Der letzte ewige Sommer
Viele träumen von einem Lebensabend in Thailand. Doch das Paradies kann auch schnell zum Albtraum werden
Das Ende beginnt oft mit einer Hüftfraktur. Die Pensionisten kommen auf den vom Tropenregen glitschig nassen Strassen zu Fall und brechen sich die Hüfte. An die 4500 Franken kostet eine Operation im öffentlichen Krankenhaus. Rehabilitation und Pflege noch nicht miteinberechnet. Horrende Kosten für Rentner, welche auf eigene Faust und mit kleinem Budget nach Chiang Mai im Nordwesten Thailands ausgewandert sind. Ihre Krankenversicherung im Heimatland haben sie gekündigt. Als ausländische Rentner werden sie jedoch kaum von einer thailändischen Krankenkasse aufgenommen. Aus Spargründen entschliessen sich viele für die Billigvariante: ausgeprägtes Gottvertrauen. «Wenn die Ärzte realisieren, dass der Verunfallte die Behandlungskosten nicht zahlen kann, rufen sie mich an», erklärt Nancy Lindley. Die 64-Jährige lebt mit ihrem Mann seit sechs Jahren in Chiang Mai. Sie ist Präsidentin des Expats-Clubs und Koordinatorin von Lanna Care Net – einer Organisation, die sich um finanziell und gesundheitlich ruinierte ausländische Rentner kümmert.
Auf der Suche nach Wärme und der grossen Liebe
«Als Erstes versuche ich, im Gespräch mit dem Betroffenen die Situation einzuschätzen und zu retten, was noch zu retten ist», erzählt die Amerikanerin. Ist das Visum noch gültig? Gibt es Familienangehörige? Wo sind die persönlichen Wertsachen – Pass, Bargeld, Bankkarte, vielleicht ein Motorrad? «Lebte der Pensionär vor seinem Unfall in einem billigen Gasthaus oder zur Miete in einer kleinen Wohnung, kann es sein, dass schon Stunden nach seiner Einlieferung die persönlichen Wertsachen verschwunden sind», schildert Lindley ihre Erfahrungen. Für die Opfer ein klarer Fall von Diebstahl. Für die Täter – Nachbarn, Hausangestellte, Vermieter oder sogenannte Freunde und Partnerinnen – eine Art von «Aufwandsentschädigung in Naturalien». «Die Fälle, mit denen wir bei Lanna Care Net konfrontiert werden, sind komplex. Es handelt sich dabei häufig um eine Kombination aus Alkohol, Demenz, fehlendem Geld, abgelaufenem Visum, psychischen Problemen und missglückten Liebesbeziehungen», so Lindley. Der Prototyp «Problempensionär» ist männlich und in der Heimat beziehungstechnisch gescheitert. Thailand soll nicht nur die beste Destination für seinen Lebensabend sein, sondern auch der Ort, um die Liebe des Lebens zu finden. Beides entpuppt sich in vielen Fällen als tragische Fehleinschätzung: Die ungleichen Beziehungen zu oft jungen Frauen scheitern, und das entspannte Pensionistenleben an der Wärme erweist sich als Trugschluss.
Nancy Lindley kümmert sich um finanziell und gesundheitlich ruinierte ausländische Rentner. (Bild Wüthrich)
Wer das Visum nicht erneuert, dem droht die Ausweisung
Zwar gilt die Provinz Chiang Mai mit rund 1,6 Millionen Einwohner (davon an die 170000 in der Stadt) als das Rentnerparadies schlechthin. Die Lebenskosten sind tief, der Pflegestandard gut und das Klima erträglich warm. Doch Chiang Mai ist auch der Ort, wo pensionierte Ausländer, welche ihren Lebensabend nicht im Voraus detailliert planen, kläglich ihr letztes Hemd verlieren. Vielen Pensionisten ist nicht klar, dass das Rentnerdasein in Thailand – vom Visum bis hin zur finanziellen und medizinischen Vorsorge – viel Zeit und ein gutes Netzwerk erfordern. Wer kümmert sich um den älteren Herrn, der nach dem Tod seiner Frau total verwahrlost? Wer hilft, wenn die al- leinstehende Pensionärin alles vergisst: den PIN-Code ihrer Kreditkarte und das Verlängern des Visums? Thailand vergibt an Ausländer, die älter sind als 50 Jahre und mehr als 24 000 Franken auf ihrem Bankkonto haben, ein sogenanntes «Retirement Visa». Doch wer es nicht rechtzeitig erneuert, dem drohen Bussen und schlussendlich die Ausweisung.
