Ein Hoch auf das Teenagerhirn!
Von unkontrollierbar und unreif zu formbar und flexibel: Die Hirnforschung zeigt das Teenagerhirn in einem neuen Licht. Und beantwortet endlich die Frage vieler Eltern und Lehrpersonen: «Was geht im Hirn von Jugendlichen nur vor? Oder liegt es etwa an uns?»
Zuerst zu den zwei Fragen: Nein, es liegt nicht an Ihnen. Und vorgehen tut im Teenagergehirn unerwartet vieles. Aber dazu später. Der Begriff «Teenager» tauchte im September 1941 zum ersten Mal in einem Artikel in der amerikanischen Zeitschrift «Popular Science Monthly» auf. Das Teenagergehirn interessierte damals wenig und fristete während den folgenden Jahrzehnten ein wissenschaftliches Schattendasein: ungenügend erforscht und darum offensichtlich nicht verstanden.
Im Fokus lag und liegt auch heute noch die frühkindliche Hirnentwicklung und deren Förderung. Im Alter von sechs Jahren hat das Gehirn bereits etwa 90 Prozent der Erwachsenengrösse erreicht. Lerntempo und Wachstum sind in dieser Phase enorm. Entsprechend werden Studien realisiert und Forschungsgelder verteilt. Die Meinung über das Teenagerhirn war lange Zeit klar. Die grosse Arbeit – das Positionieren, Verbinden und Vernetzen von Milliarden von Neuronen und Nervenzellen – wurde in der frühen Kindheit erledigt. Der Schritt zum Erwachsenenhirn war simpel: die Pubertät überleben, reifen und lernen.
Das Teenagergehirn: eine komplexe Baustell
Mit der rasant steigenden Anzahl von Jugendlichen, die mit psychischen Problemen kämpfen, ist das Interesse am Teenagergehirn gestiegen. Die Pandemie katapultierte schliesslich die psychische Gesundheit junger Menschen ins öffentliche und politische Bewusstsein. Die Forschung erhielt dadurch einen massiven Schub und zeigt jetzt klar: Das Teenagergehirn durchläuft im Laufe der Jahre massive Umstrukturierungen, um das nötige Lernen zu ermöglichen und schlussendlich wie ein Erwachsenengehirn zu funktionieren.
Forschende vergleichen das Teenagergehirn mit einer komplexen Baustelle. Ungenutzte Verbindungen im Denk- und Verarbeitungsbereich bilden sich zurück oder verschwinden. Gleichzeitig werden andere Verbindungen neu gebildet oder gestärkt. Das bedeutet: Wie und was junge Menschen lernen, beeinflusst die Architektur ihres Gehirns. Die Flexibilität und Effizienz des Teenagergehirns machen es zu einem hochleistungsfähigen Netzwerk und daher zu einer potenziellen Lernmaschine.
Die Krux dabei: Die Grossbaustelle im Teenagergehirn ist asynchron organisiert. Das bedeutet, dass der Umbau im unteren, hinteren Teil des Gehirns beginnt und sich nach vorne und oben bewegt – vergleichbar mit einer Welle. Bestimmte Teile des Gehirns sind schon umgebaut, andere stehen kurz davor und einige hinken Monate oder gar Jahre hinterher. Ein Chaos an Emotionen und Gedanken ist unvermeidlich. Deutlich wird dies am Beispiel der Entwicklung des präfrontalen Kortex. Dieser ist ein Teil des Grosshirns, der oft als Steuerzentrale beschrieben wird. Er ist für die Kontrolle von Emotionen und Entscheidungsprozessen zuständig. Ob es darum geht, Handlungen zu planen, Probleme zu lösen oder Konsequenzen zu bedenken: Der präfrontale Kortex spielt eine Schlüsselrolle. Er befindet sich jedoch hinter der Stirn im vorderen Teil des Gehirns und wird als letzter umgebaut. Dies bedeutet, dass er bis Mitte Zwanzig (!) immer noch „aufgebaut und umgebaut“ wird und daher nur begrenzt funktionstüchtig ist.
Teenager neigen dazu, beim Treffen von Entscheidungen und Lösen von Problemen das limbische System zu nutzen. Dieser Bereich ist das „emotionale Zentrum“ des Gehirns und könnte erklären, warum Teenager oft nicht rational oder logisch, sondern impulsiv und emotional reagieren. Eine spontane Spritztour mit dem neuen Auto der Mutter? Oder ein plötzlicher Weinkrampf wegen einem sinnlosen Kommentar des Sitznachbarn? Die Forschung betont, solches Verhalten nicht als «idiotisches Getue» zu verurteilen, sondern als Ausdruck von Menschen mit jugendlichen Zielen, grossem Interesse an der Meinung von Gleichaltrigen und einem enormen Drang, neue Erfahrungen und Emotionen zu erkunden. Impuls vor Überlegung. Gefühl vor Ratio.
