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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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«Perfekt ist niemand»

«Perfekt ist niemand»

Marion Heidelberger ist Lehrerin für integrative Förderung und Vizepräsidentin des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Die Pädagogin verfügt über fast 30 Jahre Unterrichtserfahrung und ist nicht nur als Lehrkraft mit der Thematik «Integration» täglich konfrontiert, sondern auch als Mutter zweier «verhaltens-origineller» Söhne.

Die öffentlichen Schulen in der Schweiz gelten als «integrativ». Alle Schulkinder – ob gesund, krank oder mit einem Handicap – sollen die Regelklasse besuchen. Wie sieht die Integration in der Praxis aus?
Marion Heidelberger: «Im Grundsatz hat jedes Kind ein Recht auf die Regelklasse. Ein Patentrezept, wie diese schulische Integration im Schulalltag aussieht und schlussendlich glückt, gibt es nicht. Jedes Kind ist ein Einzelfall und braucht eine individuelle Lösung.»

Kein Patentrezept – aber gibt es entscheidende Grundvoraussetzungen, damit die Integration eines kranken Kindes möglich wird?
«Enorm wichtig ist ein ‹runder Tisch›. Damit meine ich die Zusammenarbeit aller involvierten Parteien: Schulleitung, Lehrpersonen, Eltern, Ärzte, Betreuerinnen und therapeutischen Fachpersonen. Alle Beteiligten müssen direkt miteinander kommunizieren, um alles zu organisieren und zu klären. Was ist wie möglich und wer ist dafür verantwortlich?»

Gibt es Ihrer Meinung nach Fälle, die nicht integrierbar sind?
«Kognitive Schwächen sind heute kein Grund mehr, um ein Kind nicht zu integieren. Verschiedene Lerntempi und differenzierender Unterricht sind heute in der Regelklasse Alltag. Schwieriger wird es, wenn kranke Kinder während des Unterrichts medizinische Betreuung oder spezielles Equipment brauchen. Lehrpersonen haben keine medizinische Ausbildung, Schulhäuser sind platzmässig oft sehr begrenzt. In diesen Fällen stösst Integration an Grenzen. Es ist darum wichtig – wie anfangs erwähnt – Verantwortlichkeiten zu klären. Wer kann dem Kind die Medikamente verabreichen, den Katheter wechseln? Die Lehrperson ist dafür nicht zuständig, aber vielleicht findet sich am ‹runden Tisch› eine Lösung.»

Eltern eines kranken Kindes haben oft das Gefühl, dass die Integra- tion ihrer Tochter oder ihres Sohnes nur vom «Goodwill» der einzelnen Lehrperson abhängt. Was meinen Sie dazu?
«Ich denke, es ist wichtig Erwartungen zu klären. Was kann eine Lehrperson für mein Kind tun? Was sind die Pflichten der Lehrkraft und was sind meine Erwartungen? Eine Lehrerin oder ein Lehrer kann oft nicht alle Erwartungen der Eltern erfüllen. Das hat nichts mit ‹Good- will› zu tun. Lehrpersonen bereiten Unterricht sorgfältig vor und möchten diesen möglichst störungsfrei durchführen und alle Kinder fördern, das ist sehr aufwändig. Mit der Integration eines Kindes mit speziellen Bedürfnissen, muss sich der Pädagoge oder die Pädagogin von diesen Zielen lösen. Das kann für einige eine schwierige Situation sein. Doch schlussendlich geht es um die ‹innere› Haltung der Lehrperson; die grundsätzliche Neugier, die Vision, die Freude an der Herausforderung – und von diesen Werten hängt ein grosser Teil einer erfolgreichen Integration ab.»

«Sich als Eltern einen Machtkampf mit einer Schule zu liefern, macht keinen Sinn. Es ist David gegen Goliath.»

