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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Fast blind – na und?

Fast blind – na und?

In der Theorie bedeutet Integration, auch blinde und stark sehbehinderte Kinder in der Regelklasse zu unterrichten. Wie soll das in der Praxis erfolgreich gelingen? Ein Unterrichtsbesuch. 

Es ist Donnerstagnachmittag, kurz vor 16 Uhr. In der Turnhalle üben 20 Oberstufenschülerinnen und -schüler Bodenturnen und Trampolinspringen, unter ihnen auch Laura. Den Anlauf hat sie genau eingeteilt, die Schritte abgezählt. «Sobald ich das Trampolin berühre, spüre ich, ob der Sprung gelingt, und mache einen einfachen oder doppelten Salto. Ansonsten breche ich ab», erklärt sie selbstbewusst. Lauras Aussage erstaunt kaum. Die 14-Jährige ist eine begeisterte Geräteturnerin und Hip- Hop-Tänzerin, spielt gerne Fussball, fährt im Sommer Velo, im Winter Snowboard und Ski. 

Ihre Haltung rückt in ein anderes Licht, sobald man ihre Geschichte kennt. Laura hat Achromatopsie, eine sehr seltene Erbkrankheit der Netzhaut. Lauras Sehschärfe beträgt zehn Prozent. Gesichter und Buchstaben erkennt sie nur, wenn sie sich wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht befinden. Ihre Augen sind höchst lichtempfindlich und weisen einen Nystagmus auf. Das ist ein unkontrolliertes, ruckartiges Hin-und-her-Bewegen der Augen. Anstelle von Farben erkennt Laura Grau- und Brauntöne. Sie sieht weder das Trampolin noch die blaue, dicke Matte dahinter. Den gleichen visuellen Herausforderungen wie beim Turnen hat sie sich beim Schälen der Kartoffeln im Hauswirtschaftsunterricht, beim Durchführen des Physikexperiments oder beim Nachschlagen von Englischwörtern zu stellen. Meistern tut sie das alles mit Bravour. Doch wie ist das möglich?

«Die Vorstellung, dass die eigene Tochter fast blind ist und nie Farben sieht, macht ungemein traurig. Und die Recherchen im Internet verstärken dieses Gefühl noch».

Laura kommt am 1. Mai 2005 als scheinbar gesundes Baby zur Welt. Mutter Sarah fällt schon nach wenigen Wochen auf, dass ihre Tochter mit den Augen kaum etwas fixieren kann und die Pupillen zittern. Die Ärzte geben Entwarnung: Das werde sich mit der Zeit auswachsen. Doch Laura wirkt auch als Kleinkind orientierungslos, stösst sich an Gegenständen und fällt oft hin. Sie fürchtet sich vor aufgespannten Regenschirmen und fliegenden Luftballonen. Mit dreieinhalb Jahren werden ihre Augen unter Vollnarkose untersucht und die Ärzte stellen die Diagnose Achromatopsie. «Die Vorstellung, dass die eigene Tochter fast blind ist und nie Farben sieht, macht ungemein traurig. Und die Recherchen im Internet verstärken dieses Gefühl noch», erinnert sich Mutter Sarah, selbst ausgebildete Pflegefachfrau. «Aber uns war auch bewusst, was für eine aktive, lebensfrohe und spontane Persönlichkeit Laura ist. Und genau darauf konzentrierten wir uns.» 

