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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Projektarbeit: Ein Trugschluss?

Projektarbeit: Ein Trugschluss?

Ob im Kindergarten oder in der Maturaklasse, Projektarbeit ist in der Schule allgegenwärtig. Stimmt diese Einschätzung wirklich? Oder wird nur jede Sonderaktivität kurzerhand als Projekt betitelt? 


Die dritte Klasse organisiert eine Zirkusaufführung, die Kindergartenkinder backen Kuchen für den Basar und die Abschlussklasse führt das Theaterstück «Wilhelm Tell» auf. Die Aktivitäten finden kurz vor den Ferien statt. Gemeinsames Laisser-faire ohne Noten, Hausaufgaben oder Zeitdruck, dafür mit umso mehr Spass. Schulleitung, Lehrpersonen und Eltern begeistern sich gegenseitig. Es lebe die Projektarbeit! 

Schülerinnen und Schüler sollen Verantwortung tragen
«Keine dieser Aktivitäten stellt konsequent das selbstgesteuerte Lernen in den Mittelpunkt. Die Kriterien, die Projektarbeit definieren, werden nicht erfüllt», sagt Erich Lipp, Leiter des Zentrums Impulse für Projektunterricht und Projektmanagement (ZIPP) an der Pädagogischen Hochschule Luzern.

«Ehrlicher wäre es, solche Tätigkeiten als «Sonderwoche» oder «Atelier» zu umschreiben.»

«Projektarbeit zeichnet sich durch selbstbestimmtes Lernen und Eigenverantwortung aus. Themenwahl und Ausführung liegen im Verantwortungsbereich der Schülerinnen und Schüler. Selbstständig Projekte initiieren, vorbereiten, planen, durchführen, auswerten und abschliessen ist das Ziel», erklärt Lipp. Er stellt klar, dass es sich nicht um Projektarbeit handle, solange die Lehrperson das Zepter in der Hand habe und über Gestaltung und Endprodukt entscheide. Ehrlicher wäre es, solche Tätigkeiten als «Sonderwoche» oder «Atelier» zu umschreiben. 

Bei Projektarbeiten stehen die Schülerinnen und Schüler mit ihren Interessen im Mittelpunkt. Was zählt, sind eigene Lösungsansätze und Innovationen, aber auch Risiken und Scheitern. Das Resultat ist ebenso wichtig wie der Prozess. Sowohl die Suche nach Ideen und eigenen Zielen als auch das Entwickeln eines Projektplans sind zeitintensiv. In der grossen Mehrheit der sogenannten Projektwochen fehlt für solche Prozesse und die damit verbundenen Unsicherheiten die Zeit. Eine Zirkuswoche ohne Aufführung? Eigene Kuchenrezepte, die nicht schmecken? Oder ein Theaterstück ohne Hauptdarsteller? Oft undenkbar. 

Kein kurzweiliger Trend, sondern eine überzeugte Haltung
Ein modischer Trend oder gar eine neue Erfindung ist Projektarbeit nicht. Projektunterricht war bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts aktuell. Als Vater der Pro- jektidee gilt der Philosoph John Dewey. Bereits 1917 proklamierte der Amerikaner in seinem Buch «Demokratie und Erziehung», dass sich Unterricht an der Lebenspraxis orientieren soll. Learning by Doing war sein Credo: Er war überzeugt, dass erst die lernende Beschäftigung mit Situationen und Problemen Wirklichkeit schafft. Die damals revolutionäre Meinung von Dewey ist heute allgemeiner Standard.

