Oh boy!
Stillsitzen, Fleiss und Pflichtgefühl: Viele Jungen tauchen unter dem Radar der gängigen Belohnungskultur im Schulunterricht durch. Sie kollidieren dafür umso heftiger mit dem Bestrafungssystem. Was läuft falsch?
Es gibt so viele Belohnungssysteme wie Lehrpersonen. Die einen kleben Smileys auf Tabellen, die anderen verteilen Awards oder setzen auf Glitzersteine und ausgeklügelte Bonussysteme. Genauso divers sieht es bei den Bestrafungen aus. Kinder bekommen Sticker mit weinenden Gesichtern und werden von Klassenaktivitäten ausgeschlossen. Sie erhalten rote und schwarze Verwarnungskarten, sitzen an isolierten Einzeltischen im Unterricht und am freien Nachmittag im Schulzimmer. Es fällt auf, dass sich unter den belohnten Kindern mehrheitlich Mädchen, unter den sanktionierten vor allem Jungen befinden. Eine Verallgemeinerung ist unmöglich. Es gibt den «sanften» Jungen und das «unangepasste» Mädchen. Was typisch männlich oder typisch weiblich ist, basiert oft auf subjektiven Erwartungen. Fakten liefern hingegen eine Anzahl von Studien.
Was Jungen antreibt, schadet ihnen in der Schule eher
Der deutsche Aktionsrat Bildung, ein Expertengremium aus Bildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, hat 2009 ein Gutachten zu Geschlechterdifferenzen im Bildungssystem erstellt. Darin wird klar festgestellt, dass Jungen und Mädchen anders behandelt und auch unterschiedlich benotet werden. Zum Tragen kommt bei gleichen Leistungen ein Mädchenbonus für angepassteres Verhalten, aktivere Mitarbeit und selbstgesteuertes Lernen.
Wurde schon je ein «spontanes Kräftemessen» auf dem Pausenplatz mit einem Award belohnt? Oder «ausgeprägtes ehrgeiziges Verhalten» im Klassenzimmer mit einem Silberstern ausgezeichnet? Kaum.
Die Wissenschaftler Detlef Berg, Lukas Scherer, Thomas Oakland und Timothy Tisdale zeigen in ihrer Studie auf, dass ein grosser Teil der Lehrpersonen unterschiedliche genderspezifische Erwartungen an Mädchen und Jungen haben. Während die Lehrenden zu dem von ihnen erwarteten Schülerverhalten Stellung nahmen, schätzten die Schulkinder ihr eigenes Verhalten ein. Laut Detlef Berg sind Jungen erfolgreich in der Schule, «wenn sie ihre Verhaltensstile so beschreiben, wie sie von Lehrern bei Mädchen erwartet werden». Honoriert werden Sanftmut, Fleiss, Anpassungsfähigkeit, Ordnungssinn, Pflichtgefühl, Ruhe und Mitgefühl. Jungentypisches Betragen bleibt im Schulkontext ungünstig und nachteilig. Wurde schon je ein «spontanes Kräftemessen» auf dem Pausenplatz mit einem Award belohnt? Oder «ausgeprägtes ehrgeiziges Verhalten» im Klassenzimmer mit einem Silberstern ausgezeichnet? Kaum.
Sigrid Wagner kennt solche Szenarien aus eigener Erfahrung. Die 65-jährige Pädagogin hat nicht nur 22 Jahre an verschiedenen Schulen unterrichtet, sondern ist auch Mutter von vier Söhnen und einer Tochter. Ihr 2018 publiziertes Buch «Das Problem sind die Lehrer. Eine Bilanz» polarisiert bis heute. Wagner schreibt klar: «Unser Schulsystem hat mittlerweile einen neuen männlichen Schülertypus geprägt, der sich ständig gezwungen sieht, in weibliche Verhaltensmuster zu schlüpfen, um schulisch einigermassen über die Runden zu kommen.» Müssen Schüler wirklich weiblicher werden, um im Unterricht gleich belohnt zu werden wie ihre Mitschülerinnen?
Was Begriffe wie «Sonnenkinder» und «Wolkenkinder» anrichten
«Fast immer lässt sich beobachten, dass die Lehrperson zu Beginn lachende Sonnen und weinende Wolken oder Ähnliches verteilt, nach einigen Wochen aber ‹Sonnenkinder› und ‹Wolkenkinder› vor sich sitzen sieht», konkretisiert Stefanie Rietzler, Psychologin und Leiterin der Akademie für Lerncoaching in Zürich. Angepasste Schulkinder erhalten durch die Belohnung maximal einen kurzfristigen Ansporn. Wer jedoch die Belohnung immer verpasst, fühlt sich bestraft, und das wirkt nachhaltig. «In der Regel führt diese Situation nicht zu einer Verhaltensänderung, sondern zu einer Stigmatisierung des Kindes», sagt Psychologin Rietzler.