Von Anfang an kein Sonderfall
Die Familie geht mit der Diagnose offensiv um, informiert Freunde und Nachbarn. Das Umfeld reagiert mit Interesse und Verständnis. Am Verhalten gegenüber Laura ändert sich nichts – weder innerhalb noch ausserhalb der Familie. Sie, die Älteste von drei Geschwistern, wächst auf wie ein sehendes Kind – ausser dass sie wegen ihrer lichtempfindlichen Augen meistens eine dunkle Sonnenbrille trägt. «Laura hat ein ungemein gutes Körpergefühl und einen sehr starken Willen. Wenn sie sich etwas in den Kopf setzt, verfolgt sie es ohne Rücksicht auf Verluste», charakterisiert Mutter Sarah ihre älteste Tochter. Laura lernt Velofahren, Fussballspielen und Schwimmen. Sie stürzt zwar öfter als ihre Kolleginnen und Kollegen, hat Schrammen am Kopf, verstauchte Gelenke und aufgeschlagene Knie, doch unterkriegen lässt sie sich nicht. Schon als Kleinkind malt sie wunderschöne, farbige Bilder. Die Farben lässt sie sich erklären, später schreibt sie die Stifte an. Sie prägt sich ein, welche Farbkombinationen zusammenspielen, und zieht sich passend dazu an. Sie wird zur leidenschaftlichen Köchin. Was sie nicht sehen kann, riecht, schmeckt, hört oder fühlt sie. Kochbücher braucht sie keine. Die Rezepte hat sie im Kopf. 

Ein Sonderfall war Laura nie. Sie besuchte denselben Kindergarten und dieselbe Primarschule wie die anderen Kinder im Quartier. Dabei stellte der Ostschweizerische Blindenfürsorgeverein (obvita) Laura und ihrer Familie eine Fachberaterin zur Seite. «Wir unterstützen mit unserer Beratung sehbehinderte und blinde Kinder und Jugendliche», erklärt Sehberaterin Jana Nosal. Neben Laura betreut sie rund 16 weitere blinde oder sehbehinderte Kinder und Jugendliche. Das Ziel ist immer das gleiche: Die Betroffenen sollen wenn möglich dort zur Schule gehen können, wo sie es auch ohne Behinderung würden, und das so selbstständig wie möglich. Um das zu erreichen, sind ein sehbehindertengerechter Arbeitsplatz in der Schule und zu Hause, individualisierte Hilfsmittel, aber auch bestens informierte Lehrpersonen und Eltern notwendig. 

 Die beste Lösung suchen
«Schaut man Laura in ihrem Schulalltag zu, würde ein Laie kaum bemerken, dass sie nur sehr wenig sieht», erklärt Nosal. Laura kompensiere ihre fehlende Sehfähigkeit mit einem ungemein guten Gedächtnis, einem sehr feinen Gehör und dem unbändigen Willen, das Gleiche zu leisten wie ihre Schulkameradinnen und -kameraden. Trotz geglückter Integration stellte sich Ende Primarschule die Frage, ob Laura für die Oberstufe nicht in einer Institution für Sehbehinderte besser aufgehoben wäre. 

«Entweder gehst du den einfacheren Weg und nimmst von jetzt an eine Sonderbehandlung in Kauf. Oder du stellst dich den Herausforderungen des normalen Lebens mit all seinen Hürden und schaffst dir damit eine Ausgangslage für eine Zukunft unter Sehenden.» 

Zusammen mit Mutter Sarah besuchte sie ein Internat für sehbehinderte Kinder und Jugendliche. «Das ist ein sensationeller Ort, total ausgerichtet auf die Bedürfnisse von Sehbehinderten und deren optimale Förderung», umschreibt Mutter Sarah ihren ersten Eindruck. Auch Laura ist beeindruckt und ringt mit sich um die richtige Entscheidung. Klarheit schafft ein Gespräch mit der Mutter und der Nana. Schnörkellos erklärte diese ihrer Enkelin: «Entweder gehst du den einfacheren Weg und nimmst von jetzt an eine Sonderbehandlung in Kauf. Oder du stellst dich den Herausforderungen des normalen Lebens mit all seinen Hürden und schaffst dir damit eine Ausgangslage für eine Zukunft unter Sehenden.» 

Laura entscheidet sich für die öffentliche Schule und startet im Sommer 2018 an der Oberstufe in Horn (TG). Dieser Start ist nur möglich, weil sich auch das Lehrpersonenteam für ihre Aufnahme und Integration einsetzt. Laura bekommt den Status der «integrativen Sonderschulung». Das heisst, sie wird in der Regelklasse für wenige Lektionen pro Woche von der Sehberaterin unterstützt. Zusätzlich erhält sie punktuelle Unterstützung von einer Unterrichtsassistenz. Die Kosten werden vom Kanton getragen. Die IV kommt für die Hilfsmittel auf. 

