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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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«Ich will und zwar jetzt!»

«Ich will und zwar jetzt!»

Frühkindliche Förderung vernachlässigt heute oftmals die emotionale und soziale Entwicklung. Was sollten Eltern wissen und was können Lehrpersonen tun? Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm, Heilpädagogin Ruth Fritschi und Peter Müller, Leiter Schulpsychologischer Dienst des Kantons Zug, liefern Antworten.

Der fünfjährige Manuel spielt virtuos Geige, kann jedoch nicht warten, bis er beim Erzählen im Kindergarten an der Reihe ist, und reagiert mit einem Wutanfall. Die gleichaltrige Julia liest problemlos Globi-Bücher, macht aber noch in die Hose. Darauf angesprochen antwortet sie leicht gekränkt: «Ich bin halt noch nicht so weit.» Ihre Mutter lächelt und nickt beipflichtend. Und der sechsjährige Luc spricht dank Förderstunden erste Worte Englisch, schafft es jedoch nicht, seinen Teller nach dem Essen in die Küche zu tragen. «It’s not my business.»

Es gibt keine Zweifel: Der heutige Nachwuchs hat schon im frühen Kindesalter Wissen, das den vorhergehenden Generationen manchmal ein Leben lang vorenthalten blieb. Ob Chinesisch, Yoga oder Ausdruckstanz – die kleinen Wesen verfügen über einen eindrucksvollen Rucksack an Können. Gleichzeitig weisen sie häufig erstaunliche Defizite auf, wenn es um emotionale Fähigkeiten geht. Definiert werden diese als «Fähigkeiten, in der Interaktion mit anderen eigene Gefühle auszudrücken, mit ihnen angemessen umzugehen und Gefühle des Gegenübers zu erkennen». In der Praxis heisst das auch: Bedürfnisse aufschieben, unangenehme Situationen aushalten und Frustrationen tolerieren. Doch Fehlanzeige: Für viele Vorschul- und Schulkinder liegen Durchbeissen, Hintanstellen oder Verlieren nicht mehr «im Trend». Im Alltag haben diese Kinder Mühe, ein Ämtli auszuführen, sie können nicht warten, bis sie an der Reihe sind, bei einem Spiel verlieren oder Kritik einstecken. Ihre Bedürfnisse sollen sofort, schnell und widerstandslos erfüllt werden. Ist dies nicht der Fall, drohen emotionale Ausraster – ein Wutanfall, ein Weinkrampf, eine Trotztirade.

Für viele Vorschul- und Schulkinder liegen Durchbeissen, Hintanstellen oder Verlieren nicht mehr «im Trend».

Es überrascht darum kaum, dass «emotionale Kompetenzen» Lehrpersonen, Eltern, aber auch Kinderärzte gleichermassen beschäftigen. In St. Gallen widmete sich vergangenen September die Vortragsreihe «Schule & Pädiatrie» dem Thema. Der Ansturm – grösstenteils von Kinderärztinnen und Pädagogen – war so gross, dass das Referat auf eine Leinwand in einen Nebenraum übertragen wurde. Auf der Bühne stand Margrit Stamm. Die Professorin ist eine ausgewiesene Expertin der Pädagogischen Psychologie, Buchautorin («Lasst die Kinder los», 2016) und Referentin. Von 2004 bis 2016 war sie Professorin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaft in Freiburg. 2011 gründete sie das Universitäre Zentrum für frühkindliche Bildung (ZeFF). Gleichzeitig wurde sie Leiterin des Kompetenzzentrums des Bundesamts für Berufsbildung und Technologie (BBT). Ab 2013 widmete sie sich ganz dem Aufbau des Forschungsinstituts Swiss Education mit Sitz in Bern. Stamms Dossier «Ich will – und zwar jetzt! Mangelnde emotionale Kompetenzen im Vorschulalter und ihre Folgen» macht die Professorin zusätzlich zu einer wegweisenden Expertin für Eltern und Lehrpersonen rund um emotionale Kompetenzen, deren Fehlen und deren Förderung. Schon in der Einleitung zu Vortrag und Dossier stellt Stamm eine der wohl zentralsten Fragen: Warum sind Kinder heute weniger emotional kompetent?

Weniger im Fokus: Die emotionale Entwicklung
Eine Frage, die mehrschichtige Antworten nach sich zieht. «Frühkindliche Bildung konzentriert sich heute auf schulvorbereitende Aspekte wie Lesen, Schreiben, Rechnen», sagt Stamm. Die emotionale und soziale Entwicklung werde dabei häufig vernachlässigt. «Nur» Spielen oder mit einem Gspänli herumtollen gilt für Eltern oft als verlorene Zeit. Der Fokus liegt auf den Schulleistungen; betont werden die kognitiven Fähigkeiten – Lernen, Problemlösen, Erinnern, Argumentieren. «Die emotionale Entwicklung erhält gegenüber der kognitiven Förderung – von Ausnahmen abgesehen – deutlich weniger Aufmerksamkeit», beobachtet Stamm. Die Ursachen für eine mangelnde emotionale Kompetenz können aber auch beim Kind, in der Familie, bei den Peers, der Betreuungsstruktur oder den gesellschaftlichen Entwicklungen liegen (vgl. Grafik ). Zusätzlich beeinflussen die Sprachfähigkeiten, das Geschlecht, das Temperament sowie die soziale und kulturelle Herkunft eines Kindes seine emotionalen Kompetenzen. Die Familie ist dabei der früheste und wichtigste Prägungsort.

