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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Zum Abschalten ist immer die falsche Zeit

Zum Abschalten ist immer die falsche Zeit

Kinder und Jugendliche verbringen immer mehr Zeit in der virtuellen Welt. Wann und warum werden sie süchtig? Und was spielt die Schule dabei für eine Rolle?

Vernetzt ist jeder, Online-Sein ist die Norm. Doch für rund ein Prozent der über 14-Jährigen wird das «Vernetzt-Sein» zum Fallstrick. Die rund 70000 Betroffenen nutzen das Internet auf problematische Weise. Am stärksten betroffen sind laut dem «Schweizer Suchtpanorama 2019» die Jugendlichen. Das Onlineverhalten fast jedes zehnten 12- bis 19-Jährigen ist krankhaft. Doch wann sprechen die Fachpersonen von Sucht? Und von welcher Sucht ist die Rede – der Medien-, Internet-, oder Computerspielsucht?

«Internetsucht ist in meinen Augen ein irreführender Begriff. Man kann von verschiedenen Anwendungen süchtig werden: Menschen können computerspielsüchtig, internetpornografiesüchtig oder abhängig von sozialen Netzwerken sein, nicht aber vom Internet selbst», erklärt Paula Bleckmann, Professorin für Medienpädagogik an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. Bleckmann hat von 2010 bis 2014 zusammen mit einem interdisziplinären Forschungsteam zu Computerspielsucht geforscht und ist Autorin verschiedener Bücher zum Thema Medienerziehung.

Das Onlineverhalten fast jedes zehnten 12- bis 19-Jährigen ist krankhaft. Doch wann sprechen die Fachpersonen von Sucht? Und von welcher Sucht ist die Rede – der Medien-, Internet-, oder Computerspielsucht?

«Als ich 2010 begann, mich als Forscherin mit Computerspielsucht zu beschäftigen, wurde ich von vielen Kollegen belächelt. Damals war Computerspielsucht noch nicht als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt», erinnert sich die Wissenschaftlerin. Diese Situation hat sich geändert. Im Mai 2019 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Computerspielsucht als Diagnose «Gaming Disorder» in die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD 11) aufgenommen. Die ICD ist ein Diagnosenkatalog mit rund 55 000 Krankheiten, Symptomen und Verletzungsursachen. Die Computerspielsucht ist mit der Aufnahme in die ICD offiziell eine Krankheit. «Die Betroffenen bekommen damit schneller Hilfe, und auch für die Allgemeinheit ist das ein wichtiger Schritt, weil das Bewusstsein für die Notwendigkeit von Vorbeugung gegen digitale Süchte dadurch geschärft wird», betont Bleckmann, die selbst Mutter von drei Kindern im Jugendalter ist. Es gibt jedoch auch kritische Stimmen zum Entscheid der WHO. Wo ist die Trennlinie zwischen gesundem und krankhaftem Verhalten? Und sind auf einmal alle, die gern und viel spielen, krank und therapiebedürftig?

Anzeichen für eine Sucht
Gemäss der JAMES-Studie aus dem Jahr 2018 sind Jugendliche in der Schweiz zwischen 12 und 19 Jahren im Durchschnitt täglich zweieinhalb Stunden online, am Wochenende über vier Stunden. 94 Prozent von ihnen sind auf mindestens einem sozialen Netzwerk registriert. Dem Umgang mit dem Internet und den entsprechenden Risiken widmet sich die Studie «EU Kids Online: Schweiz». 67 Schulklassen mit total 1026 Schülerinnen und Schülern im Alter von 9 bis 16 Jahren wurden zu ihrem Umgang mit dem Internet und den erlebten Risiken befragt. Die 2019 veröffentlichten Resultate zeigen, dass ein Drittel der Befragten negative Folgen der Internetnutzung im Alltag feststellt. Knapp ein Viertel hat bereits erfolglos versucht, weniger Zeit im Internet zu verbringen.