Weniges für den Unterricht anpassen
Die Sekundarschule Horn bietet ideale Bedingungen für die Integration von Schülerinnen und Schülern mit speziellen Bedürfnissen. Horn beherbergt eine der schweizweit 25 Mosaik-Sekundarschulen. Mosaik steht für Motivation, Offenheit, Selbstwirksamkeit, Altersdurchmischung, Individualität und Kooperation. Im Deutsch- und im Mathematikunterricht sind die Schüler und Schülerinnen nicht wie in den übrigen Fächern in Jahrgangsklassen eingeteilt, sondern in vier altersgemischte und leistungsheterogene Gesamtklassen. Betreut von zwei Lehrpersonen erfolgt der Unterricht individualisiert. Laura lernt wie ihre 19 Klassenkameradinnen und -kameraden in ihrem eigenen Tempo. Hat sie einen Lernschritt abgeschlossen, absolviert sie eine Lernkontrolle. Für die Prüfung hat sie mehr Zeit zur Verfügung als ihre Klassenkameraden. Denn etwas zigmal zu vergrössern, bedeutet auch, sich immer wieder neu zu orientieren und den Überblick zu gewinnen.

«Ich arbeite oft und gerne mit Farben. Ein buntes Arbeitsblatt mit unterschiedlichen Schrifttypen macht für Laura jedoch keinen Sinn»

Betreffend Lern- und Prüfungsmaterial arbeiten ihr Klassenlehrer Johannes Ackermann und ihre Klassenlehrerin Sandra Koch eng mit Sehberaterin Nosal zusammen. Alle Fachlehrerinnen und -lehrer sind aktiv involviert und unterstützen Lauras Integration. «Ich arbeite oft und gerne mit Farben. Ein buntes Arbeitsblatt mit unterschiedlichen Schrifttypen macht für Laura jedoch keinen Sinn», erklärt Klassenlehrerin Koch. Doch grundlegend verändern musste die angehende Heilpädagogin ihren Unterricht durch die Integration von Laura nicht. Denn Sehberaterin Nosal sorgt dafür, dass Laura Zugriff zur digitalen Version der verwendeten Lehrmittel und Prüfungen hat und somit die einzelnen Aufgaben auf ihrem Bildschirm entsprechend vergrössern kann. Zusätzlich zählt Laura auch auf die Unterstützung einer Wandtafelkamera. Das Bild wird in Echtzeit direkt auf ihren grossen Bildschirm am Arbeitsplatz im Klassenzimmer übertragen und ermöglicht ihr somit eine aktive Teilnahme am Unterricht. 

Sensibilisierung als einschneidendes Erlebnis
Lauras Mitschülerinnen und -schüler – viele kennen Laura schon aus Kindergartentagen – nehmen ihr Handicap kaum wahr. Bewusst wird es ihnen erst durch eine sogenannte Sensibilisierung. Wenn Laura in eine neue Klasse kommt oder die Klasse neu zusammengesetzt wird, führt Sehberaterin Nosal einige Sensibilisierungs-Aktivitäten durch. Anhand einiger praktischer Beispiele erfahren die Anwesenden dabei, was es bedeutet, mit Lauras Sehbehinderung zu leben. In einem extra präparierten Raum wird die Sehbehinderung von Laura simuliert. Statt Farben und Umrisse werden nur Brauntöne und Schatten wahrgenommen. Einen Text lesen, im Atlas ein Land suchen oder frisches von faulem Gemüse unterscheiden wird so zur grossen Herausforderung. Die Teilnehmenden, seien es Lehrpersonen oder Schülerinnen und Schüler, zeigen sich von der Simulation extrem beeindruckt. Gewisse Jugendliche sind tief betroffen, andere weinen. Die Betroffenheit wandelt sich oft in Respekt und Bewunderung für Laura. 

