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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Wer ist Schuld an meinen Schulden?

Wer ist Schuld an meinen Schulden?

Warum tappen junge Erwachsene in die Schuldenfalle? Und welche Rolle spielen dabei Schule, Elternhaus und kultureller Hintergrund?

Der junge Mann geniesst das Leben: Er feiert gerne, kauft oft ein und gibt viel aus, obwohl er dafür kein Geld hat. Kleider, Möbel, Reisen, Partys: Kredite und Leasing-Optionen machen das Leben auf Pump einfach. Der Festlaune tun auch die ersten unbezahlten Rechnungen, Mahnungen und Zahlungsaufforderungen keinen Abbruch. Doch eines Morgens sitzt der junge Mann verzweifelt allein am Küchentisch; vor ihm ein Berg ungeöffneter Briefe, ein leerer Kontoauszug und ein Zahlungsbefehl des Betreibungsamtes. 

“Das Interesse der meisten Kinder und Jugendlichen am Thema Schulden ist limitiert. Anders sieht das beim Konsumverhalten aus.”

Die Szene stammt aus dem Kurzfilm «Planlos». Gezeigt wird sie Oberstufenschülerinnen und -schülern in der Stadt Zürich im Rahmen eines Workshops zur Schuldenprävention. Die Jugendlichen schauen schweigend zu, wie sich der junge Mann in eine immer ausweglosere Situation manövriert, die Schulden überhandnehmen und schliesslich sein Hab und Gut gepfändet wird. «Auf Jugendliche unter 16 Jahren trifft diese Situation sehr selten zu. Sie haben weder ein eigenes Einkommen noch Kreditkarten. Auch dürfen sie noch keine Verträge abschliessen. Verschulden sie sich trotzdem, kommen in den meisten Fällen die Eltern dafür auf», sagt Simone Reiser. Sie gehört zum dreiköpfigen Team der Schuldenpräventionsstelle der Stadt Zürich, die pro Jahr um die 100 Workshops in Oberstufenklassen durchführt. Laut der Betreibungsstatistik der Stadt Zürich wurden 2018 insgesamt 47 Jugendliche im Alter von 16 und 17 Jahren betrieben. Das sind 0,1 Prozent aller Betreibungen in der Stadt. «Ein Grund für Betreibungen in dieser Altersklasse sind unbezahlte Bussen für das Fahren ohne gültigen Fahrausweis in Zug, Tram und Bus. Werden sie über längere Zeit nicht bezahlt, werden sie nicht nur ungemein teuer, sondern enden auch in einer Betreibung und einem Eintrag im Betreibungsregister», erklärt Schuldenexpertin Reiser. 

Wenig Erfahrung mit Schulden 
Eine Umfrage in einer dritten Oberstufenklasse in der Stadt Zürich zeigt: 70 Prozent der befragten 15-Jährigen kennen niemanden, der Schulden hat. Der eigene Umgang mit Geld beschränkt sich auf das Taschengeld – kontrolliert, ausgezahlt und je nach Verhalten durch die Eltern sanktioniert. Gut informiert seien oft die Kinder, die zu Hause mit dem Thema Schulden konfrontiert werden und zum Beispiel für ihre Eltern Zahlungsbefehle entgegennehmen müssen, stellt das Schuldenpräventions-Team fest.

«Da ist die junge Frau, die sich weigert, ein Budget zu erstellen, weil sich in Zukunft sowieso ihr Mann um das Geld kümmert. Da ist aber auch der 14-Jährige, der gezwungenermassen ein Finanzexperte ist, weil er das Familienbudget erstellt und die Zahlungen erledigt»

Generalisieren dürfe man die Jugendlichen und ihr Finanzwissen auf keinen Fall, betont Reiser. «Da ist die junge Frau, die sich weigert, ein Budget zu erstellen, weil sich in Zukunft sowieso ihr Mann um das Geld kümmert. Da ist aber auch der 14-Jährige, der gezwungenermassen ein Finanzexperte ist, weil er das Familienbudget erstellt und die Zahlungen erledigt», fasst Reiser ihre Workshop-Erfahrungen zusammen. Freiwillig befassen sich jedoch wenige mit Budgetplanung, Lebenshaltungskosten oder Schuldenfallen. Kurz gesagt: Schweizer Schulabgängerinnen und -abgänger haben in den meisten Fällen keine Erfahrung mit Schulden und kennen sich in Finanzfragen nur beschränkt aus. Eine Tatsache, die mit dem Schulaustritt, dem Eintritt ins Erwerbsleben, der Volljährigkeit und Steuerpflicht unangenehme Folgen haben kann. 