                                                                                                                                                                                                                                

Als Herzstück – wie es Stamm formuliert – gilt die Frustrationstoleranz. «Kinder müssen lernen, dass es bessere und schlechtere Wege gibt, um Ärger, Angst und Wut auszudrücken. Dazu gehört auch, eine unangenehme Situation über längere Zeit auszuhalten», erklärt Stamm in ihrem Dossier. Als Paradestudie, die aufzeigt, wie Frustrationstoleranz das Leben positiv beeinflussen kann, gilt der sogenannte Marshmallow-Test und dessen Follow-up (vgl. Kasten).

Frustration aushalten können
«Auch unsere eigenen Studien haben gezeigt, dass sich hohe Frustrationstoleranz langfristig mit Blick auf den schulischen und beruflichen Erfolg auszeichnet. Eine hohe Frustrationstoleranz hat nicht nur wesentliche Anteile am Schulerfolg, sondern erweist sich auch als wichtiger als eine überdurchschnittliche Intelligenz», so Stamm weiter. Kinder mit geringer Frustrationstoleranz seien hingegen benachteiligt, weil sie mit Niederlagen schlecht umgehen können. Die Schweizer Erziehungswissenschaftlerin präzisiert: «Allmählich sinkt ihre Motivation, neue Herausforderungen zu suchen, und es entsteht ein Teufelskreis mit langfristigen Auswirkungen. Überbehütung, die oft mit partnerschaftlichen Erziehungsstilen einhergeht, spielt dabei eine wesentliche Rolle.»

Kinder mit geringer Frustrationstoleranz sind  benachteiligt, weil sie mit Niederlagen schlecht umgehen können.

Doch egal ob emotional kompetent oder benachteiligt: Wie können Lehrpersonen diese Kompetenzen in Kindergarten und Schule fördern? «Eine gute Kita und ein guter Kindergarten sind Spielwiesen für emotionale Kompetenzentwicklung», erklärt Stamm. Das freie Spiel und Kinderfreundschaften fordern und fördern die Entwicklung emotionaler Kompetenzen. Beim Spielen und in einer Freundschaftsbeziehung kann der Umgang mit Emotionen erprobt und geübt werden – ohne Einfluss und Kontrolle von Erwachsenen. Freunde und Spiel werden zu wertvollen Entwicklungshelfern.

Beziehung zwischen Lehrperson und Kind ausschlaggebend
Lehrpersonen können durch klare Regeln die Frustrationstoleranz stärken und durch das Adressieren von Gefühlen die emotionalen Kompetenzen ihrer Schützlinge unterstützen. Das Wissen um die eigene Modellwirkung spielt eine tragende Rolle. Für Peter Müller, Leiter des Schulpsychologischen Dienstes des Kantons Zug, ist die Beziehung zwischen Lehrperson und Kind der wichtigste Aspekt: «Das Kind lernt, wenn die Beziehung stimmt. Wenn wir uns an die Schule erinnern, erinnern wir uns nicht an die Lerninhalte, sondern an die Lehrpersonen. Es ist wichtig, sich als Lehrperson immer wieder zu vergewissern, dass das Kind nur dann gut lernen kann, wenn die Eltern-Kind- Beziehung und in der Schule die Beziehung zur Lehrper- son stimmen», erklärt Müller. Er geht noch einen Schritt weiter: «Wenn ich mir als Lehrperson bewusst bin, dass eine gute Beziehung zum Schüler die Basis für das Lernen bildet, braucht es kein zusätzliches Fördern. Denn durch meine Beziehung zum Kind lebe ich tagtäglich emotionale Kompetenz vor.»

Schulpsychologe Peter Müller (Bild zVg)                                                                                   Professorin Margrit Stamm (Bild zVg)

Ob Lehrpersonen und Eltern ihrer Modellwirkung auch wirklich gerecht werden, bleibt in vielen Fällen fraglich. Überbehütung, Verwöhnen und ein früher einseitiger Fokus auf kognitive Fähigkeiten und Schulleistungen stellen suboptimale Bedingungen dar. Im St. Galler Quartier Rotmonten wurde der Wettlauf «Dä schnellscht Rotmöntler» 2017 aus dem Sporttag-Programm gestrichen – das erste Mal seit 20 Jahren. Im Vorjahr zweifelten die ehrgeizigen Eltern die Ranglisten an und beschwerten sich über ungenaue Zeitmessungen. Gefordert wurden digitale Zeitmessungen mit Zielfotos und Zeitlupe. Für die Lehrpersonen und den Schuldirektor war ein solcher Aufwand übertrieben für einen Primarschulsporttag. Der Wettlauf wurde kurzerhand für alle Kinder aus dem Programm gestrichen – eine Bankrotterklärung an die Frustrationstoleranz von Lehrpersonen, Eltern und Kindern.