Die Entscheidung für die öffentliche Schule und gegen das Internat für Blinde und Sehbehinderte bereut Laura in keiner Weise. «Ich fühle mich hier ungemein wohl und bin froh, in der Nähe von Familie und Freundinnen und Freunden zu sein», sagt sie sichtlich stolz. Welchen Ausbildungsweg sie nach der Oberstufe wählt, ist noch nicht klar. Ergotherapeutin oder Osteopathin würde sie reizen. Die Arbeit mit Kindern, die ein Handicap haben, liege ihr besonders, denn «ich denke, ich kann mich gut in ihre Lage versetzen», sagt die 14-Jährige nüchtern. Lauras Geschichte ist ein Paradebeispiel für eine erfolgreiche Integration mit besten Chancen auf eine Lehrstelle im regulären Arbeitsmarkt. Wie häufig sind solche Erfolgsgeschichten? Repräsentative Zahlen gibt es laut Stefan Spring, verantwortlich für die Forschung beim Schweizerischen Zentralverein für das Blindenwesen (SZBLIND), keine. 

Käme ein gute Fee vorbei und würde Laura drei Wünsche erlauben, würde sie nur einen davon gebrauchen und die zwei anderen verschenken.

Bekannt ist einzig – basierend auf einer quantitativen Übersicht –, dass zwischen 2012 und 2015 in der Schweiz 1337 Kinder und Jugendliche ein auf Sehbehinderung spezialisiertes pädagogisches Angebot in Anspruch nahmen. Von den Kindern im Schulalter wurden 69 Prozent in der örtlichen Volksschule integriert und durch Fachpersonen des Sehbehindertenwesens unterstützt. Wie erfolgreich die integrative Schullaufbahn und der Übertritt in die Arbeitswelt schliesslich waren, ist nicht erforscht. 

Verhalten der Eltern kann Einfluss auf Integration haben
Mitentscheidend dafür, ob eine schulische Integration gelingt, scheint auch der Umgang der Eltern mit der Behinderung ihres Kindes zu sein. «Eltern, die ein blindes oder stark sehbehindertes Kind haben, können meistens in zwei Gruppen eingeteilt werden», erklärt Sehberaterin Nosal. «Entweder sie packen das Kind in Watte und beschützen es vor jeglichen Alltagsgefahren, oder sie behandeln das Kind gleich wie ein sehendes und nehmen gewisse Risiken in Kauf.» Laura und ihre Familie gehören klar zur zweiten Kategorie. Laura hat ihr Handicap akzeptiert und sieht es als eine ihrer Stärken. Käme ein gute Fee vorbei und würde ihr drei Wünsche erlauben, würde sie nur einen davon gebrauchen und die zwei anderen verschenken. «Ich würde mir wünschen, dass alle Menschen zufrieden und glücklich sind.» Perfekt und in Farbe zu sehen, gehört nicht zu ihren Prioritäten. «Mein Handicap ist ein Teil von mir. Dadurch bin ich anders als die meisten Menschen und sehe die Dinge unterschiedlich. Mir gefällt das. Warum soll ich es ändern?», fragt sie direkt. Für all die Sachen, die ihr vorenthalten bleiben, zum Beispiel Autofahren, hat sie schon vorgesorgt. Dafür wird der jüngere Bruder eingespannt. 



Weiter im Netz 
www.obvita.ch – Ostschweizerischer Blindenfürsorgeverein 

www.szblind.ch › Suchbegriff «Lagebericht Schulalter» – Lagebericht des Schweize- rischen Zentralvereins für das Blinden- wesens zur seh- und hörsehbehinderungs- spezifischen Förderung im Schulalter 

www.szblind.ch/Forschung – Bericht zum Projekt REVISA – Erkennung und Anerken- nung von Sehbeeinträchtigungen im (Vor-) Schulalter 

www.mosaik-sekundarschulen.ch › Mosaikschule Horn 


publiziert Februar 2020, Zeitschrift “Bildung Schweiz” (02/ 2020)

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