Tatenlos zusehen ist die schlechteste Option 
2945 Personen zwischen 18 und 24 Jahren waren 2018 in der Stadt Zürich ein- oder mehrmals von einer Betreibung betroffen. Das sind 60-mal mehr Fälle als bei den 16- und 17-Jährigen. «Es gibt viele Möglichkeiten, sich zu verschulden; sei es durch Leasing-Optionen, Ratenzahlungen, Kredite oder ganz einfach durch unbezahlte Rechnungen», erklärt Betreibungsbeamtin Cornelia Prati. Die stellvertretende Leiterin des Betreibungs- und Stadtammannamts im Kreis 2 in Zürich erklärt den Oberstufenschülerinnen und -schülern während des Präventions- Workshops die Schlüsselbegriffe und Prozesse rund um eine Betreibung oder Pfändung. Erst wer weiss, was Schuldner und Gläubiger für Rechte und Pflichten haben, kann entsprechend handeln. «Mir geht es darum den Jugendlichen aufzuzeigen, was mögliche Schuldenfallen sind und was sie tun sollten, wenn sie mit Mahnungen, Zahlungsbefehlen und Betreibun- gen konfrontiert werden», sagt Betreibungsbeamtin Prati. Tatenlos zusehen sei dabei immer die schlechteste Option. Unbeglichene Rechnungen werden durch Mahngebühren und Verzugszinsen konstant teurer. Prati zeigt den Jugendlichen auf, wo sie bei Bedarf Hilfe holen können, so zum Beispiel bei einer Beratungsstelle oder im Schulumfeld. 

Vielen fehlt das Wissen 
Von Zahlungsforderungen und Schuldenszenarien betroffen zu sein, ist keine Seltenheit. In der Stadt Zürich wird jeder oder jede Zehnte im berufsfähigen Alter sicher einmal pro Jahr betrieben. Laut dem Bundesamt für Statistik lebt fast jede fünfte Person in der Schweiz in einem Haushalt mit Zahlungsrückstand. Zu beachten gilt jedoch: Wer betrieben wird, lebt nicht zwangsläufig in einer konstanten Überschuldung, und gleichzeitig gibt es Menschen, die mit Schulden leben, aber nie betrieben werden. Darüber hinaus bleibt offen, wie Schulden definiert werden. Zählt ein Darlehen bei einem Freund schon als Schuld? Fakt hingegen ist, dass laut verschiedenen Studien die Mehrheit der Bevölkerung ein Wissensdefizit hat, was den Umgang mit Geld, Krediten, Zinsen, aber auch mit Schulden angeht.

Prägend für die Finanzkompetenz der Jugendlichen sind das Elternhaus und das kulturelle Umfeld. Die grosse Mehrheit erhält die Informationen rund um Geld von ihren Eltern.

Im Zentrum der Studie «The Economic Importance of Financial Literacy: Theory and Evidence» – 2014 publiziert im «Journal of Economic Literature» – stehen drei Fragen zum grundlegenden Finanzwissen rund um Zinssätze, Aktien und Renditen. In der Schweiz wurden 1500 Personen befragt. Nur die Hälfte konnte alle Fragen richtig beantworten. Noch düsterer sieht die Situation in den USA, in Neuseeland und Italien aus. In den USA schaffte es immerhin jeder Dritte, die korrekten Antworten zu finden. In Italien und Neuseeland scheiterten hingegen an die 75 Prozent.

Sparen oder Ausgeben? Vermittlung von Finanzwissen beginnt im Elternhaus.
(Bild: Zeitschrift Bildung Schweiz)

Für die Zürcher Betreibungsbeamtin Prati sind klare Kommunikation und verständliche Information die Schlüssel dazu, dem Finanzwissensdefizit der Bevölkerung entgegenzuwirken. Dass man in der Schweiz kaum über Geld spricht und Schulden ein Tabuthema sind, macht die Sache nicht einfacher. Eine wichtige Rolle in der Schuldenprävention spielt darum die Schule. Erkannt haben dies auch der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), der Verband Schweizerischer Kantonalbanken und Postfinance. Sie offerieren Schulen kostenlos interaktive Lernspiele und Unterrichtsmaterialien, welche die Jugendlichen im Umgang mit Geld sensibilisieren sollen. Auch die Macher des Lehrplans 21 haben den Stellenwert der Finanzkompetenz erkannt. In der Oberstufe bietet sich der Fachbereich «Wirtschaft, Arbeit, Haushalt» (WAH) an, um Finanzwissen in einem praktischen Kontext zu vermitteln. Konsum gestalten und über Geld nachdenken sind als Lerninhalte festgesetzt. Das Finanzverständnis soll sich jedoch nicht nur auf einen Fachbereich begrenzen. Andere Fachbereiche eignen sich ebenfalls perfekt – sei es in der Staatskunde, um den Sinn von Steuern zu begreifen, oder im Deutsch, um einen Kaufvertrag zu analysieren.

