Weltklasse auf Sinnsuche
Singapur ist eine der erfolgreichsten Bildungsnationen, doch konstant getrieben von der Angst, Fehler zu machen. Kreativität und Innovation bleiben oft auf der Strecke. In Zukunft soll sich das ändern. Aber wie?
Singapur und seine Schulkinder stehen dort, wo wohl weltweit alle Bildungsminister, Lehrpersonen, Eltern und Teenager gerne stehen würden: an der Spitze der aktuellsten PISA-Studie. Ob Lesen, Mathematik oder Naturwissenschaften: Der kleine Stadtstaat belegt in allen Kategorien den 1. Platz – und behauptet sich damit erfolgreich gegen eine halbe Million Schülerinnen und Schüler aus mehr als 70 Ländern. Veröffentlicht wurden die Resultate 2016 von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Erstmals in der Geschichte der PISA-Studie testete die OECD auch die «Problemlöse-Fähigkeiten» der 15jährigen Schülerinnen und Schüler. Auch hier belegte der asiatische Kleinstaat den ersten Platz.
Zahlreiche Nachahmer rund um den Globus stehen bereit
Dass Singapur bildungstechnisch keine Eintagsfliege ist, zeigen die vergangenen Jahre. Die 5,5-Millionen-Metropole gehört konstant zu den Top-Bildungsnationen bei internationalen Studien – sei es bei PISA oder bei Wettkämpfen wie der Internationalen Mathematik und Wissenschafts Olympiade (IMSO). Der durchschlagende permanente Erfolg ruft Nachahmer auf den Plan. Dutzende von Staaten, von Australien über die USA bis nach Holland, haben die singapurischen Lehrmittel adaptiert (siehe Kasten).
Eine zentrale Frage klafft wie ein Krater mitten in der Förderlandschaft: Wenn Schulbücher und Drillsystem wirklich so smarte Kinder produzieren, wo sind denn die singapurischen Erfinder, Poetinnen, Kunstschaffenden und Wissenschaftler, die die Welt verändern?
Doch trotz weltweit beachteten Lehrmitteln sind die grossen Stützen des lokalen singapurischen Schulsystems immer noch Drill, Druck und Disziplin. Singapur stellt den akademischen Erfolg über alles. Das einzige Potenzial des Landes ist die nächste Generation. Kinder werden dadurch zu Bergwerken – gefördert bis zum Zusammenbruch. Privatlehrpersonen, die die Schülerinnen und Schüler in deren Freizeit auf Höchstleistungen trimmen, sind an der Tagesordnung. Pro Jahr geben Eltern in Singapur an die 800 Millionen Franken für Förderunterricht aus. Schon 40 Prozent aller Vorschulkinder erhalten Förderunterricht, bei den Primarschülerinnen und -schülern sind es 80 Prozent. 2015 waren im kleinen Staat 850 Nachhilfe und Förderzentren registriert – Tendenz steigend. Scheitern ist keine Option. Gesellschaftlich zählen nur die Sieger. Nur wer Leistung bringt, hat eine Existenzberechtigung.
Wer im Schulalltag wiederholt nicht gehorcht und sich widersetzt, dem droht die Prügelstrafe. Wer schulisch versagt, versinkt geächtet im gesellschaftlichen Niemandsland. Schlagzeilen von Teenagern, die Suizid begehen, weil sie den Leistungsdruck nicht ertragen und Angst haben, ihre Familien zu enttäuschen, sind im kleinen Land keine Seltenheit. Schlechte Schulleistungen sind ein Drama für die ganze Familie. 2015 brachte sich ein 16jähriges Mädchen um, weil sie in der Schule keine Bestnoten erhielt. Drei Monate später brachte sich auch ihre Mutter um.
Weltklasse wird man nicht durch Spielen und Spasshaben
Der westliche Unterrichtsstil, geprägt durch spielerisches Lernen und offene Unterrichtsformen, ist für viele Asiaten der Inbegriff von westlichem «Laisser-faire». Weltklasse wird man nicht durch Spielen und Spasshaben. Die nationalen öffentlichen Schulen – singapurischen Kindern ist der Zutritt zu privaten internationalen Schulen per Gesetz verwehrt – sollen der westlichen Verweichlichung entgegenwirken und die singapurischen Kernwerte verinnerlichen: Gehorsam, Disziplin und Erstklassigkeit. Schon für einen Erstklässler ist die Schule eine pausenlose Leistungsschau, geprägt von der Angst, den Anschluss zu verpassen. Kreativität bleibt auf der Strecke, und eine zentrale Frage klafft wie ein Krater mitten in der Förderlandschaft: Wenn Schulbücher und Drillsystem wirklich so smarte Kinder produzieren, wo sind denn die singapurischen Erfinder, Poetinnen, Kunstschaffenden und Wissenschaftler, die die Welt verändern?
