Und wer setzt die Insulinspritze in der Schule?
Die Zahl der Kinder, die im Schulalltag auf Medikamente angewiesen sind, nimmt stetig zu. Doch Lehrpersonen sind keine Pflegefachfrauen und -männer. In Deutschland wird die Forderung nach einer Gesundheitsfachperson für jede Schule laut. Wie sieht die Situation in der Schweiz aus?
Lehrpersonen sind aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit dafür verantwortlich, dass die ihnen anvertrauten Kinder physisch und psychisch unversehrt sind und bleiben. In der Vergangenheit bedeutete dies, ein Pflaster auf das aufgeschürfte Knie zu kleben oder einen Eisbeutel auf die Beule am Kopf zu legen. Heute sieht die Situation anders aus: Immer mehr Kinder und Jugendliche im Schulalter sind von einer gesundheitlichen Einschränkung oder einer chronischen Krankheit betroffen. Je nach Studie sind es zwischen 10 und 25 Prozent. Das bedeutet, dass in jeder Regelklasse im Durchschnitt zwei Schulkinder sitzen, die spezielle medizinische Bedürfnisse haben. Die Liste von gesundheitlichen Einschränkungen oder chronischen Krankheiten, von denen Kinder und Jugendliche im Schulalter betroffen sein können, ist lang: von A wie Allergie über D wie Diabetes und E wie Epilepsie bis hin zu Z wie Zöliakie. Die medizinische Betreuung durch die Eltern – vor dem Unterricht, danach oder in der Mittagspause – fällt in vielen Fällen weg, weil die Kinder sich in Betreuungsstrukturen befinden. Doch wer kümmert sich dann um das Einhalten der «Pillenzeiten» und um die richtige Dosierung des Sirups? Wer setzt bei Diabetes die Insulinspritze?
Aktuelles Thema – auch über die Grenzen hinweg
Für den deutschen Verband Bildung und Erziehung (VBE) ist die Situation rund um die medizinische Betreuung von chronisch kranken Kindern in der Schule nicht mehr tragbar. «Manche Eltern bitten uns, bei kleineren Kindern eine Spritze zu setzen», wird Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des VBE, in einem Artikel der Tageszeitung «Die Welt» vom Oktober 2018 zitiert. Er fordert die flächendeckende Einstellung von Schulgesundheitsfachkräften, die sich um alle medizinischen Belange kümmern: um den in der Turnstunde verstauchten Fuss, das Bauchweh beim Mittagstisch, aber auch um chronisch kranke Schulkinder. Trotz der alarmierenden Zahlen und der Forderung der deutschen Lehrpersonen herrscht in der Schweizer Bildungslandschaft chronische Stille. Handelt es sich um ein Tabuthema, das lieber nicht adressiert wird? Sind die Lehrpersonen so ausgelastet, dass ihnen Zeit und Kraft fehlen, die Situation anzusprechen? Oder sind Medikamente in öffentlichen Schulen bei uns kein Thema?
Je nach Studie sind zwischen 10 und 25 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Schulalter von einer gesundheitlichen Einschränkung oder einer chronischen Krankheit betroffen. Das bedeutet, dass in jeder Regelklasse im Durchschnitt zwei Schulkinder sitzen, die spezielle medizinische Bedürfnisse haben.
«Die Zunahme an Schulkindern mit spezifischen medizinischen Bedürfnissen und deren Betreuung in der Schule ist auch bei uns aktuell», sagt Dorothee Miyoshi, Mitglied der Geschäftsleitung und Präsidentin der Sonderpädagogischen Kommission des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH). Sie konkretisiert: «Falls ein Kind regelmässige medizinische Betreuung benötigt, sei es das Setzen einer Spritze oder eine individuell angepasste Medikamentenabgabe, muss dies klar von einer medizinisch geschulten Fachperson übernommen werden. Die Lehrperson ist dazu nicht ausgebildet und kann Haftung und Verantwortung nicht übernehmen.» Die flächendeckende Einführung von Schulgesundheitsfachpersonen sieht Miyoshi in der Schweiz als kaum realistisch an. «Wir haben viele kleine Schulen, die diesen Bedarf vielleicht nicht haben. Ist die medizinische Betreuung eines Schulkindes durch eine Gesundheitsfachperson notwendig, liegt es in der Verantwortung des Arbeitgebers, diese sicherzustellen», unterstreicht sie. In einer Primarschule wäre dafür die Schulgemeinde verantwortlich, bei weiterführenden Schulen der Kanton.
Verantwortlichkeiten und Abläufe klar definiert
Auch für den Schulärztlichen Dienst der Stadt Zürich (SAD) ist das Einstellen einer Gesundheitsfachperson keine Patentlösung. «Die Situation in einer Stadt wie Zürich ist nicht vergleichbar mit einer kleinen Landgemeinde. Die Schulgesundheitsdienste in den Kantonen und Städten sind verschieden organisiert, die Schwerpunkte unterschiedlich. Aus unserer Sicht birgt es ein zusätzliches Risiko, Notfallmassnahmen an einer Person festzumachen», erklärt Andrea-Seraina Bauschatz, Leiterin des SAD.
In Zürich wurde 2013 erkannt, dass es in der Volksschule der Stadt kein Konzept dafür gab, wie Kinder mit chronischen Krankheiten in der Regelschule unterstützt werden könnenDas Vorgehen in Notfällen war oft ungeregelt, die Informationen fehlten und die rechtlichen Rahmenbedingungen waren unklar.