Der starke Einfluss von Eltern und Kultur
Prägend für die Finanzkompetenz der Jugendlichen sind auch das Elternhaus und das kulturelle Umfeld. In der PISA-Studie 2018 wurden die Schülerinnen und Schüler im Bereich «Finanzkompetenz» befragt. Rund 94 Prozent der Befragten – die Schweiz nahm an dieser Befragung nicht teil – gaben an, die Informationen rund um Geld von ihren Eltern zu erhalten. Auf die Schlüsselrolle der Eltern und des kulturellen Hintergrundes weist auch die Studie «Culture and Financial Literacy» der Universitäten St. Gallen und Freiburg hin. 649 Sekundarschülerinnen und -schüler im letzten obligatorischen Schuljahr beantworteten Wissensfragen rund um das Geld. Die Lernenden stammten alle aus dem Kanton Freiburg, je zur Hälfte aus dem französisch- und aus dem deutschsprachigen Teil. Die Studie zeigt, dass die Jugendlichen im deutschsprachigen Kantonsteil im Vergleich zu ihren Peers im französischsprachigen Gebiet im Durchschnitt um 25 Prozent besser abschnitten. Doch wie kommt es zu dieser Differenz im Finanzwissen zwischen den Sprachgruppen?

Jeder dritte junge Erwachsene, der sich im Alter von 18 bis 25 Jahren verschuldet, ist auch fünf Jahre später noch nicht schuldenfrei.

Der wohl beträchtlichste Unterschied liege in der finanziellen Erziehung zu Hause, bilanziert die Studie. Im deutschsprachigen Umfeld erhalten die Jugendlichen zum Beispiel früher Taschengeld, haben häufiger ein Bankkonto und Zugriff auf ihr Geld als ihre französischsprachigen Altersgenossen. Der geübte Umgang mit Geld im Alltag schafft Finanzkompetenz. Die Studie empfiehlt, dass bei «Financial Literacy»-Programmen auf kulturelle Nuancen Rücksicht genommen wird. Zusätzlich wäre das Einbinden der Eltern in die Programme ein grosser Gewinn.

Konsumverhalten thematisieren
Trotz Lernspielen und Programmen: Das Thematisieren von Schulden gleicht einer Übung im Trockenschwimmen. «Das Interesse der meisten Kinder und Jugendlichen am Thema Schulden ist limitiert. Anders sieht das beim Konsumverhalten aus», sagt Präventionsfachfrau Simone Reiser. Denn konsumieren tun wir alle, und zwar konstant. «Das eigene Konsumverhalten, aber auch das der Familie oder der Schule zu beleuchten, löst bei vielen Schülerinnen und Schülern einen Prozess des Hinterfragens aus», erklärt Reiser. Was kaufe ich warum und wer bezahlt schlussendlich dafür? Was brauche ich überhaupt und weswegen? Und wer ist schuld an meinen Schulden?

Mit genau diesen Fragen befassen sich nicht nur die Schülerinnen und Schüler im Präventionsworkshop, sondern auch der verschuldete junge Mann im Kurzfilm «Planlos». Dieser stellt sich die Fragen jedoch zu spät. Er wird betrieben und sein Lohn gepfändet. Erst das Leben am Existenzminimum zwingt ihn zum Umdenken. Er ordnet sein Leben einem strikten Budget unter und spricht mit Familie und Freunden über Geld und Schulden. Die Zeichen, dass er den Sprung aus der Schuldenfalle schafft, stehen damit gut. Doch einfach wird es kaum. Eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz zeigt, dass jeder dritte junge Erwachsene, der sich im Alter von 18 bis 25 Jahren verschuldet, auch fünf Jahre später noch nicht schuldenfrei ist.




Weiter im Netz
www.schulden-zh.ch – Schuldenberatung Kanton Zürich www.caritas-schuldenberatung.ch

www.srf.ch – Dokumentation «Die Schuldenfalle. Und wenn es mich trifft?»

www.oecd.org > Publications > Suchbegriff «PISA 2018 results: Are students smart about money?»

www.papers.ssrn.com > Suchbegriff «Culture and Financial Literacy»

www.bfs.admin.ch > Statistiken finden > Wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölkerung > Einkommen, Verbrauch und Vermögen > Verschuldung – Verschuldung der Schweizer Bevölkerung

www.aeaweb.org > Suchbegriff «The Economic Importance of Financial Literacy: Theory and Evidence»

www.stadt-zuerich.ch > Schul- und Sportdepartement > Gesunheit und Prävention > Schuldenprävention > Unser Angebot > Kurzfilme – Kurzfilm «Planlos»

www.schuldeninfo.ch > Prävention

www.LCH.ch > Themen A-Z > Finanzkompetenz




publiziert Oktober 2020, Zeitschrift “Bildung Schweiz”

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