Egal wie oft und wie gut ich spiele, irgendwann bin ich offline und irgendwo auf der Welt gibt es jemanden, der mir meine Position streitig macht. Zum Abschalten ist immer die falsche Zeit.

Doch wie merken Betroffene und ihre Nächsten, dass im Einzelfall ein Suchtverhalten vorliegt? «Manche Eltern bekommen sofort diese Angst ‹mein Kind ist sicher süchtig›, sobald ein Jugendlicher mal an einem Wochenende 16 Stunden zockt oder alle zwei Minuten die Nachrichten auf WhatsApp checkt», bringt Bleckmann die Haltung vieler Eltern auf den Punkt – und gibt Entwarnung. Die Zeit sei für die Diagnose nicht entscheidend, sondern die Antworten auf folgende Fragen: Verliert die Person Interesse an anderen Hobbys? Bricht der reale Kontakt zu Freunden ab? Verschiebt sich der Lebensmittelpunkt vom realen zum virtuellen Leben? Ist die Person gereizt, wenn das Internet ausfällt und sie nicht netzwerken kann? Lügt die Person andere an oder vertuscht sie, wie viel Zeit sie tatsächlich am Gerät verbringt? Ist sie in Gedanken ständig beim Spielen oder Chatten, auch wenn sie etwas ganz anderes tut?

 

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Der Reiz der virtuellen Welt
Die virtuellen Scheinwelten von Onlinespielen befriedigen reale und sehr zentrale Gefühle der Jugendlichen, sei es die Sehnsucht nach Anerkennung, Zugehörigkeit oder Autonomie. In einem Alltag, der oft von Notendruck, Versagensangst oder dem Kampf um Zugehörigkeit geprägt ist, bietet die virtuelle Scheinwelt den idealen Ersatz: Schnell und einfach wird geboten, woran man in der realen Welt täglich scheitert. Wer spielt, ist automatisch Teil einer Gemeinschaft. Je nach Spiel gehört man zu einem Clan, zum Beispiel bei «Clash of Clans», oder zu einer Gilde in «World of Warcraft». Es entstehen Beziehungen und Machtstrukturen, es herrschen Gruppendruck und Zwang und es gibt Zufallsbelohnungen oder Bestrafungen.

Wer der Thematik der digitalen Medien kritisch begegnet, riskiert, als ‹von gestern› tituliert zu werden, obwohl dieses kritische Hinterfragen gerade dem Part entspricht, den wir als erwachsene, medienmündige Vorbilder vorleben sollten.

Rollenspiele ereignen sich in Echtzeit. Die Spieldauer ist nicht begrenzt und das Spiel läuft stetig weiter. Das heisst, egal wie oft und wie gut ich spiele, irgendwann bin ich offline und irgendwo auf der Welt gibt es jemanden, der mir meine Position streitig macht. Zum Abschalten ist immer die falsche Zeit. Denn offline verpufft alle scheinbar gewonnene Anerkennung und Zugehörigkeit. Zurück bleiben eine innere Leere, ein Interessenverlust und eine Gleichgültigkeit demgegenüber, was ein reales Leben ausmacht: Beziehungen und Emotionen.

Wie notwendig sind Präventionsprogramme?
«Als beste Mediensuchtprävention erweisen sich ein gutes Verankertsein in der echten Welt, das die Möglichkeit des Wachsens am Widerstand der echten, analogenWelt bietet, und eine Medienabstinenz in den ersten Lebensjahren», weiss die erfahrene Pädagogin Brigitte Pemberger. Die Schweizerin ist Dozentin in der Weiterbildung «Medienmündigkeitspädagogik» der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. Ihre Präventionsgrundsätze sind klar: «Analog vor Digital», «Aktiv vor Passiv», «Produzieren vor Konsumieren». Pemberger ist sich bewusst, dass ihre Forderungen im Zeitalter des digitalen Lernens und Vernetztseins auf viel Unverständnis stossen. «Wer der Thematik der digitalen Medien kritisch begegnet, riskiert, als ‹von gestern› tituliert zu werden, obwohl dieses kritische Hinterfragen gerade dem Part entspricht, den wir als erwachsene, medienmündige Vorbilder vorleben sollten – sei es zuhause als Eltern oder in der Schule als Pädagogen», sagt die Mutter von zwei Kindergartenkindern.