«Die Praxis macht deutlich, dass weder Lehrende noch Lernende im Projektunterricht eine starke Verbindung zum selbstgesteuerten Lernen sehen und dies eher wenig beobachtet werden kann»

Auch Beat A. Schwendimann, Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle LCH, sieht Projektarbeit als eine wichtige Bereicherung des schulischen Lernens. «Projektarbeit ermöglicht die Verbindung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dabei werden überfachliche Kompetenzen wie Zeitplanung, Umgang mit Konflikten, Kommunikation sowie Selbst- und Fremdreflexion gefördert», konkretisiert Schwendimann. Projektmanagement gehört damit zum Vokabular jeder Sekundarschule, jeder Grossbank und jeder Kleinfamilie. Eigenverantwortung, Konfliktmanagement und Teamfähigkeit sind beruflich und privat zentral. Die Anforderungen an die Schule sind entsprechend hoch. 

Projektarbeit wird der Realität in der Schule nicht gerecht
Dass genau diese Ansprüche, die Pädagogik, Eltern und Wirtschaft an den Projektunterricht in Schulen stellen, unrealistisch sind, zeigt die deutsche Bildungswissenschaftlerin Silke Traub auf. «In der Theorie wird Projektunterricht als selbstgesteuerte Lernumgebung gesehen, durch die selbstgesteuertes Lernen möglich wird. Die Praxis hingegen macht deutlich, dass weder Lehrende noch Lernende im Projektunterricht eine starke Verbindung zum selbstgesteuerten Lernen sehen und dies eher wenig beobachtet werden kann», schreibt Traub in ihrem Buch «Projektarbeit – ein Unterrichtskonzept selbstgesteuerten Lernens?». 

Traubs 2012 veröffentlichte Forschungserkenntnisse stellen klar: Projektunterricht kann dem an ihn gestellten Anspruch in der Schulwirklichkeit nicht gerecht werden. Die in der Theorie für die Praxis entwickelten Modelle bleiben unberücksichtigt. Die Merkmale selbstgesteuerten Lernens werden nur ansatzweise oder gar nicht eingelöst. Basierend auf diesen Erkenntnissen entwickelte Traub die PROGRESS-Methode. Diese soll Kindern helfen, selbstverantwortlich und selbstgesteuert Inhalte zu entdecken und zu erarbeiten. Im Kern steht das «Sandwich-Prinzip». Das bedeutet, dass sich die Lernenden zwischen instruktionalen und selbstgesteuerten Lernphasen bewegen. 

Verschiedene Methoden und Modelle stehen zur Auswahl
Neben Traubs Phasenmodell bietet die Fachliteratur weitere methodische Ansätze, wie Projektunterricht umgesetzt werden kann, sei es die Individuelle Interessenforschungs-Methode (IIM) oder das «Projektschema Lipp». Letzteres hat Erich Lipp an der Pädagogischen Hochschule Luzern entwickelt. «Projekte oder auch längere, selbstständige Lernaufträge laufen immer nach gleichen Phasen ab», erklärt Lipp. Zuerst gilt es, die Projektidee zu entwickeln, dann kommt das Vorbereiten und Planen dazu. In den nächsten Schritten werden Lösungen entwickelt, gestaltet, abgeschlossen und schliesslich ausgewertet. 

«Die Projektarbeit ist nach unserem Ermessen noch nicht in der Primarschule angekommen»

Der Projektunterricht orientiert sich am Lehrplan 21, in welchem sowohl fachliche als auch überfachliche Kompetenzen im Zentrum stehen. Er erhält explizit Zeit und Raum vor allem im Zyklus 3, meistens in der neunten Klasse. Auf dieser Schulstufe wurde Projektarbeit in vielen Kantonen sogar obligatorisch. «Das ZIPP wurde von Anfragen überhäuft. Wir berieten Schulen und führten Weiterbildungen in der gesamten Deutsch- und Westschweiz durch», erinnert sich Lipp. 