Weiter im Netz
www.margritstamm.ch

MARSHMALLOW-TEST

Psychologe und Professor Walter Mischel prüfte in den 60er- und 70er-Jahren mit einem einfachen Experiment die Fähigkeit von Kindern, ihre Bedürfnisse aufzuschieben. 4- bis 5-Jährige wurden vor die Wahl gestellt, ein Marshmallow sofort zu essen oder zu warten und dafür als Belohnung noch ein zweites zu bekommen. 600 Kinder nahmen teil. Sie sassen einzeln in einem leeren Raum, das Marshmallow vor sich auf dem Tisch (vgl. www.youtube.com/ watch?v=QX_oy9614H). Walter Mischel verfolgte den Lebensweg und den Schulerfolg der Probanden über Jahrzehnte weiter. Er zeigte auf, dass ein Zusammenhang zwischen dem Verhalten beim Marshmallow-Test und dem weiteren Erfolg im Leben besteht. Kinder, die dem Marshmallow widerstehen und damit auf die Belohnung warten konnten, wiesen später bessere Schulnoten und eine höhere Konzentrationsfähigkeit auf. Sie konnten besser mit Frustrationen umgehen und waren selbstbewusster. Später erzielten sie bei Intelligenztests höhere Werte, verfügten über stabilere Beziehungen, hatten häufiger einen Uni-Abschluss und nahmen seltener Drogen. Zeigt sich also im Alter von vier Jahren und der Reaktion auf ein einzelnes Marshmallow, wer später im Leben erfolgreich ist? Mischel relativiert die Resultate in der Wochenzeitung «Die Zeit»: «Die Gene spielen eine Rolle, aber Umwelt, Erziehung und Erfahrungen haben auch einen Einfluss. Man kann das nicht trennen. Und nicht jeder, der beim Marshmallow-Test schlecht abschneidet, hat ein miserables Leben vor sich. Das ist wie bei Zigaretten: Statistisch ist klar, dass Raucher früher sterben, aber einige werden trotzdem über 90 Jahre alt.»

 

«Die emotionale und die soziale Entwicklung werden stark vernachlässigt»

Ruth Fritschi, Heilpädagogin, Geschäftsleitungsmitglied des LCH und Präsidentin der Stufenkommission 4 bis 8, betont, wie wichtig es ist, dass Kinder Situationen mit Frustration aushalten lernen.

Vorschulkinder können heute mehr als noch vor zwanzig Jahren – und trotzdem sind sie oft emotional retardiert. Inwieweit deckt sich dieses Bild mit Ihren Er- fahrungen und Beobachtungen?
RUTH FRITSCHI: Ich stelle fest, dass die Lehrpersonen im Kin- dergarten und in den ersten Klassen der Primarschule in den Elterngesprächen immer wieder hervorheben müssen, wie wichtig es ist, dass ihr Kind Situationen mit Frustration aushalten und Begebenheiten mit anderen Kindern lesen und einschätzen lernen muss. Viele Eltern verstehen unter einer guten Vorbereitung auf die Pri- marschule die Förderung von frühem Lesen und Rechnen. Dabei werden die emotionale und die soziale Entwicklung stark vernachlässigt.

Werden emotionale Kompetenzen in der Schule zu wenig gefördert?
RUTH FRITSCHI: Als Schulische Heilpädagogin einer grossen Schuleinheit im Kanton St. Gallen habe ich Ein- blick in zwölf Klassen vom Kin- dergarten bis in die sechste Primarschulklasse. Die Schule fördert die emotionalen Kom- petenzen nicht zu wenig. Die bisherigen und die aktuellen Lehrpläne gehen aber davon aus, dass die Kinder, die in das System Schule eintreten, «grundlegende emotionale Kompetenzen» mitbringen, die für das Anteilnehmen und für das Lernen in einer grösseren Gruppe vorausgesetzt werden. Dies ist oft aber nicht der Fall.

Freies Spiel wird wissenschaftlich als eine sehr wichtige Komponente gesehen, um emotionale Kompetenzen zu erwerben. Doch stirbt das freie Spiel durch die Akademisierung der Kindergarten- und Primarschulklassen aus?
RUTH FRITSCHI: Dass das freie Spiel eine der wichtigsten Komponenten ist, um die emotionalen Kompe- tenzen zu erwerben, ist für Lehrpersonen mit einer tertiä- ren Ausbildung selbstver- ständlich. Darum verlangt die Arbeit auf den ersten Stufen der Volksschule ausreichende Kenntnisse in der Entwicklungspsychologie und der damit verbundenen Spielentwicklung.

publiziert Januar 2018, Zeitschrift “Bildung Schweiz” (01/2018)

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