr den Leitfaden «Schule und Eltern: Gestaltung der Zusammenarbeit» herausgegeben. Er bündelt pädagogische und rechtliche Erkenntnisse und soll Lehrpersonen bei der Elternarbeit Wissen und Sicherheit vermitteln. Dieses Bedürfnis scheint ausgeprägt zu sein: Seit der Lancierung des Leitfadens wurden schon 850 Exemplare verkauft. Die zweite Auflage ist in Planung.
Wie oft es trotzdem zu Drohungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Lehrpersonen und Eltern oder Schülerinnen und Schülern kommt, ist nicht belegt. Das Fehlen von Zahlen und Statistiken beschäftigt den LCH und Franziska Peterhans. «Eigentlich müssten sich die Kantone und Gemeinden längst um dieses wichtige Thema kümmern. Der Schutz und die Sicherheit von Lehrerinnen und Lehrern, aber auch von Schülerinnen und Schülern sind Sache der Anstellungsbehörde beziehungsweise der Schulbehörde.» Der LCH fordert für jeden Kanton ein Team, das den Schulen und Lehrpersonen bei Krisensituationen zur Seite steht. «In kleinen Kantonen sind die personellen und finanziellen Ressourcen für Kriseninterventionen beschränkt. Umso notwendiger ist die regionale Zusammenarbeit», betont Peterhans.
Alphatier oder Sündenbock?
Als Vorbild agiert St. Gallen. Der Ostschweizer Kanton war Ende der 90er Jahre zum Handeln gezwungen, als im Januar 1999 der Reallehrer Paul Spirig bei einer Besprechung im Schulhaus Engelwies von einem Vater erschossen wurde. Der Mord veranlasste den Kanton St. Gallen, eine Arbeitsgruppe zu formieren, die 50 Präventionsmassnahmen zum Schutz von Lehrpersonen sowie Schülerinnen und Schülern auflistete. Eine solche Massnahme war etwa die Gründung einer Krisenintervention. Diese interdisziplinäre Einsatzgruppe – bestehend aus Fachpersonen aus Psychologie, Psychotherapie, Schulberatung, Supervision, Organisationsentwicklung, Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Rechtsberatung – ist unter einer Pikettnummer (0848 0848 48) rund um die Uhr abrufbereit. Unmittelbare Unterstützung bei ausserordentlichen Ereignissen im Schulbereich ist damit garantiert. Zusätzlich arbeitet das Team eng mit Polizei, Justiz, Kinderschutzzentrum, Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde und Kinder- und Jugendpsychiatrie zusammen.
In der Schweiz scheint das Thema wie eine Wolke über den Schulhäusern zu schweben: zwar sichtbar und präsent, aber kaum bedrohend oder gar akut besorgniserregend.
Nur knapp fünf Kilometer entfernt vom Schulhaus Engelwies liegt die Pädagogische Hochschule St.Gallen (PHSG). Hier wird eine neue Generation an Pädagoginnen und Pädagogen ausgebildet – in der Hoffnung, nie eine Kriseninterventionseinheit zu brauchen. Doch Hoffen allein ist zu wenig. «Seit dem Mord an Paul Spirig hat sich in der Schweizer Lehrerinnen und Lehrerbildung sehr viel verändert. Die Sensibilität und das Wissen im Umgang mit krisenhaften Einzelvorkommnissen haben sowohl in den Pädagogischen Hochschulen wie auch in den Schulhäusern deutlich zugenommen», sagt Dr. Martin Annen, Prorektor Sek I und II an der PHSG. Auf die Rolle als Lehrperson würden die Studierenden heute bewusst vorbereitet, betont er. «Die Ausbildung thematisiert den Umgang mit Belastungserleben und bewältigen sowie auch mit Konflikten.» Mit dem Bild, dass sich die Wahrnehmung der Lehrperson in der Gesellschaft vom respektierten Alphatier zum geprügelten Sündenbock entwickelt hat, ist Annen nicht einverstanden. «Die Lehrperson als Rollenvorbild, das unter Imageverlust leidet und mit Füssen getreten wird – das stimmt nicht.» Der Beruf der Lehrperson liege in den Berufsimagerankings immer noch vor der Politikerin, dem Rechtsanwalt, der Journalistin oder dem Banker.
Ob die Berufsrankings, die aktuelle Lehrerausbildung und die Krisenratgeber in den Lehrerzimmern einen Einfluss auf die Gewalt gegen Lehrpersonen haben, bleibt fraglich. In der Schweiz scheint das Thema wie eine Wolke über den Schulhäusern zu schweben: zwar sichtbar und präsent, aber kaum bedrohend oder gar akut besorgniserregend. Handlungsbedarf scheint darum kaum vorhanden. Vielleicht würde sich das mit klaren Zahlen ändern. Laut dem VBE hat die Umfrage Wirkung gezeigt: Das Problem werde nun auf politischer Ebene diskutiert, Lösungsansätze werden gesucht. Die Gewalt gegen Lehrpersonen habe sich aus einzelnen Schulzimmern in die öffentliche Wahrnehmung geschlichen, von der schambesetzten Privatangelegenheit des betroffenen Lehrers hin zum relevanten gesellschaftlichen Problem.
Weiter im Netz
www.edyoucare.net > Krisenkompass
www.LCH.ch > Publikationen > Downloads > Leitfaden «Schule und Eltern: Gestaltung der Zusammenarbeit»
www.kriseninterventionsg.ch – Krisenintervention St.Gallen
www.emergency.ch – NotfallApp
www.vbe.de > Unser Service > Meinungs umfragen > Studie «Gewalt gegen Lehrkräfte»
publiziert Mai 2018, “Bildung Schweiz” (05/2018)