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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Die Schlange als Eisbrecher

Die Schlange als Eisbrecher

Bei Oberstufenlehrer Toni Frei gehören lebendige exotische Tiere zum Schulunterricht. Vermittelt wird nicht nur Wissen, sondern auch Neugier und Gesprächsstoff für die ganze Schule.

Donnerstagnachmittag, Zimmer C4 im Oberstufenschulhaus in Goldach SG am Bodensee. Lehrer Toni Frei erklärt seinen 19 Schützlingen die nächste Lektion. Was auf dem Stundenplan trocken als «Natur & Technik» vermerkt ist, gehört für die zwölfjährigen Schülerinnen und Schüler zu den spannendsten Lektionen der Woche. Im Mittelpunkt stehen für einmal nicht Schulbücher und Arbeitsblätter, sondern lebendige Tiere. Im Schulzimmer tummeln sich artgerecht in Terrarien oder Käfigen gehalten – Gespenstschrecken, Schildkröten, Wüstenheuschrecken, Leopardgeckos, Rennmäuse, ein Python und eine Kornnatter. Zwischen Sommer- und Herbstferien gehören diese Tiere permanent zur Klasse. In kleinen Gruppen kümmern sich die Schüler um die Kreaturen, sie sind für Futter und Pflege verantwortlich. «Wenn ich nach den Sommerferien mit einer neuen Klasse starte, steht bis zum Herbst immer eine Auswahl an Tieren im Mittelpunkt. Einige werden von Schülerinnen und Schülern mitgebracht, wie zum Beispiel dieses Jahr die Kornnatter. Der Rest stammt von mir», sagt Toni Frei .

Wenn ich den Salat für die Schildkröte vergesse, habe nicht nur ich ein Problem.

Das Schuljahr mit dem Thema «Tier & Pflege» zu starten, sei kein Zufall. «Die exotischen Tiere faszinieren die Jugendlichen», sagt Frei. Fragen, Interessen und Ängste würden rund ums Tier einfacher angesprochen und thematisiert als während des normalen Schulunterrichts. Dialoge und Gruppengespräche verlaufen ungezwungener. «Ich als Lehrperson lerne die Kinder von einer anderen Seite kennen. Ich empfinde diese Erfahrung als sehr wertvoll und als guten Start für den Lernweg, auf dem ich die Jugendlichen begleiten werde», erklärt der Pädagoge.

Manche packts, andere nicht
Die Pflege der Tiere – inklusive obligatorischer Pflegeprotokolle – verlangt von den Schülerinnen und Schülern Pflichtbewusstsein, Verantwortung, aber auch Lernbereitschaft. «Wenn ich den Salat für die Schildkröte vergesse, habe nicht nur ich ein Problem», sagt ein Junge aus dem «Team Schildkröte». Und ein Mädchen ergänzt: «Man muss zum Beispiel lernen, wie man die Grillen richtig hält und sie im Notfall wieder einfängt.» Doch es sollen nicht nur Wissen und Kompetenzen vermittelt, sondern auch Vorurteile und Ekel überwunden werden. «Viele Kinder finden schon einen Regenwurm eklig, ganz zu schweigen von einer Schlange», sagt Frei. Diese Haltung werde von den Eltern vorgelebt – die Kinder kopierten sie.

Lehrer Toni Frei mit Schlange Pera (Bild: Tierwelt / Adrian Baer)

Viele der Schülerinnen und Schüler ekeln sich zuerst vor den Tieren, um die sie sich kümmern müssen. «Mit der Zeit lernen sie die Kreaturen kennen, schätzen und auch als schützenswert einzustufen», erklärt Frei. Die Jugendlichen lernen täglich dazu: Dass die Schlange sich kühl und trocken anfühlt, dass eine Schildkröte Salat in Massen frisst und die Leopardgeckos sich häuten, ist für viele von ihnen neu.

Vor 15 Jahren zog dann Pera ins Schulzimmer und gehört seitdem zum Inventar – zwar ein paar Mal ausgebrochen, aber immer wieder erfolgreich eingefangen.

Die Begeisterung für die Tiere ist nicht bei allen Schülern gleich. «Etwa ein Viertel wird sich nachhaltig für Tiere begeistern», sagt Frei. Einige nehmen die Insekten mit nach Hause oder beginnen selbst zu züchten. «Und ich treffe jedes Jahr einige ehemalige Schüler an einer Schlangen- und Spinnenmesse», sagt Frei. Für den Rest bleibt das Thema Tier eine spannende, aber temporäre Angelegenheit.

Toni Frei selbst ist von Haus aus ein Tierfan. Aufgewachsen in einem natur- und tiernahen Elternhaus, kaufte er sich als Primarschüler am Jahrmarkt für fünf Franken die erste Schildkröte. Danach kamen mehr Tiere dazu – vor 22 Jahren Python Pera. Für den Unterricht in der Schule borgte sich Frei jeweils für einige Wochen ein paar exotische Tiere in einer Zoohandlung. Vor 15 Jahren zog dann Pera ins Schulzimmer von Toni Frei und gehört seitdem zum Inventar – zwar ein paar Mal ausgebrochen, aber immer wieder erfolgreich eingefangen.


Mit Haut, Haaren und Handy dabei. Schüler filmt Schlange (Bild Tierwelt / Adrian Baer)

Bei Schüler- und Elternschaft stösst das 1,4 Meter lange und rund 2,5 Kilogramm schwere Reptil auf grosses Interesse. Pera ist ein beliebtes Gesprächsthema und macht laut Frei Konversationen zwischen Eltern, Lehrer und Schülerschaft oft ein wenig einfacher. Die Schlange als Eisbrecher.

Frei unterrichtet seit 36 Jahren. Schlechte Erfahrungen mit dem Tierunterricht habe er bis heute keine gemacht, betont der Ostschweizer. Giftige Tiere sind für ihn tabu. Respektvoller Umgang mit den Kreaturen steht im Vordergrund. Allergien oder Phobien haben bis jetzt noch nie eine Rolle gespielt. Ist das Thema Tiere abgeschlossen – mit einem Fachreferat von jeder Gruppe – kehren die Tiere (ausser Pera) wieder in ihre gewohnten Zuhause zurück, sei es zu einem Schüler oder zu Toni Frei.

Nur Python Pera bleibt permanent im Terrarium im Schulzimmer – und scheint eine gewisse Autorität auszustrahlen. Bis heute wurde nie eingebrochen, nie irgendetwas beschädigt und Python Pera auch nie nicht tiergerecht behandelt. Im Gegenteil: «Es gibt wohl kaum einen Schüler oder eine Schülerin, die nach drei Jahren Unterricht in diesem Zimmer Pera nicht ins Herz geschlossen hat», sagt Frei. Anders sieht es bei einigen Lehrerkolleginnen und -kollegen aus. Einige  bleiben Freis Schulzimmer seit Jahren kon- sequent fern.

publiziert, 2. November 2017, Magazin “Die Tierwelt”

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