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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Warum sind wir nur so kurzsichtig?

Warum sind wir nur so kurzsichtig?

Eine Studie aus China zeigt, dass die Kurzsichtigkeit bei Kindern während des Lockdowns rasant zunahm. Trifft das auch auf die Schweiz zu? Oder ist alles nur eine Frage der Sichtweise? 

«Pandemie schlägt auf Kinderaugen» titelte das Schweizer Fernsehen am 9.April 2021. Damit reagierte es auf eine Reihe von Artikeln in den Schweizer Medien, die von «Der Lockdown schadet den Augen» in der «NZZ» bis «Kurzsichtig durch Corona» in der «SonntagsZeitung» reichten. Die verschiedenen Schlagzeilen basieren auf einer Studie aus China, die im Januar 2021 veröffentlicht wurde. Seit 2015 haben chinesische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Entwicklung der Sehkraft von mehr als 123 000 Schulkindern in China untersucht. 2020 stieg die Myopie, umgangssprachlich Kurzsichtigkeit genannt, im Vergleich mit den früheren Resultaten massiv an. Während vor Corona bei den unter Sechsjährigen rund 6 Prozent als kurzsichtig galten, waren es danach fast 22 Prozent. Die Forschenden sehen im harten Lockdown die Ursache für die Verschlechterung der Sehkraft der chinesischen Mädchen und Jungen. Denn während vier Monaten, von Ende Januar bis Mai 2020, sassen an die 220 Millionen Schulkinder zu Hause fest – die grosse Mehrheit pausenlos vor einem Bildschirm, ohne Bewegung, Zeit an der frischen Luft oder direkten Kontakt mit Tageslicht. 

Eins-zu-eins-Übertragung auf die Schweiz ist nicht zulässig
Das chinesische Szenario kurzerhand auf die Schweiz zu übertragen, entspricht einer «kurzsichtigen» Interpretation der Sachlage. Ein pandemiebedingter Lockdown allein macht genauso wenig kurzsichtig wie das Internet krank oder Zucker dick macht. Es ist die Kombination und Häufigkeit von unterschiedlichsten Variablen über eine längere Dauer, die schliesslich schädlich sein kann. Dass sich zu lange Bildschirmzeiten und fehlendes Tageslicht auf die Sehstärke auswirken können, ist seit Jahren medizinisch bewiesen. Die chinesischen Kinder haben all diese Risikofaktoren lückenlos abgedeckt. In der Schweiz sieht die Situation anders aus. 

Ein pandemiebedingter Lockdown allein macht genauso wenig kurzsichtig wie das Internet krank oder Zucker dick macht.

«Hierzulande konnten die Kinder über die ganze Coronazeit nach draussen. Tageslicht und Bewegung waren vorhanden. Insofern gehe ich von einem günstigeren Verlauf aus, als die Zahlen aus China zeigen», sagt Anja Palmowski-Wolfe, Leitende Ärztin der Orthoptik und Neuroophthalmologie am Universitätsspital Basel. Seit 2019 gibt es in Basel eine spezialisierte Myopie-Sprechstunde. Auffallend sei, dass vermehrt jüngere Kinder, etwa bereits im Alter von drei Jahren, deutlich in Richtung Kurzsichtigkeit gehen, erklärt Palmowski-Wolfe. «Beim Nachfragen ist dann klar ersichtlich, dass häufig ein überdurchschnittlicher Medienkonsum drinnen erfolgt», konkretisiert die Augenärztin. Schweizweit fehlen zwar genaue Zahlen zur Kurzsichtigkeit bei Kindern, aber Schätzungen zufolge braucht jedes dritte Kind am Ende der Schulzeit eine Brille oder Kontaktlinsen. Das Brien Holden Vision Institute geht basierend auf aktuellen Studien davon aus, dass bis zum Jahr 2050 die Hälfte der Weltbevölkerung kurzsichtig sein wird. Asiatische Staaten wie China, Taiwan und Singapur haben die Prognose schon zum heutigen Zeitpunkt überschritten. In Singapur gelten 83 Prozent der jungen Erwachsenen als kurzsichtig. 

Fehlendes Tageslicht ist der Hauptgrund für Kurzsichtigkeit
Die Ursachen für die Zunahme von Myopie vor allem unter Kindern sind multifaktoriell. Einer dieser Faktoren ist die genetische Veranlagung. Sind Familienmitglieder von Kurzsichtigkeit betroffen, ist die Wahrscheinlichkeit grösser, eine solche zu entwickeln. Die entscheidende Rolle spielen jedoch verschiedene Umweltfaktoren und der Lebensstil. Ein ständiges starkes Fokussieren auf nahe liegende Objekte wie Bildschirme, Tablets, Mobiltelefone oder Bücher fördert die Kurzsichtigkeit. 