Wer jedoch erneut im Timeout- Raum landet, gilt in der Peergroup als mutig und cool. Diese Anerkennung liegt dabei quer zu den schulischen Logiken und Erwartungen und sabotiert jegliche Belohnungssysteme.
Das Risiko, dass die Rolle der Jugen als aufmüpfige Störenfriede zementiert wird, ist dabei latent. Praktiken wie Selbstinszenierung, Provokation, Humor, Ironie und Solidarität werden laut Erziehungswissenschaftler und Jungenforscher Jürgen Budde von Jungen angewendet, um symbolisches Kapital zu kumulieren und damit in der gleichgeschlechtlichen Peergroup akzeptiert zu werden. In Belonungssystemen tauchen diese Attribute nicht auf. Wer jedoch erneut im Timeout- Raum landet, gilt in der Peergroup als mutig und cool. Diese Anerkennung liegt dabei quer zu den schulischen Logiken und Erwartungen und sabotiert jegliche Belohnungssysteme.
Gleichgültigkeit stellt sich bei den Jungs ein
Eine Passage aus dem Buch «Jungs im Abseits» von Leonard Sax zeigt symbolisch anhand von jungen männlichen und weiblichen Schimpansen, wie sich ihr Verhalten differenziert. Drei Anthropologen beobachteten während vier Jahren freilebende Schimpansen in Tansania. Die jungen weiblichen Tiere schauten von den Eltern gewisse Fähigkeiten ab, wie sie zum Beispiel Termiten angeln. Die jungen männlichen Affen hingegen kümmerte das wenig: Sie rauften sich mit Altersgenossen oder schwangen von Ast zu Ast. «Dies kann man natürlich nicht eins zu eins übertragen, aber ich beobachte, dass es Jungs sehr wichtig ist, es gut mit den anderen Jungs zu haben. Die Mädchen sind zum Teil sehr angepasst», skizziert Sozialpädagoge Roger Frick eine typische Klassenkonstellation. «In manchen Klassen dominieren die Jungs dann das Gruppengeschehen. Mit Belohnungssystemen versuchen Lehrpersonen dem entgegenzuwirken.»
«Unsere Erfahrung in der Beratung von Lehrpersonen zeigt, dass weder ein Belohnungs- noch ein Bestrafungssystem gut funktioniert. Es hat den Effekt, dass es tendenziell den Jungs total egal wird.»
Roger Frick arbeitet als Regionalleiter beim Schweizerischen Institut für Gewaltprävention (SIG) und führt an Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen Weiterbildungen zum Strafen und Belohnen durch. Der Umgang mit herausfordernden Schulkindern ist dabei ein zentraler Aspekt. «Unsere Erfahrung in der Beratung von Lehrpersonen zeigt, dass weder ein Belohnungs- noch ein Bestrafungssystem gut funktioniert. Es hat den Effekt, dass es tendenziell den Jungs total egal wird», umschreibt Frick seine Erkenntnisse aus der Praxis. In einer Weiterbildung schilderte ihm eine Lehrerin, deren Belohnungs- und Bestrafungssytem im Verteilen und Beschlagnahmen von Glitzersteinen bestand, folgendes Szenario. Nach wenigen Monaten in der ersten Klasse kam ein Schüler entschlossen zu ihr, legte drei Steine auf das Pult und meinte klar: «Bei dieser Sache mache ich nicht mehr mit.»
Feedback muss klar, direkt und konkret sein
Es gibt kein Belohnungssystem, das Mädchen und Jungen gerecht wird, wenn möglich geschlechtsneutral ist und gleichzeitig jedes Kind und sein Leistungsniveau fördert. Gefragt sind Alternativen. Roger Frick empfiehlt effektive Formen von Feedback. Das heisst, dass die Lehrperson im Unterricht klare Hinweise gibt, richtige Verhaltensweisen verstärkt, Rückmeldungen in direkter Verbindung zu Aufgaben und Lernzielen formuliert und in Konfliktfällen individuelle Lösungen sucht. «Bleiben Sie beharrlich, investieren Sie in ein gutes Klassenklima und in die Elternarbeit und vernetzen Sie sich mit anderen Fachlehrpersonen in Ihrer Klasse», appelliert Frick an die Lehrerinnen und Lehrer. Anstelle von Glitzersteinen und weinenden Wolken rücken logische Konsequenzen in den Vordergrund. Oh boy – das ergibt Sinn!
publiziert Juli 2021, Zeitschrift “Bildung Schweiz” (07/08/ 2021)