In Jonas’ Fall (Siehe Artikel «Das JONAS-Syndrom») gibt es keine Diagnose, keinen medizinischen Leitfaden für Lehrpersonen, keine Er- fahrungswerte im Umgang mit der Krankheit und betroffenen Kindern. Was empfehlen Sie in einer solchen Situation? «Eine Diagnose gibt das Gefühl, man wisse, wo man steht und was man machen muss. Ohne Diagnose fällt diese ‹Sicherheit› weg und macht Platz für Selbstzweifel: Mache ich als Pädagogin überhaupt das Richtige? Der Lehrperson empfehle ich, sich auf keinen Fall zu isolieren, sondern sich auf die Situation einzulassen und mit Kinderärzten, Heilpädagoginnen, Therapeuten zusammen zu arbeiten. Das gibt wertvolle Inputs für die geeignete Förderung und entlastet. Keine Diagnose schafft aber auch hier Unsicherheit. Denn Förderstunden und das Ausmass der Unterstützung sind oft an eine Diagnose gekoppelt und damit an eine Kasse, welche diese Leistungen bezahlt. Ohne Diagnose bleibt unklar, was an Fördermitteln überhaupt zur Verfügung steht.»

«Wir brauchen nun eine Diagnose», forderte der Schulleiter in Jonas Schule unverblümt. Wie sollen be- troffene Eltern auf eine solche Forderung reagieren?
«Es gibt gute Schulleitungen und weniger gute. Zentral sind sie immer. Es ist die Schulleitung, die Unterstützungsmassnahmen organisieren und Lehrpersonen unterstützen muss. Die Forderung nach einer Diagnose ist unangebracht und stellt die Vermutung in den Raum, dass vielleicht ja gar keine Krankheit vorliege. Eine suboptimale Basis für eine gute Zusammenarbeit. Ist der Kontakt zur Schulleitung gestört und die Zusammenarbeit nicht möglich, steht man als Eltern auf verlorenem Posten, weil man ja keine Zeit und Energie für Streitigkeiten hat.»

Wenn Jonas zu schwach ist, um die Schule zu besuchen, ist er oft während Wochen Zuhause. Seine Mutter übernimmt in dieser Zeit viele Auf- gaben der Lehrperson. Ist dies die gängige Norm in einer solchen Situation?
«Die Mutter, die als Lehrkraft agiert, ist keine Lösung. Denn ein Kind soll nicht von den Eltern beschult werden. Es hat Anspruch auf Unterricht, dafür ist die Schulgemeinde verantwortlich. Es ist klar, dass die Schulleitung nicht ungefragt eine private Betreuungsversion offeriert. Wenn dies aber die einzige mögliche Option ist, um einem kranken Kind regelmässigen Unterricht zu ermöglichen, muss die Schulgemeinde diese Möglichkeit schaffen und den Einzelunterricht bezahlen.»

«Die Schule soll ein Abbild der Gesellschaft sein. Dies ist eine Vision – mit der Integration von schwachen oder kranken Kindern kommen wir ihr einen Schritt näher.»

Die Integration eines Kinders ist für alle Beteiligten mit Mehraufwand verbunden. Was sind die Chancen und positiven Aspekte, die dadurch geschaffen werden?
«Die Schule soll ein Abbild der Gesellschaft sein. Dies ist eine Vision – mit der Integration von schwachen oder kranken Kindern kommen wir ihr einen Schritt näher. Die Kinder lernen durch die Integration den Um- gang mit Vielfalt, somit Toleranz und Empathie. Diversität ist Alltag. Perfekt ist niemand. Alle haben Stärken und Schwächen. Der Umgang damit wird enttabuisiert. Der Klassenkamerad im Rollstuhl oder die chronisch kranke Freundin: Für die Kinder wird dadurch ‹Anders-sein› ganz normal.»

Jonas und seine Eltern fühlen sich in der momentanen Schulsituation wohl. An wen können sich betroffene Eltern wenden, wenn Integration nicht klappt?
«Je nach Kanton ist das Schulwesen anders organisiert. Erste Anlaufstelle ist sicher immer das Gespräch mit den beteiligten Lehrpersonen, danach die Schulleitung oder die zuständige Behörde. Die nächste Instanz ist die Bildungsdirektion, welche über einen Rechtsdienst verfügt, der bei Bedarf konsultiert werden kann. Eltern sollen sich aber immer überlegen, ob sich der Kampf gegen eine Schule wirklich lohnt. Die Schule wechseln oder gar ein Umzug sind mögliche Lösungsansätze, aber meistens führt eine offene Kommunikation zum Ziel.»

publiziert September 2018 im « KMSK-Wissensbuch 2018 » (www.kmsk.ch)

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