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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Macht Begabung Schule?

Macht Begabung Schule?

Die Regelklasse sollte allen Kindern gerecht werden. Doch wie gut sind begabte Kinder in der Volksschule aufgehoben? Und ist eine Einteilung in “hochbegabt” und “normal begabt” sinnvoll?
Die Schulleistungen von Eric sind genügend. Doch der Junge langweilt sich im Unterricht. Er wirkt demotiviert und stört seine Klassenkameraden. Eric steht symbolisch für die Kinder, welche in einer Regelklasse anecken. Und trotzdem ist Eric ein Sonderfall. Der Primarschüler hat einen IQ von 132 und ist damit hochbegabt.

Im März 2012 veröffentlichte die Zeitschrift Beobachter einen ausführlichen Artikel zum Thema Hochbegabung. Fazit: Öffentliche Schulen tun sich schwer mit Hochbegabung. Die Förderung ist stark von den einzelnen Lehrkräften abhängig. Das heisst mit anderen Worten: Stösst ein begabtes Kind wie Eric auf eine ungeschulte Lehrkraft, wird es mit seiner Begabung im Stich gelassen. Doch stimmt dieses Bild überhaupt?

Ist der Stempel Hochbegabung nicht auch eine Einschränkung oder gar Stigmatisierung?

«Im Grunde genommen hängt jede schulische Förderung von den einzelnen Lehrkräften ab. Dass Lehrpersonen Ressourcen und Potentiale von Kindern nicht immer entdecken, vor allem wenn sie den gängigen Stereotypen nicht entsprechen, stimmt leider», erklärt Silvia Grossenbacher von der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung in Aarau. Grossenbacher koordiniert das Netzwerk Begabungsförderung; eine Plattform für Institutionen und Personen, die sich für Begabungs- und Begabtenförderung engagieren. Getragen wird das Netzwerk von den Deutschschweizer Kantonen. «Eines der zentralen Anliegen des Netzwerkes und der einzelnen Kantone ist es, die Kompetenzen der Lehrpersonen betreffend Begabungs- und Begabtenförderung zu verbessern», ergänzt Grossenbacher. Im Klartext heisst das: Pädagogische Hochschulen versuchen künftige Lehrpersonen unter der Thematik «Umgang mit Heterogenität» auf das Thema Begabungs- und Begabtenförderung vorzubereiten. Im Zentrum steht dabei nicht das «überbegabte Kind», sondern differenzierende Lernangebote für heterogene Gruppen. Doch was passiert wenn ein hochbegabtes Kind wie Eric Glück hat und auf eine geschulte Lehrkraft trifft? Ist der Stempel Hochbegabung nicht auch eine Einschränkung oder gar Stigmatisierung?

Bis ins Jungendalter kann sich der IQ im Einzelfall noch stark verändern
Vor dem Stempel kommt die Diagnose. Als klar überdurchschnittlich begabt gilt, wer über einen IQ, der höher ist als 115 verfügt. Ab einem IQ von 130 spricht man von Hochbegabung. Laut Elsbeth Stern, Professorin für Lehr- und Lernforschung an der ETH Zürich ist eine Diagnose betreffend Hochbegabung nicht vor dem zehnten Lebensjahr möglich.

«Bis ins Jungendalter kann sich der IQ im Einzelfall noch stark verändern. Eine falsche Diagnose in beide Richtungen – Hochbegabung zu übersehen wie auch sie fälschlicherweise zu attestieren – ist sehr problematisch»

«Bis ins Jungendalter kann sich der IQ im Einzelfall noch stark verändern. Eine falsche Diagnose in beide Richtungen – Hochbegabung zu übersehen wie auch sie fälschlicherweise zu attestieren – ist sehr problematisch», unterstreicht Stern, die seit über 25 Jahren den Zusammenhang zwischen Intelligenz und Lernen im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich studiert und erforscht. Stern empfiehlt Lehrpersonen, die überdurchschnittlich begabte und hochbegabte Kinder in ihrer Klasse haben, sie integrativ zu fördern und den Unterricht kognitiv aktivierend zu gestalten. «Die Schülerinnen und Schüler müssen wissen, wie man das Gelernte einsetzt und was man damit erklären kann», konkretisiert Stern. «Von derartigem Unterricht profitieren alle und wer einen hohen IQ mitbringt wird eigenständige Schlüsse ziehen und manche Gebiete vertiefen».

Lehrerteams, die Begabungs- und Begabtenförderung aktiv betreiben, können seit 10 Jahren für den LISSA-Preis nominiert werden. Hinter dem Preis steht die Stiftung für hochbegabte Kinder. Ihr Zweck ist es, Kinder mit hohem Potenzial gezielt zu fördern. Ganz nach dem Motto: Begabung macht Schule! Der LISSA-Preis wird alle zwei Jahre verliehen, das nächste Mal im kommenden September. «Die eingereichten Projekte werden von Jahr zu Jahr umfassender, umfangreicher und integrativer. Die schlussendlich ausgezeichneten Projekte glänzen durch hervorragend individualisierten, selbstgesteuerten Unterricht mit Stärkenorientierung und ergänzenden Angeboten zu den diversen Intelligenzen und Niveaus“, erklärt Regula Haag, Geschäftsführerin der Stiftung für hochbegabte Kinder und Projektleiterin des LISSA-Preises.