Projektarbeit «passiert nicht einfach», sondern will gelernt sein
Heute gestaltet sich die Situation ruhiger. Während die Lehrerinnen und Lehrer auf der Oberstufe sich mit dem Projektunterricht arrangiert haben, zeigen Kindergarten- und Primarschullehrpersonen wenig Interesse an einer Beratung. «Die Projektarbeit ist nach unserem Ermessen noch nicht in der Primarschule angekommen», stellt Lipp fest. Beispiele aus der Praxis würden jedoch zeigen, dass Projektunterricht auf allen Stufen erfolgreich möglich sei. Aus Sicht des ZIPP-Leiters ist dazu die Haltung der Lehrpersonen entscheidend. «Diese basiert auf der Frage: Wie können wir den Kindern helfen, mündige Bürgerinnen und Bürger zu werden, solche, die selbst gestalten und entsprechend hinterfragen?», sagt er. 

Die Angst, dass die Lehrperson dabei zur Statistin wird oder nur als «Coach» waltet, ist unbegründet.

Oberstufenlehrpersonen seien oft frustriert, wenn ihre Schülerinnen und Schüler bereits an der Entwicklung einer Projektidee scheitern. Dies sei aber kaum erstaunlich, betont Erich Lipp. «Lernende brauchen Zeit und Übung, um mit der Selbstständigkeit und Selbstverantwortung umgehen zu können. Wie komme ich zu einer guten Idee? Wie kann ich einen Plan erstellen? Und wie setze ich mein Vorhaben letztlich um? All diese Arbeitsschritte müssen gelernt und umgesetzt werden.» Die Angst, dass die Lehrperson dabei zur Statistin wird oder nur als «Coach» waltet, ist unbegründet. Im Projektunterricht nimmt die Lehrperson verschiedene Rollen ein, sei es Auftraggeberin, Vermittlerin oder Beurteilerin. «Und das ist viel Arbeit», weiss der gelernte Sekundarlehrer Lipp aus Erfahrung. 

Finnland dient als Vorbild für die Projektarbeit
Dass sich diese Arbeit lohnt, hat Finnland mit den Glanzresultaten in den PISA-Studien gezeigt. Für die finnischen Schülerinnen und Schüler gehört Projektarbeit seit Jahren zum Schulalltag. Medien berichteten sogar, dass Finnland anstelle von Schulfächern gänzlich auf interdisziplinären und interaktiven Wissenserwerb setzt. 2018 titelte das Deutsche Schulportal etwa: «Bildungsrevolution: Finnland schafft die Schulfächer ab». Die Welt blickte ungläubig und leicht beunruhigt in den hohen Norden, bis das finnische Bildungsministerium Stellung bezog: Die Schulfächer werden nicht abgeschafft. Der aktuelle Kernlehrplan konzentriert sich jedoch auf kompetenz- und schulfachübergreifende Arbeiten – konstant und nicht nur während einer einmaligen Sonderwoche kurz vor den Ferien. 



Weiter im Text 
Silke Traub: «Projektarbeit erfolgreich gestalten. Über individualisiertes, koope- ratives Lernen zum selbstgesteuerten Kleingruppenprojekt», 2012, Klinkhardt, Bad Heilbrunn. 

Silke Traub: «Projektarbeit – ein Unterrichtskonzept selbstgesteuerten Lernens? Eine vergleichende empirische Studie», 2012, Klinkhardt, Bad Heilbrunn. 

Stephan Marti (Hg.): «Wirksamer Projektunterricht», 2021, Schneider Hohengehren, Baltmannsweiler.

Erich Lipp et al.: «Projekte begleiten: Grup- penprojekte und individuelle Arbeiten auf der Sekundarstufe. Handbuch für Lehrpersonen und Praxishilfe», 2011, Schulverlag plus, Bern.

Erich Lipp et al.: «Projekte realisieren: Gruppenprojekte und individuelle Arbeiten auf der Sekundarstufe. Leitfaden für Schülerinnen und Schüler», 2012, Schulverlag plus, Bern. 

Weiter im Netz 
www.phlu.ch/zipp/ – Zentrum Impulse für Projektunterricht und Projektmanagement www.iimresearch.ch – Individuelle Interessenforschungs-Methode 


publiziert Mai 2021 in “Bildung Schweiz (05/2021)

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