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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Aber bitte feinfühlig!

Aber bitte feinfühlig!

Was brauchen Kinder, um zu lernen? Feinfühligkeit, lautet die Antwort von Karin und Klaus Grossmann. Das Wissenschaftlerpaar erforscht seit über dreissig Jahren das Bindungsverhalten von Kindern. 

Weil Stefanie oft zu spät zum Unterricht erscheint, wird sie von Herrn Ott während der ersten Schulstunde ignoriert. Zusätzlich nennt er sie nur noch «Steffi-Spät». Wer bei Frau Wyss nicht aufpasst, muss mit Gebrüll rechnen. Oft so laut, dass sich die Kinder ängstlich ducken. Von Feinfühligkeit fehlt jede Spur. Doch genau diese proklamiert das deutsche Wissenschaftlerpaar Karin und Klaus Grossmann. Die beiden erforschen seit Jahrzehnten, wie sich Bindung bei Kindern entwickelt und wie sie das Lernverhalten beeinflusst. Ihre Studien und Publikationen zur Bindungstheorie werden weltweit beachtet. Weltweit gehören aber auch Lehrpersonen wie Herr Ott und Frau Wyss zum Schulalltag von Millionen von Kindern, trotz der wissenschaftlichen Evidenz, dass Bildung nur mit Bindung und Feinfühligkeit funktioniert. Wo liegt das Problem und wo die Lösung? 


«Feinfühligkeit ist die Fähigkeit des Erwachsenen, die Signale eines Kindes wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren, angemessen und prompt auf sie zu reagieren.» Diese Feinfühligkeits-Definition stammt von der Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth. Gibt es im pädagogischen Kontext etwas beizufügen? 
KARIN UND KLAUS GROSSMANN: «Ja – unbedingt! Es ist wichtig, die «silent signs» – die stummen Zeichen – nicht zu vergessen. Das sind nonverbale Verhaltensweisen von Kindern wie Tagträumerei, Verlegenheit, Nervosität oder Angst. Das Kind ist dadurch nicht auf der Ebene des Zuhörens. Verstehen und Lernen werden damit erschwert. Es liegt nun an der Lehrperson, «in Beziehung» mit dem Kind zu treten und es als Zuhörer zurückzugewinnen. Bleibt dieser Schritt von der Seite des Erwachsenen aus, bleibt auch die Beziehung zum Kind auf der Strecke. Damit fehlt dem Kind eine wichtige Basis, um zu vertrauen und zu lernen.»


Wie soll Feinfühligkeit zwischen Lehrperson und Kindern stattfinden beziehungsweise gelernt werden? 
«Feinfühligkeit wird immer von der stärkeren und weiseren Person erwartet. Das liegt in der Entwicklung. Bindung und Feinfühligkeit werden von Geburt an gelernt. Kinder orientieren sich dabei immer an den Stärkeren: zu Hause an den Eltern, im Schulkontext an der Lehrperson. Eindrücklich zu beobachten ist das bei Schulanfängerinnen und -anfängern. Sie scharen sich um die Lehrperson, schauen zu ihr auf, suchen die körperliche Nähe, eine nonverbale Bestätigung, sei es ein Schulterklopfen oder ein motivierendes Zuzwinkern. Die Kinder suchen Bestätigung, Akzeptanz und damit auch Bindung. Eine Lehrperson, die durch feinfühliges Handeln dieses Bedürfnis der Kinder stillt, schafft automatisch eine Beziehung zum Kind und damit eine Basis für erfolgreiches Lernen. Es ist aber auch wichtig zu betonen, dass viele Kinder im Elternhaus eine sehr sichere Bindung erfahren und mit diesen starken Beziehungen im Rücken die Bestätigung der Lehrpersonen weniger brauchen als Kinder mit einer unsicheren Bindung.»


«Feinfühligkeit ist lernbar – kulturell oder akademisch. Nur ist es oft schwer, sie Erwachsenen beizubringen.


Wahrnehmen, interpretieren, angemessen reagieren: Was einfach klingt, scheint in der Praxis oft problematisch. Die brüllende Pädagogin und den ignoranten Lehrer kennen wir alle aus eigener Erfahrung. Was ist hier schiefgelaufen? 
«Oft handeln Lehrpersonen unbewusst. Ein Kind im Unterricht nie aufzurufen oder zu schikanieren, muss keine böse Absicht sein, sondern ein unreflektiertes Verhalten, das sich mit der Zeit als festgefahrene Routine etabliert. Entsprechend stösst bei gestandenen Lehrpersonen das Thema Feinfühligkeit auf wenig Interesse. Es würde bedeuten, die eigenen Prinzipien zu hinterfragen und zu verändern.»


Basiert diese ablehnende Haltung auf der Tatsache, dass rund die Hälfte der Lehrpersonen selbst über keine sichere Bindung verfügen beziehungsweise ihr eigenes Verhalten auf unsicheren Bindungserfahrungen beruht, wie Andrea Beetz in ihrer Untersuchung herausgefunden hat? 
«Feinfühligkeit ist lernbar – kulturell oder akademisch. Nur ist es oft schwer, sie Erwachsenen beizubringen. Der bekannte amerikanische Psychologe Robert C. Pianta hat dazu Versuche durchgeführt. Schulkinder, die von der Lehrperson als «konfliktreich» eingestuft wurden, bekamen Zeitguthaben, sogenannte «banking time», von jeweils etwa 20 Minuten, um sich mit der Lehrperson zu treffen. Die Gesprächsregeln waren strikt und klar: Das Kind übernimmt die Gesprächsführung und stellt die Fragen. Die Lehrperson war zum Zuhören, Beobachten und Antworten verpflichtet. Pianta untersuchte, wie sich das Verhalten der Lehrperson und des Schulkindes im Klassenverband veränderte. Schon nach weniger als fünf Treffen war sichtbar, dass sich die Beziehung verbessert hatte. Die Lehrperson war dem Kind gegenüber aufmerksamer. Das Kind war vermehrt in der Lage, die Kontaktaufnahme der Lehrperson zu erwidern, sich mit ihr zu besprechen und sich auf Lösungen einzulassen.»

