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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Auf dem Trockenen

Auf dem Trockenen

“Ich war Anfang dreissig, Vater von zwei Kindern, stand mitten im Arbeitsprozess und hatte eine Scheidung hinter mir. Zu Hause trank ich kaum Alkohol. In Gesellschaft etwas zu trinken, gehörte zum guten Ton. Doch bei mir nahm der Alkoholkonsum stetig zu. Ich wurde zum Quartalstrinker. Zuerst trank ich nur alle paar Wochen über den Durst, dann jedes Wochenende und schlussendlich auch unter der Woche. Weder mein Chef, noch meine Familie oder meine Freunde sprachen mich auf mein Alkoholproblem an. Doch ich merkte wie sich die Leute von mir distanzierten, auf der Strasse nicht mehr grüssten, hinter meinem Rücken über meinen letzten Absturz tuschelten. Ich konnte mich wie so oft an nichts erinnern. Totaler Filmriss.

Ich fühlte mich fehl am Platz. So schlecht, wie denen ging es mir noch lange nicht. Ich verliess die Sitzungen und trank weiter.

Der Hausarzt empfahl mir weniger zu trinken und die Dargebotene Hand schickte mich zu den Anonymen Alkoholikern. Dort hörte ich stumm den Erzählungen der Alkoholiker zu. Sie erzählten von absoluten Tiefpunkten und menschlichem Ruin. Ich fühlte mich fehl am Platz. So schlecht, wie denen ging es mir noch lange nicht. Ich verliess die Sitzungen und trank weiter. Ich kam zu spät zur Arbeit, mir unterliefen Fehler, ich fuhr alkoholisiert zwei Mietwagen zu Schrott. Vier Jahre später war ich am absoluten Tiefpunkt angekommen.

Ich realisierte, dass ich mit Alkohol mein Leben nicht mehr auf die Reihe kriegte, wusste aber nicht, wie ich es ohne Alkohol schaffe. Ich landete wieder bei den Anonymen Alkoholikern und dieses Mal war ich am richtigen Platz. Alkoholkrank und am Ende. Ich lernte, dass mein Trinkproblem nichts mit schlechtem Charakter oder fehlendem Willen zu tun hatte, sondern dass Alkoholismus eine Krankheit ist. Heilen kann man sie nicht, aber stilllegen. Und genau das tat ich. Ich isolierte mich, kämpfte mich ohne Alkohol durch den Tag und mied alle gesellschaftlichen Anlässe. Sogar dem Geburtstagsfest meines Bruders blieb ich fern. Ende Sommer 1991 trank ich mein letztes Bier.

Bevor ich eine Bar oder ein Restaurant betrete, weiss ich genau, was ich bestelle. Kaffee, Wasser, Cola. Ich muss keine Getränkekarte studieren, es gibt keine Unschlüssigkeit, die zu einer falschen Wahl führen könnte.

Ich bin nun seit über 20 Jahren trocken – und habe immer noch Respekt davor rückfällig zu werden. Alkoholiker bleibt man ein Leben lang. Jeden Tag bevor ich meine Wohnung verlasse, schwöre ich mir kein Alkohol zu trinken. Bevor ich eine Bar oder ein Restaurant betrete, weiss ich genau, was ich bestelle. Kaffee, Wasser, Cola. Ich muss keine Getränkekarte studieren, es gibt keine Unschlüssigkeit, die zu einer falschen Wahl führen könnte. Denn wer rückfällig wird, beginnt nicht wieder nur ein wenig zu trinken, sondern startet dort, wo er aufgehört hat. Der massive Alkoholkonsum kann dann fatal sein. Ein Bekannter starb nur wenige Tage nach der Hochzeit seiner Tochter. Er war Alkoholiker, trank seit Jahren keinen Tropfen – ausser an dieser Hochzeit.

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Ich kann mich noch erinnern, wie nervös ich vor meinem ersten alkoholfreien Betriebs-Weihnachtsessen war. Der Spott der Kollegen war mir sicher. „Wir werden schon niemanden ersäufen“ und „Was du lebst jetzt bleifrei?“ waren die Reaktionen. Für mich war das ein Ansporn weiter an mich zu glauben. Was meine Motivation war, um mit dem Trinken aufzuhören? Ich wollte wieder jemand sein, wollte wieder wahr- und ernst genommen werden. Ich wollte wieder zurück ins Leben – ohne Kompromisse und auf die gleiche Augenhöhe wie mein Umfeld.

Ich bin heute ein glücklicher, zufriedener Mensch und dankbar den Ausstieg geschafft zu haben. Ich bin mir aber auch bewusst, dass ich mein Kontingent an Schutzengeln aufgebraucht habe.

Zweimal die Woche besuche ich auch heute noch die Sitzungen der Anonymen Alkoholiker in St.Gallen. Das gibt mir Kraft. Das Schicksal anderer führt mir oft brutal vor Augen, dass auch ich wieder abzustürzen kann. Dass ich fünf Jahre meines Lebens versoffen habe, kann ich nicht mehr ändern. Belasten tut es mich nicht. Ich bin heute ein glücklicher, zufriedener Mensch und dankbar den Ausstieg geschafft zu haben. Ich bin mir aber auch bewusst, dass ich mein Kontingent an Schutzengeln aufgebraucht habe. Jetzt hilft nur noch ein Leben lang wachsam bleiben.“

Anonymer Alkoholiker, Appenzell Ausserrhoden

Publiziert 12. März 2013, Appenzeller Zeitung

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