Tischlein deck dich: Märchenhaft ist nur der Preis
An über 120 Standorten werden in Schweizer Gemeinden einwandfreie Lebensmittel, die sonst im Abfall gelandet wären, an die Bevölkerung abgegeben. Es sind 16 Millionen Mahlzeiten pro Jahr. Tendenz steigend.
«Der Schreiner stellte sein hölzernes Tischchen mitten in die Stube und sprach: ‹Tischlein, deck dich!› Augenblicklich war es mit Speisen besetzt, so gut, wie sie der Wirt nicht hätte her beischaffen können. ‹Zugegriffen, liebe Freunde›, sprach der Schreiner. Was am meisten verwunderte: Wenn eine Schüssel leer geworden war, stellte sich gleich von selbst eine volle an ihren Platz…»
Die Geschichte der Brüder Grimm entführte ganze Generationen in eine fantastische Geschichtenwelt. Wer jedoch heute in der Schweiz «Tischlein deck dich» begegnet, wähnt sich nicht mehr im Märchen, sondern ist angekommen in der Realität. Hinter «Tischlein deck dich» steht eine landesweit agierende Organisation, die wöchentlich 125 Städte und Gemeinden mit Lebensmitteln beliefert. Tendenz steigend. Im Gründungsjahr 1999 wurden 18 Tonnen Lebensmittel abgegeben; das entspricht etwa 72 000 Mahlzeiten. Heute sind es landesweit über 3000Tonnen bzw. fast 16 Millionen Mahlzeiten.
Ein symbolischer Franken
Gedeckt wird der Tisch nicht von magischer Hand, sondern von insgesamt 2900 freiwilligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Aufgeteilt in sieben Sektionen (Ost, Mittelland, Zentralschweiz Nordschweiz, Graubünden, Wallis, Italienische Schweiz), koordinieren und verteilen sie Nahrungsmittel von über 800 Produktspendern aus Landwirtschaft, Grosshandel und Industrie. Kirchen, Gemeinden oder private Organisationen stellen dafür unentgeltlich ihre Lokalität zur Verfügung. Von den Speisen profitieren Menschen in einer finanziellen Ausnahmesituation; sei es der aus gesteuerte Mittvierziger, die Grossfamilie mit kleinem Budget, der Student in einer Notsituation oder der Asylbewerber. Freiwillig kommt niemand. Es sind dies alles Menschen, die die abgegebenen Nahrungsmittel dringend brauchen. Gedeckt wird der Tisch mit überproduzierten oder gespendeten Lebensmitteln: die Boskopäpfel des lokalen Bauern, das überproduzierte Vollkornbrot der Grossbäckerei oder die gespendeten Schokoladepralinen. Das Einzige, was märchenhaft anmutet, ist der Preis: Die Speisen kosten nur einen symbolischen Franken.
Frische Ware von freiwilligen Helfern arrangiert. (Bild Matthias Käser)
Eine der Gemeinden, in der Tischlein deck dich wöchentlich seit mehr als 15 Jahren auftischt, ist Solothurn. «Nur wer sich achtet, dass sich jeweils am Dienstagmorgen während gut einer Stunde die Haupttüre des Heilsarmeegebäudes öffnet, oder den vor dem Gebäude parkierten Lieferwagen beachtet, erkennt, dass Tischlein deck dich aufgedeckt hat», sagt Kurt Fluri, Stadtpräsident und Nationalrat von Solothurn. Im ganzen Kanton gibt es fünf Abgabestellen, davon zwei in der Kantonshauptstadt. Im Heilsarmeegebäude koordinieren und organisieren 13 Freiwillige die Lebensmittelabgabe. Vom Angebot profitieren grösstenteils Familien – rund 50 pro Abgabetag –, die in der Region oder der Stadt Solothurn wohnen. Zutritt zu Tischlein deck dich haben Einzelpersonen und Familien, die über eine Bezugskarte verfügen. Diese Karte wird von Sozialdiensten und Hilfsstellen der Region an Menschen in einer finanziellen Notsituation abgegeben.
