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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Leben mit Lepra

Leben mit Lepra

Zärtlich streichelt Mina ihrem 5 jährigen Sohn Minavul übers kurze, dunkle Haar. Dabei lächelt sie stolz, so wie es auf der ganzen Welt Millionen von Müttern tun. Und trotzdem ist bei der 30 Jährigen alles anders. Sie spürt mit ihren Händen weder die feinen Haare ihres Sohnes, noch seine warme Haut. Minas Hände sind gefühllos, ihre Finger entstellt.

Mina kommt in einem kleinen Dorf im Norden Bangladeschs auf die Welt. Elektrizität gibt es keine. Autos und Besucher haben Seltenheitswert. Die Menschen leben in Lehmhütten und arbeiten für einen Tageslohn von einem knappen Euro auf den Feldern. Mina arbeitet mit. Eine Schule besucht sie nie. Mit 15 Jahren erkrankt sie an Lepra. Doch medizinische Hilfe gibt es keine – zu limitiert ist das Wissen über die Krankheit, zu abgelegen das Dorf, zu arm die Familie. Die Leprabazillen zerstören Minas Nerven – zuerst verliert sie das Gefühl in den Fingerspitzen, dann in den Händen, den Zehen und Füssen. „Die offenen Wunden bemerkte ich nicht. Ich spürte ja nichts. Die Menschen im Dorf schlossen mich aus. Den Zugang zur Wasserpumpe verwehrten sie mir“, erinnert sie sich. Erst kurz vor ihrem 18. Geburtstag bekommt Mina medizinische Hilfe. Die Antibiotika-Therapie stoppt die schon weit fortgeschrittene Krankheit. Zehen und Finger sind nicht mehr zu retten. Sie haben sich verformt oder fehlen ganz. Mina bleibt in ihrem Dorf und bettelt. Als Leprakranke gilt sie als unverheiratbar und wird damit zum „Freiwild“. Sie wird mehrmals vergewaltigt. 2005 kommt ihr Sohn Minavul zur Welt. „Er gibt mir eine Lebensaufgabe. Er soll zur Schule gehen und einen Beruf erlernen“. Ein Plan, der nicht einfach zu verwirklichen ist.

„Doch es lohnt sich zu kämpfen“, sagt eine, die es wissen muss.

Kinder in die Schule zu schicken, bedeutet für viele arme Familien ein Verlust an Einkommen.Laut UNICEF arbeiten in Bangladesch an die acht Millionen Kinder, um ihre Familien finanziell zu unterstützen. Denn knappe 40 Prozent der Menschen im Land leben unter der Armutsgrenze mit weniger als einem Dollar pro Tag. Die Mehrheit der schätzungsweise 25‘000 Leprakranken, die durch ihre Krankheit behindert sind, gehört zu dieser Bevölkerungsgruppe. „Doch es lohnt sich zu kämpfen“, sagt eine, die es wissen muss.

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Mina, gezeichnet und entstellt von der Krankheit. (Bild Wüthrich)

Lotifa erkrankt mit 12 Jahren an Lepra. Auch sie wird verstossen. „Doch Mitarbeiter der Lepra Mission fand mich und versorgten mich mit Antibiotika. Ich wurde in ein Ausbildungsprogramm aufgenommen, absolvierte die Lehre zur  Schneiderin und eröffnete mein eigenes Schneideratelier“, erzählt die 28-jährige. Die Blechhütte steht am Rande des Markplatzes; gefüllt mit farbigen Stoffen. Strom gibt es hier keinen. Die Nähmaschine wird mit dem Fuss betrieben.

Lotifa leugnet  ihre Geschichte. Sie behauptet, die drei Finger der linken Hand, die durch die Lepra-Erkrankung gefühlslos blieben, seien die Folgen eines Unfalls.

Anfangs hatten die Leute Vorbehalte Kleider von einer Leprakranken schneidern zu lassen. „Doch was zählt, ist schlussendlich Qualität und Preis“, betont Lotifa und fügt hinzu. „Viele Menschen wissen, dass von behandelten Leprakranken keine Ansteckungsgefahr ausgeht. Wer in einem frühen Stadium der Krankheit mit Antibiotika therapiert wird, kann sogar vollkommen geheilt werden“. Trotzdem leugnete Lotifa ihre Geschichte. Die drei Finger der linken Hand, die durch die Lepra-Erkrankung gefühlslos blieben, seien die Folgen eines Unfalls, erklärte sie ihrem zukünftigen Mann. Zu gross war die Angst als Leprakranke abgewiesen zu werden. Heute ist Lotifa Mutter von drei gesunden Kindern. Ihr Mann kennt ihre Geschichte und steht dazu. „Ein Leben ohne meine Frau kann ich mir nicht vorstellen. Lepra spielt dabei keine Rolle mehr“.