Schweizweit fehlen genaue Zahlen zur Kurzsichtigkeit bei Kindern. Schätzungen zufolge braucht jedes dritte Kind am Ende der Schulzeit eine Brille oder Kontaktlinsen.

Verstärkt wird die Situation durch fehlendes Tageslicht. Denn Sonnenlicht hat die Fähigkeit, das übermässige Wachstum des Augapfels zu bremsen, das zu Kurzsichtigkeit führt. Verantwortlich dafür ist der Botenstoff Dopamin, der durch das natürliche Licht in der Netzhaut freigesetzt wird und das zu starke Wachstum des Augapfels hemmt. Künstliches Bildschirmlicht oder die gewohnte Innenbeleuchtung von Schul- und Kinderzimmern lösen diesen Prozess nicht aus, dafür sind sie zu schwach. Im Freien beträgt die Lichtstärke etwa 10 000 Lux. In Innenräumen beträgt sie nur knapp 500 Lux – und damit rund 20-mal weniger. 

Einfache Faustregel hilft weiter 
Für Fachpersonen ist klar: Fehlendes Tageslicht ist die Hauptursache von Kurzsichtigkeit bei Kindern. Doch wie können Schulen und Lehrpersonen auf diese Erkenntnis reagieren? Eltern und Lehrpersonen sollen sich an die «20-20-2»-Regel halten, empfiehlt Augenärztin Palmowski- Wolfe. Das heisst: alle 20 Minuten für 20 Sekunden in die Ferne schauen und 2 Stunden pro Tag bei Tageslicht draussen verbringen. Hausaufgaben können auf dem Balkon statt im Kinderzimmer gelöst werden. Die Klassenlektüre wird unter einem Baum statt am Schreibtisch gelesen und die Klassengespräche werden an der frischen Luft geführt. Dass natürliches Licht einen immensen Einfluss auf die Augen hat, zeigen Zahlen aus Taiwan, wo 84 Prozent der Kinder kurzsichtig sind. Seit das Sehpräventionsprogramm Aktivitäten im Freien fördert, ist der Kurzsichtigkeitstrend rückläufig. Die Schülerinnen und Schüler verbringen täglich mindestens 80 Minuten im Freien. 

Sehschärfe verändert sich je nach Belastung
Kurzsichtigkeit an sich kann kaum geheilt werden. Die Anpassung von Lebensstil und Gewohnheiten kann aber vor Kurzsichtigkeit schützen oder deren Fortschreiten verlangsamen. Die Koordination der Augenmuskeln ist dabei zentral. Augenoptikermeister und Sportoptometrist Pascal Abegg hat sich auf Augentrainings mit Spitzenathletinnen und -athleten spezialisiert. Diese lernen, wie sie die Augenmuskeln bewusst steuern können. Denn da ist der Torwart, der einen auf sich zurasenden Ball fixieren muss, oder die Skirennfahrerin, die sich in Sekundenbruchteilen an veränderte Lichtverhältnisse zu gewöhnen versucht. 

Die «20-20-2»-Regel als Maßstab: Alle 20 Minuten für 20 Sekunden in die Ferne schauen und 2 Stunden pro Tag bei Tageslicht draussen verbringen.

«In der Arbeit mit Leistungsportlern zeigt sich, dass sich die Kurzsichtigkeit und die damit für die Ferne reduzierte Sehschärfe in verschiedenen Belastungsphasen verändern können», fasst Abegg seine Erfahrungen zusammen. Der Augenoptikermeister fügt hinzu: «Die gleiche Erkenntnis teilen auch Kinder mit beginnender Kurzsichtigkeit. Sie berichten oft, dass ihre Sehschärfe je nach Tageszeit oder Tätigkeit unterschiedlich ist.» Abegg spricht bewusst von funktioneller Kurzsichtigkeit, basierend auf der Steuerung der Funktion des Auges. «Bewegung und die daraus resultierende Veränderung der Körperspannung verändern auch die visuelle Wahrnehmungsverarbeitung und die Sehschärfe.» Klarheit geben Sehtests: Vor, mit und nach körperlichen Belastungen fallen sie unterschiedlich aus. 

Erkenntnisse aus dem Spitzensport auch im Unterricht anwendbar 
Von Abeggs Erkenntnissen können nicht nur Spitzensportlerinnen und -sportler, sondern auch Schulkinder profitieren. Gefragt ist ein Wechselspiel zwischen Nah- und Fernsicht, zwischen Orientierung und Fixierung. Und genau diese Abwechslung für die Augen, in Kombination mit Bewegung und Licht, ist auch im Unterricht möglich. Warum nicht eine Textpassage lesen und dabei auf einem Ball balancieren, nach dem gelesenen Buchkapitel draussen «Ich sehe was, was du nicht siehst» spielen oder zwischen zwei Arbeitsblättern in der Turnhalle mit Bällen jonglieren? 


publiziert Juli 2021, in “Bildung Schweiz” (7/8/ 2021)

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