Die Nachfrage übersteigt das Angebot
«Die Nachfrage hat von Jahr zu Jahr zu genommen», sagt Kurt Fluri und fügt hinzu: «Personen, die über eine Bezugskarte verfügen, verpassen in der Regel keinen Abgabetermin. Die Stadt Solothurn kann jährlich zehn Bezugskarten weitergeben. Doch die Nachfrage ist deutlich höher als unsere Möglichkeit, Karten herauszugeben.» Die Zahl der Karten hat sich in diesem Jahr verdoppelt. Mit Solothurn West hat eine zweite Abgabestelle ihreTüren geöffnet. «Hinter jedemTischlein deck dich steckt ein ausgeklügeltes Logistiksystem», er klärt Mina Dello Buono, Kommunikationsverantwortliche der Organisation. «Nach jeder Lebensmittelabgabe verfassen die Abgabestellen einen Rapport. Darauf werden Anzahl Kunden und die Präferenzen für die Produkte erfasst. Ein Verteilschlüssel hält fest, welche Men gen ein Kunde beziehen darf. Die übrig gebliebenen Lebensmittel können an gemeinnützige, lokale Institutionen weitergegeben werden.»
Landesweite Organisation mit einer ausgeklügelten Logistik (Bild: Matthias Käser)
Speicher (AR) zeigt seine soziale Seite
Rund ein Jahr Vorlaufzeit braucht die Eröffnung einer neuen Abgabestelle. Lokalität, freiwillige Helfer, potenzielle Kunden müssen gesichert sein. Diesen Prozess abgeschlossen hat auch die Ausserrhoder Gemeinde Speicher. Im Appenzeller 4000SeelenDorf wird seit vergangenem Herbst «aufgetischt». Wie in den meisten Fällen hat die Gemeinde das Projekt nicht selbst initiiert, sondern unterstützt nur eine Gruppe von Freiwil ligen TischleindeckdichHelfern. «Das Projekt kommt auf leisen Sohlen daher, sodass es kaum ein grosses Dorfgespräch ergeben hat, erklärt Peter Lange nauer, Gemeindepräsident von Spei cher. Der Grundgedanke sei jedoch positiv beurteilt worden. Für die Gemeinde sei Tischlein deck dich eine grosse Chance. «Als eher ‹reichere› Agglomerationsgemeinde ist es gut, auch eine soziale Seite zu zeigen und ein solches unkonventionelles Projekt zu unter stützen. Es ist bemerkenswert, wie viele Personen sich im Dorf beim Bereitstellen und Verteilen der Lebensmittel zur Verfügung stellen. Diese Freiwilligen sind auch Botschafter von unserem Dorf und unserer Gemeinschaft», sagt Langenauer. Negative Aspekte gebe es für eine Gemeinde keine: die Organisation schaffe für die Gemeinschaft weder Mehrkosten noch Mehraufwand, gebe ihr aber Gelegenheit, Lebensmittelverschwendung oder Armut zu thematisieren. Gemeindepräsident Langenauer sieht trotzdem auch Handlungsbedarf: «Es gilt, möglichst verschiedene Personen zu animieren, das Angebot zu nutzen. Denn es soll Personen profitieren, die nicht offiziell als Sozialfälle bekannt sind. Solche Personen zu motivieren, bei Tischlein deck dich vorbeizukommen, sei nicht einfach, da sie nicht unbedingt als «arm» bezeichnet werden wollten. Langenauer sagt: «Es bleibt eine Gratwanderung zwischen Diskretion und Publizität.»
Einwandfrei und frisch: Ware fürs Tischlein deck dich. (Bild: Matthias Käser)
publiziert April 2018, Zeitschrift “Schweizer Gemeinde”