Wie spiegeln sich Piantas Erfahrungen in Feinfühligkeitstrainings? 
«
Lehrpersonen reden viel und achten wenig auf den Dialog und darauf, was das Kind auszudrücken versucht. Wie oft höre ich zu oder mache Pausen im Unterricht, um Reaktionen zuzulassen? Und wie oft höre ich Fragen und beantworte sie? Eine Lehrperson, die sich bewusst diesen Fragen stellt, reagiert gegenüber den Schülerinnen und Schülern bewusster. Individuelle Aktivitäten zwischen Kind und Lehrperson – zum Beispiel wie die Gespräche bei Pianta – stärken die Beziehung zwischen den zwei Parteien und differenzieren auch die gegenseitige Wahrnehmung: «Ich kenne mein Gegenüber. Wir haben gute gemeinsame Erfahrungen gemacht, an die wir anknüpfen können.» 


«Drei-, vier- oder fünfjährige Kinder haben nur über Bindung einen Zugang zu Bildung. Ohne Beziehung gibt es nur wenig Lernen.


Und was ist mit den brüllenden Lehrpersonen? 
«Vergreift sich eine Lehrperson in Ton und Lautstärke, kann das ein Zeichen von Stress, Überforderung und mangelnder Zeit sein. Denn sich bewusst und damit feinfühlig mit einzelnen Schülerinnen oder Schülern im Klassenverband auseinanderzusetzen, braucht Raum und Zeit. Beides ist Mangelware. Wenn in einer Klasse mit 25 Kindern etwa zwei bis drei Schüler oder Schülerinnen eine angemessene Eins-zu- eins-Betreuung brauchen, ist das machbar. Handelt es sich jedoch um einen Drittel der Klasse, hat die Lehrperson schlicht keine Chance, Feinfühligkeit und Beziehung hin oder her. 


Was ist die Lösung? 
«In Finnland werden Lehrpersonen im Klassenzimmer durch ausgebildete Assistentinnen und Assistenten unterstützt, die sich der Kinder annehmen, die mehr emotionale Unterstützung brauchen. Das Ziel ist es nicht nur Klassen zu unterrichten, sondern Individuen, vor allem die, die es dringend brauchen. Dies ist mit einer individuellen Gestaltung in der Klasse durchaus möglich. Eine Studie des englischen Psychiaters Michael Rutter Ende der 70er- Jahre hat eindrücklich aufgezeigt, dass auch Schulstrukturen und Werte – Rutter nennt sie «Schulischer Ethos» – einen Einfluss auf Beziehungen und Feinfühligkeit im Schulalltag haben.»


Sie persönlich betrachten Feinfühligkeit und Bindung nicht nur als Grundhaltung einer Lehrperson, sondern als generellen Lösungsansatz bei zwischenmenschlichen Problemen. Ihre Aussage «Schaffen wir das mit Ritalin oder Beziehung?» polarisiert. Wo sind die Grenzen der Feinfühligkeit?
«Drei-, vier- oder fünfjährige Kinder haben nur über Bindung einen Zugang zu Bildung. Ohne Beziehung gibt es nur wenig Lernen. Lernprobleme sind mit grösster Wahrscheinlichkeit Bindungsangelegenheiten. Auch später bleibt eine gute persönliche Beziehung ein zentrales Element. Feinfühligkeit gehört dazu. Wo die Feinfühligkeit endet? Dort, wo die Gefühle und die Persönlichkeitsrechte des anderen verletzt oder ausgenutzt werden.»


Das Ziel ist es nicht nur Klassen zu unterrichten, sondern Individuen, vor allem die, die es dringend brauchen.


Und wie sieht Feinfühligkeit in Zeiten von Corona und distanziertem E-Learning aus?
«Für ältere Kinder ist das Lernen von zu Hause aus vor dem Computer kein Problem. Auf intellektueller Ebene können sie die Situation verstehen. Jüngeren Kindern fehlt dieses Verständnis. Zusätzlich bleibt die nonverbale Kommunikation aus. Nachahmen, kopieren, ein Nicken der Lehrerin, ein Schulterklopfen des Lehrers: All dies fehlt. Das frustrierende Gefühl des Nichtverstehens kennen wir alle. Den Umgang damit lernen wir mit der Zeit. Kleine Kinder sind diesem Gefühl ausgeliefert. Und genau hier würde es Feinfühligkeit brauchen.»




Weiter im Text 
Andrea Beetz: «Zur Problematik unsicherer Bindung bei Lehrern und Erziehern in der Sonderpädagogik mit dem Förderschwer- punkt soziale und emotionale Entwick- lung.» In: Heilpädagogische Forschung 2, 2014, S. 77-86. 

Weiter im Netz 
www.bit.ly/2XAe4EM – Konzept «Banking Time» www-app.uni-regensburg.de/Fakultaeten/ PPS/Psychologie/Grossmann/ – Website von Karin und Klaus Grossmann 


publiziert Februar 2021 in “Bildung Schweiz” (02/2021)

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