«Teenager-Jungen rasieren sich und Teenager-Mädchen können schwanger werden, und doch hat neurologisch gesehen keiner von beiden ein Gehirn, das bereit für die Erwachsenenwelt ist.»
Im Buch «Das Teenager Hirn» beschreibt Hirnforscherin Frances E. Jensen das Teenagergehirn als brandneuen Ferrrari: getunt und bereit loszufahren, aber noch nicht «strassentauglich». Jensen betont: «Wir gehen davon aus, dass jemand, der wie ein Erwachsener aussieht, auch mental einer sein muss. Teenager-Jungen rasieren sich und Teenager-Mädchen können schwanger werden, und doch hat neurologisch gesehen keiner von beiden ein Gehirn, das bereit für die Erwachsenenwelt ist.»
Das Wichtigste: Sinn und Zweck
Wie können Lehrpersonen und Eltern mit diesem Ferrari umgehen und Höchstleistungen trotz irrationalen Tendenzen fördern? «Wenn sich Eltern und Lehrpersonen zwei Dinge aus der gesamten Literatur über Teenager merken sollten, würde ich sagen: Erstens, lasst sie aus Erfahrungen lernen. Zweitens, schafft Lernprozesse mit Sinn und Zweck», sagt Linda Wilbrecht, Hirnforscherin und Professorin an der University of California, Berkeley.
Das Teenagergehirn: brandneuer Ferrrari: getunt und bereit loszufahren, aber noch nicht «strassentauglich»
«Jugendliche haben Schwierigkeiten mit Lerninhalten und Anweisungen, die weder Sinn ergeben noch einem Zweck dienen», konkretisiert die Mutter von zwei Teenagern. Die typische elterliche Aussage «Das Gymnasium ist der richtige Weg für dich»enthält weder Sinn noch Zweck und verstärkt Unverständnis und Widerstand. «Wenn es dein Ziel ist, Architektin zu werden, könnte das Gymnasium hilfreich für dich sein», wäre eine Aussage, die Zweck und Sinn schafft – selbst für Teenager.
Eine grosse Rolle im Lernverhalten junger Menschen spielen Belohnungen und Neugier. Wilbrecht konkretisiert: «Jugendliche Gehirne sind darauf ausgelegt, zu erkunden, zu entdecken und Verbindungen zu knüpfen.» Verbindungen seien dabei wörtlich gemeint, da sich die Neuronen ausstrecken und neue Verbindungen bilden. Gefragt sind proaktive Lernaktivitäten, welche die Neugier wecken und mit Belohnung verbunden sind – sei es in Form von positiver Aufmerksamkeit oder Anerkennung.
«Wenn sich Eltern und Lehrpersonen zwei Dinge aus der gesamten Literatur über Teenager merken sollten, würde ich sagen: Erstens, lasst sie aus Erfahrungen lernen. Zweitens, schafft Lernprozesse mit Sinn und Zweck.»
Jugendliche haben in partizipativer Aktionsforschung gut abgeschnitten, wenn sie Fragen selbst definierten und die Antworten eigenständig entdeckten. Zum Beispiel: Herausfinden, warum das Schulhaus zu viel Wasser braucht, um der Schulgemeinschaft einen Lösungsvorschlag zu präsentieren. Zusätzlich sei das Teenagergehirn sozial-adaptiver und leistungsfähiger als erwartet, betont Wilbrecht. «Die Zusammenarbeit und das Lernen mit und von Gleichaltrigen und Erwachsenen ist extrem wichtig: Das Teenagergehirn braucht Inputs, die auf realen Erfahrungen basieren.»
Neue Studien und neue Erkenntnisse
Was geht im Teenagerhirn wirklich vor? Diese Frage wird in Zukunft mit neuen Antworten und Einsichten Aufmerksamkeit erregen. Dafür verantwortlich sind grossangelegte Forschungsprojekte, wie die amerikanische ABCD Studie (Adolescent Brain Cognitive Development Study). 11’880 Kinder im Alter von neun bis zehn Jahren nehmen seit September 2015 an der Studie teil. Es ist die größte Langzeitstudie zur Gehirnentwicklung und Gesundheit von Kindern in den Vereinigten Staaten.
Forscherteams begleitet die TeilnehmerInnen während 10 Jahren durch die Pubertät bis ins junge Erwachsenenalter. Die Studie soll neue Erkenntnisse über die kognitive, soziale, emotionale und physische Entwicklung von jungen Menschen liefern – und aufzeigen, welche Auswirkungen beispielsweise soziale Medien, Hormonblocker oder Vaping auf die Gehirne junger Menschen haben.
publiziert in “Bildung Schweiz” (09/2024) www.bildungschweiz.ch