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Lotifa und ihr Mann im Schneideratelier. (Bild Wüthrich)

Bis Lepra im alltäglichen Leben in Bangladesch keine Rolle mehr spielt, wird es noch einige Zeit dauern. Doch die Zeichen stehen gut. In den letzten dreissig Jahren haben sich die Krankheitsfälle von 13 Leprakranken pro 10‘000 Leute auf weniger als einen Fall reduziert. Möglich war dies, dank der Informations- und Präventionspolitik von lokalen Organisationen und der Internationalen Lepra Mission (TLMI), die Antibiotika und operative Eingriffe für Leprakranke bezahlt. „Eine Behandlung wäre sonst unerschwinglich“, erklärt Jean-François Negrini. Der Schweizer Chirurg arbeitet in einem Lepra Krankenhaus im Norden Bangladeschs. Betreut werden hier Betroffene mit Wunden an Füssen und Händen, aber auch schwere Fälle bei denen Infektionen zu einer Krebserkrankung und zur Amputation führten.

Durch das Einsetzten von körpereigenen neuen Sehnen kann zum Beispiel die Schliessbewegung der Hand oder des Augenliedes reaktiviert werden

Lepra wird durch Tröpfcheninfektion übertragen. Werden Lepra-Kranke im Frühstadium konsequent mit einer Antibiotika-Therapie behandelt, kann die Krankheit geheilt werden. Bleibt die Ansteckung unbehandelt, zerstören die Leprabazillen Nerven in Händen und Füssen. Das Schmerzempfinden geht verloren, Wunden und Infektionen bleiben unbemerkt und können zum Verlust von Gliedmassen führen. Lepra wird als Krankheit der „armen Menschen“ umschrieben. Schlechte hygienische Verhältnisse, verschmutztes Trinkwasser und unzureichende Ernährung begünstigen die Ansteckung.

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Für diesen Mann, kam die Antibiotika-Therapie zu spät. Leprakranker in der Klinik. (Bild Wüthrich)

 

„Gewisse Behinderungen, die durch die Lepraerkrankung entstanden, können operativ behandelt werden. Durch das Einsetzten von körpereigenen neuen Sehnen kann zum Beispiel die Schliessbewegung der Hand oder des Augenliedes reaktiviert werden“, erklärt Chirurg Negrini. Eine seiner Patientinnen ist die 18 jährige Nargis.

Ihr Gesicht und ihr Körper sind übersät mit dunklen Flecken. Pigmentveränderung und Narben, Spuren der Lepraerkrankung. „Ich hatte Glück. Ausser den dunklen Flecken und meiner linken Hand, die ich nur eingeschränkt bewegen kann, geht es mir gut. Die Medikamente haben gewirkt“, erklärt Nargis. Ihre linke Hand steckt in einem Gipsverband. In wenigen Wochen wird sie das Krankenhaus verlassen. Die neu eingesetzten Sehnen geben ihr nicht nur einen Teil der Bewegungskapazität ihrer Hand zurück, sondern auch den Mut zu träumen. „Lehrerin möchte ich werden – und zeigen, dass Lepra nicht behindert“.

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Negrini kurz vor ihrer Entlassung aus der Klinik. (Bild Wüthrich)

Bangladesch
Mit 160 Millionen Einwohnern gehört Bangladesch  zu den dicht bevölkertsten und ärmsten Ländern der Welt. Der Staat zählt zu den Regionen, die am stärksten von Wetterkatastrophen und Klimawandel betroffen sind. Würde der Meeresspiegel um rund einen Meter ansteigen, wäre ein Fünftel des Landes dauerhaft überschwemmt. Millionen von Menschen würden ihre Existenzgrundlage verlieren. Gleichzeitig kämpft das Land mit extremer Landflucht, Überbevölkerung, Korruption und der Diskriminierung von Minderheiten – zum Beispiel von Leprakranken!

 

publiziert  juni 2010, jolie

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