Kiasu sei ein kulturelles Phänomen, doch auch der Motor hinter dem Erfolg des noch jungen Staates Singapur, sagen Einheimische. Denn nur Mittelmass sein war hier nie eine Option.
Singapur hat für das konstante rücksichtslose Streben nach Leistung und Erfolg ein eigenes Wort entwickelt: «Kiasu». «Kia» bedeutet im Chinesischen «Angst haben» und «su» steht für «verlieren». Es ist die Angst zu scheitern, Fehler zu machen, zurückzubleiben und zum Verlierer zu werden. Der Freigeist wird dadurch schon im Keim erstickt. Für Kreativität fehlen Zeit, Raum und Beachtung. Kiasu sei ein kulturelles Phänomen, doch auch der Motor hinter dem Erfolg des noch jungen Staates Singapur, sagen Einheimische. Nur Mittelmass sein war hier nie eine Option. Singapur den Siegern! Fehler gibt es aus Prinzip keine. Wenn sie trotzdem passieren, bleiben sie oft ein lebenslanger Makel. Doch in einer agilen, vernetzten und dynamischen Welt wirkt Kiasu ungemein hemmend und kontraproduktiv. Denn Innovation ist nur möglich, wenn man Fehler machen darf und dennoch eine Wertschätzung erhält. Lernen durch Fehler macht Entwicklung erst möglich – sei es in der Schule oder in einer innovativen Wirtschaft. Singapur lechzt nach einer Fehlerkultur. Ein posi tives «Fehlermanagement» soll das altein gesessene Kiasu ersetzen und Kreativität und Innovation fördern.
Deakademisierung in Gang gesetzt
Für die Bildungswelt bedeutet dies, das Schulcurriculum ansatzweise zu «deakademisieren». Der Premierminister und das Bildungsministerium versuchen der Bevölkerung aufzuzeigen, dass ein Tag ohne Hausaufgaben kein schlechter Tag ist, dass Fehler machen in Ordnung ist und Scheitern auch Weiterkommen bedeuten kann. Heute erlernt nur, wer akademisch gescheitert ist, einen handwerklichen Beruf. Das Land verfügt dadurch wohl über Tausende von Uni-Abgängerinnen und -Abgängern, aber kaum fähige Fachkräfte. Ein duales Berufsbildungssystem nach Schweizer Vorbild soll das ändern. Die Botschaft ist klar: Ein gutes Leben ist auch ohne Uni-Abschluss und Bestnoten möglich. Fehler sollen enttabuisiert werden.
Die Bevölkerung soll auch begreifen, dass Zeit zum Spielen und für Aktivitäten im Freien keine verlorene Zeit ist, sondern zur persönlichen und schulischen Entwicklung beiträgt. Mehr Beachtung sollen Aktivitäten in der Natur erhalten. Ab 2020 werden alle Kinder während ihrer Schulzeit in drei Outdoor-Camps geschult. Laut Erziehungsminister Ng Chee Meng lernen sie dabei «Lektionen fürs Leben», die im Schulzimmer nicht möglich seien. Zusätzlich sind singapurische Bildungsdelegationen rund um den Globus unterwegs, um die besten und erfolgversprechendsten Aspekte anderer Nationen zu analysieren und wenn notwendig zu importieren.
«Wenn der Schulunterricht zu lasch wird, werde ich für meine Kinder zusätzliche Privatlehrer engagieren. Kreativ können die Kinder später im Leben sein.»
Die Bevölkerung schaut ihren Ministern gelassen zu, wie sie Erneuerungen in das Bildungssystem einfliessen lassen. Bereit ist die Bevölkerung dafür kaum. Kein Uni-Abschluss gilt immer noch als gesellschaftliches Versagen. Schulleistungen dominieren den Alltag von Eltern und Kindern. Fehler sind eine Schande. Yue Lee (Name geändert), die in Singapur als Lehrerin arbeitet und Mutter zweier Söhne ist, sieht den Entwicklungen gelassen entgegen. «Wenn der Schulunterricht zu lasch wird, werde ich für meine Kinder zusätzliche Privatlehrer engagieren. Kreativ können die Kinder später im Leben sein.» Anders sehen das die singapurischen Autoritäten. 2021 wird die PISA-Studie auch kreatives Denken prüfen. Bis dann haben die singa purischen Schülerinnen und Schüler noch Zeit, auch darin Weltklasse zu werden.
publiziert Zeitschrift “Bildung Schweiz”, April 2018