In der Schweiz fehlt ein einheitliches, flächendeckendes Präventionsprogramm für Mediensucht – sei es direkt vom Bund, von allen Kantonen oder der Privatwirtschaft finanziert.

Nehme die Schule ihren pädagogischen Auftrag wirklich ernst, so gelte es, nachhaltige Medienkompetenz- und Gesundheitsförderung, nachhaltige Bildung und weitere übergeordnete Bildungsziele im Schulalltag zu vereinen. «Realisierbar ist das nicht mit einer Infobroschüre oder einem zweistündigen Workshop kurz vor Feierabend, sondern nur mit einer konsequenten, permanenten Auseinandersetzung mit dem Thema», betont Pemberger. Sie leitet seit 2018 die konzeptionelle Weiterentwicklung des deutschlandweit aktiven Präventionsprogramms «Echt dabei – gesund und gross werden im digitalen Zeitalter». Das von den Betriebskrankenkassen geförderte Programm macht Lehrpersonen, Eltern und Schülerschaft auf die Risiken der virtuellen Welt aufmerksam. An Lehrpersonen und Erziehende werden in Workshops Wissen und Praxistipps vermittelt. Elternabende widmen sich zwei Schwerpunkten: der an der kindlichen Entwicklung orientierten Medienerziehung hin zur Medienmündigkeit und dem Schutz vor Medienrisiken. Die Kinder ihrerseits setzen sich in interaktiven Theaterstücken mit den Risiken der virtuellen Welt und der Vielfalt bildschirmfreier Freizeitaktivitäten auseinander.

«Echt dabei» agiert nur in Deutschland. In der Schweiz fehlt ein einheitliches, flächendeckendes Präventionsprogramm für Mediensucht – sei es direkt vom Bund, von allen Kantonen oder der Privatwirtschaft finanziert. Es gibt in der Prävention von Onlinesucht jedoch mehrere regionale Angebote, die privat und von der öffentlichen Hand mitgetragen werden. Als Vorzeigeprogramm agiert «Freelance», ein Suchtpräventionsprogramm für Schulen, das den Konsum von Tabak, Alkohol, Cannabis und digitalen Medien thematisiert. Die kostenlosen Unterrichtseinheiten für die Sekundarstufe sind auf die Anforderungen des Lehrplans 21 ausgerichtet und zielen auf eine kompetenzorientierte Auseinandersetzung mit dem Thema Sucht. Hinter dem Programm stehen die Kantone Appenzell Ausserrhoden, Graubünden, Nidwalden, St. Gallen, Schaffhausen, Schwyz, Thurgau, Zug und Zürich sowie das Fürstentum Liechtenstein. Die Grundfinanzierung liegt bei den beteiligten Kantonen. Zusätzlich werden die einzelnen Themenpakete von privaten Gönnern finanziell mitgetragen.

Weiter im Netz
www.zhaw.ch > Departement wählen > Angewandte Psychologie > Forschung > Medienpsychologie > Mediennutzung > JAMES – JAMES-Studien
www.jugendundmedien.ch > Themen > Onlinesucht
www.fachverbandsucht.ch > Fachwissen > Themen > Onlinesucht
www.suchtschweiz.ch > Zahlen und Fakten > Digitale Welt
www.eukidsonline.ch – Studie «EU Kids Online Schweiz» 2019
www.be-freelance.net > Unterrichts- module > Digitale Medien

 

publiziert November 2019, Zeitschrift “Bildung Schweiz” (11/2019)

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