Eine klare Einteilung in “hochbegabt” und “normal begabt” sei immer künstlich. «Die Übergänge sind fliessend. Schwierig wird es, wenn Kinder mit besonderen Interessen in der Wahrnehmung von Lehrpersonen den Unterricht “stören“, weil sie eine Aufgabe uminterpretieren, anspruchsvoller lösen oder weil es ihnen langweilig ist.

Da ist zum Beispiel das Schulhaus Ebnet in der Luzerner Gemeinde Entlebuch. Die kleine Primarschule mit 54 Schülerinnen und Schülern gewann 2012 den mit 5000 Franken dotierten zweiten Preis. Individuelle Lernzeit, Planarbeit und Förderkurse sind in dieser Schule ein fester Bestandteil des Unterrichtes. Pro Woche arbeiten alle Kinder ab der dritten Klasse während vier bis acht Lektionen an Plänen. Für besonders begabte Schülerinnen und Schüler werden in der Planarbeit einige Wiederholungs- und Übungsaufgaben gestrichen, Basisaufgaben gestrafft und durch herausfordernde Aufgaben ersetzt. Das Ziel ist es, dass die Kinder ihr Potenzial voll ausschöpfen können und nicht von Schwierigkeitslimiten gebremst werden. Übertroffen wurde dieses Projekt bei der letzten Preisausschreibung nur durch «Fit und Stark fürs Leben» der Primarschulen Mythen und Haggen in Rickenbach. Die Schwyzer gewannen mit ihrem innovativen Konzept den mit 10’000 Franken dotierten ersten Preis. «Fit und Stark fürs Leben» basiert auf drei verschiedenen Ressourcenräumen: Forscherraum, Bewegungsraum und Kreativraum. Die Räume schaffen ein begabungsförderndes Umfeld, das die kreative Produktivität der Schülerinnen und Schüler anregt. Im Normalfall dauern die Ateliers je zwei Lektionen an zwei Morgen. Die Lernenden können jeweils aus etwa zehn verschiedenen Angeboten auswählen. Ziel ist ein altersdurchmischtes Lernen, je nach Bedürfnis und Vorliebe des einzelnen Kindes. Externes Fachwissen von Eltern, Berufsleuten, Wissenschaftlern, Technikern und Künstlern kann so in die Schule einfliessen. Den Kindern werden damit Themenfelder und Begegnungen angeboten, welche im Schulalltag wenig Platz finden. Entdeckendes und forschendes Lernen, Entwickeln von Selbstlernfähigkeiten und Lernstrategien werden zum festen Teil des Schul- und Lernalltags.

Eine klare Einteilung in “hochbegabt” und “normal begabt” ist immer künstlich
Für Jürg Brühlmann, Leiter der Pädagogischen Arbeitsstelle LCH, ist der LISSA-Preis wichtig und unterstützend. «Der Preis macht Schulen sichtbar, welche die Förderung von besonderen Begabungen in ihren normalen Unterrichtsalltag integrieren. Und damit wird eine Kultur der vielseitigen Differenzierung geschaffen, die allen Kindern zu Gute kommt», betont Brühlmann. Eine klare Einteilung in “hochbegabt” und “normal begabt” sei immer künstlich. «Die Übergänge sind fliessend. Schwierig wird es, wenn Kinder mit besonderen Interessen in der Wahrnehmung von Lehrpersonen den Unterricht “stören“, weil sie eine Aufgabe uminterpretieren, anspruchsvoller lösen oder weil es ihnen langweilig ist. Dann kann es sein, dass sie sich aufgrund entmutigender Erfahrungen zurückziehen oder Verhaltensauffälligkeiten entwickeln», konkretisiert Brühlmann und fügt ein Erlebnis hinzu: «An einem Elternbesuchstag sollten die Kinder jeweils zwei Karten mit einzelnen Wörtern zu einem Wort kombinieren. Also Baum und Stamm zu Baumstamm. Ein Bub fand drei Karten die passten. Die Lehrerin wies ihn zu Recht und sagte: Ich habe gesagt nur zwei Karten. Danach sagte der Bub den ganzen Morgen nichts mehr».

«Wir denken noch stark in den Kategorien “normal” und “anders”. Dabei erhalten im Kanton Zürich über die Hälfte der Kinder irgendwann Sondermassnahmen.

Anzustreben wäre eine Begabungs- und Begabtenförderung für alle Kinder. Für Brühlmann ein Zukunftsszenario, für welches das heutige System noch nicht bereit sei – trotz LISSA-Preis und optimierter Lehrerausbildung. «Wir denken noch stark in den Kategorien “normal” und “anders”. Dabei erhalten im Kanton Zürich über die Hälfte der Kinder irgendwann Sondermassnahmen. Wenn es jedoch keine “normalen” Kinder gäbe, sondern nur individuelle Interessen und Begabungen, dann wäre es normal, wenn möglichst viele Kinder möglichst angepasste Lernaufgaben und Herausforderungen bewältigen könnten. Egal über welchen IQ sie verfügen.»

publiziert april 2014, “bildung schweiz” (04/2014)

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