In Zürich wurde 2013 erkannt, dass es in der Volksschule der Stadt kein Konzept dafür gab, wie Kinder mit chronischen Krankheiten in der Regelschule unterstützt werden können. Das Vorgehen in Notfällen war oft ungeregelt, die Informationen fehlten und die rechtlichen Rahmenbedingungen waren unklar. Der Schulärztliche Dienst hat daraufhin zusammen mit Verantwortlichen aus den Schulen ein Konzept erstellt, das den Ablauf und die Zusammenarbeit zwischen den Eltern, der Schule und dem SAD regelt. Klar definiert wird, wer welche Verantwortung trägt – sei es das Einhalten der «Pillenzeiten», die richtige Dosierung des Sirups oder die Aufbewahrung des Adrenalin-Pens. Festgehalten ist auch, wie sich die Beteiligten gegenseitig informieren und auf den gleichen Wissensstand setzen. Die Lehrpersonen sind dabei selten für eine tägliche Verabreichung von Medikamenten zuständig. Sie müssen jedoch wissen, bei welchem Kind lebensgefährliche Notfälle eintreten können und wie sie in diesem Fall handeln. Dafür werden sie durch den SAD in Zusammenarbeit mit Spezialistinnen und Spezialisten geschult. Das Konzept wurde ab August 2015 stufenweise in den Stadtzürcher Volksschulen eingeführt. Erste Ergebnisse wird die Evaluation aufzeigen, die zurzeit durchgeführt wird.
Differenzierte Lösungsansätze auch in anderen Kantonen
Ähnliche Strategien wie Zürich wählen auch die Kantone St. Gallen und Basel- Landschaft. «Wichtig ist unserer Ansicht nach ein guter Austausch zwischen Eltern und Lehrpersonen und die Information, was bei einem Notfall zu tun ist, inklusive der Unterstützung der Schulärztin oder des Schularztes bei Bedarf», betont Brigitte Wiederkehr, stellvertretende Leiterin des Amtes für Volksschule im Kanton St. Gallen.
«Sicher ist, dass Lehrpersonen im Notfall agieren müssen. Die Diskussion um Pflicht und Abgrenzung wird noch dauern.»
Die gleiche Strategie wählt der Kanton Basel-Landschaft, wo eine Schulgesundheitsfachkraft auch keine Option ist. Zur Schulgesundheit ist seit Ende November 2017 die Website www.schulgesundheit. bl.ch in Betrieb. Lehrpersonen erhalten hier unter anderem Empfehlungen im Umgang mit chronisch kranken Kindern. «Lehrpersonen und Schulbetriebe sind dankbar, dass wir Informationen zu diesen Themen zur Verfügung stellen», sagt Mirjam Urso, Mitarbeiterin in der Gesundheitsförderung des Kantons Basel-Landschaft. Sie ergänzt, dass die Gespräche zwischen Schule und Eltern rund um die Verantwortlichkeiten im Umgang mit chronisch kranken Kindern sich sehr unterschiedlich gestalten. «Wir sind zusammen mit der Schulgesundheitskommission und dem Amt für Volksschulen im Austausch, wie die Verantwortung beziehungsweise die Abgrenzung für Lehrpersonen zu handhaben ist. Sicher ist, dass Lehrpersonen im Notfall agieren müssen. Die Diskussion um Pflicht und Abgrenzung wird noch dauern.» Passende Ansätze werden gesucht. Ein möglicher Lösungsansatz wird im Kanton Basel-Stadt schon praktiziert. In einigen Schulklassen übernehmen jeweils Pflegefachpersonen der Kinder-Spitex in den Unterrichtspausen die Behandlung von chronisch kranken Kindern.
Chronisch krank, aber nicht hilflos
Doch längst nicht alle Kinder, die chronisch erkrankt sind, benötigen in der Schule zusätzliche medizinische Unterstützung. «In den meisten Fällen sind die Betroffenen sich normal entwickelnde Kinder und Jugendliche, die lernen, mit ihrer Erkrankung zu leben, und Selbstkompetenz im Umgang damit entwickelt haben», hält SAD-Leiterin Bauschatz fest. Unterstützung bräuchten vor allem jüngere Kinder oder solche, bei denen aufgrund der Erkrankung ein lebensbedrohlicher Zwischenfall eintreten könnte. Hierbei handle es sich aber um eine klare Minderheit. Doch wer setzt nun bei Bedarf die Insulinspritze? «Insulin wird regelmässig und nicht notfallmässig gespritzt. Jugendliche sind in der Regel selbstständig. Kinder können die Blutzuckermessung und die Insulinverabreichung ab einem gewissen Alter bereits selber managen, brauchen jedoch häufig noch jemanden, der die Dosierung überprüft», erklärt Bauschatz.
Weiter im Netz
www.schulgesundheit.bl.ch www.stadt-zuerich.ch/ssd > Gesundheit & Prävention > Schulärztlicher Dienst > Chronische Krankheiten
www.rki.de > Gesundheitsmonitoring > Gesundheitsberichterstattung > Gesundheit in Deutschland 2015 – Kurzfassung des Berichts «Gesundheit in Deutschland 2015» des Robert Koch Instituts
publiziert Mai 2019, Zeitschrift “Bildung Schweiz” (05/2019)