Er sterbe «mit den Stiefeln an seinen Füssen» irgendwo unterwegs auf Entdeckungstour
Gerard, 78, zuckt bei solchen Geschichten mit den Schultern. Der ehemalige Lehrer möchte seinen Familiennamen nicht in der Zeitung lesen. Altwerden sei Privatsache, findet er. Chiang Mai sei der Ort für seinen letzten ewigen Sommer. Sorgen um die Zukunft haben keinen Platz. «I will die with my boots on», ist der Amerikaner überzeugt. Er sterbe «mit den Stiefeln an seinen Füssen» irgendwo unterwegs auf Entdeckungstour. Und wenn alles anders kommt als erwartet – kenne er viele junge hübsche Frauen, die sich gerne um ihn kümmern.
Gerard, 78 Jahre alt: Pensionist und Optimist in seiner Wahlheimat Thailand. (Bild Wüthrich)
Einer, der weiss, wie es sich anfühlt, wenn alles anders kommt als erwartet, ist David Descault. Der ehemalige Börsenmakler, der vor zehn Jahren alleine – beziehungsweise mit einem massiven Alkoholproblem – nach Chiang Mai zog, konnte die Operation für die gebrochene Hüfte nicht zahlen. Sein Visum war abgelaufen. Die unbezahlten Rechnungen stapelten sich. Kinder oder Familienangehörige gibt es keine. Vergangenen Herbst wurde er – finanziert durch einen Kredit vom US-Konsulat – zurück nach Los Angeles geflogen und in ein öffentliches Pflegeheim gesteckt. Seine Rente wird in Zukunft direkt ans Pflegeheim überwiesen.
In Chiang Mai sind knapp 600 Schweizer gemeldet. Schätzungsweise an die 300 weitere Eidgenossen leben in der Stadt, sind aber nicht registriert. Von diesen insgesamt rund 900 Personen sind 90 Prozent Rentner. Zwangszurückgeschaffte Pensionisten sind bisher keine bekannt. «Ich weiss, dass es Schweizer Bürger gibt, die mit einem knappen Budget auskommen müssen», betont Andy Mannhart, Präsident der Swiss Lanna Society, dem Schweizer Club vor Ort. Das sind Landsleute, welche die einmalige Clubbeitrittsgebühr von knapp 45 Franken und den Jahresbeitrag von 30 Franken aus Spargründen nicht bezahlen können oder wollen.
Das letzte Flugticket soll Zürich–Chiang Mai sein
Mannhart, 62, lebt seit sechs Jahren ausserhalb von Chiang Mai. Für den gelernten Koch und Kaufmann, der als eigenständiger Unternehmer weltweit Hotelküchen ausstattete, war klar, dass er nach seiner Pensionierung nicht in die Schweiz zurückkehrt. Auf 60 000 Quadratmetern – inklusive einem See – gründete der Arboner eine Residenz für pensionierte Schweizerinnen und Schweizer. Heute stehen auf dem Grundstück – umgeben von Reisfeldern und einem kleinen Dorf – neun Bungalows inklusive Gemeinschaftspool und Stallungen für Mannharts Pferde. Der Kostenpunkt pro Haus liegt bei rund 250 000 Franken. Von den neun Bewohnern – acht Schweizerinnen und Schweizer und eine Australierin – braucht niemand Pflege. Noch nicht. Die Pensionäre pendeln bis jetzt zwischen der Schweiz und Thailand. Das Fernziel ist bei allen gleich: den Lebensabend in der neuen warmen Heimat zu verbringen.
Ein älteres Paar geniesst Wärme und Strand: Eine Wunschvorstellung für viele westliche Pensionäre.
Christine Peter wohnt seit 2013 in der von Mannhart gegründeten Residenz. Die ehemalige Handarbeitslehrerin war schon immer von Thailand begeistert und suchte während Jahren nach einem passenden Pensionsarrangement. Dem Zufall hat sie dabei nichts überlassen. Beim Bau des Hauses war sie vor Ort und hat jedes Detail mitgestaltet. Die grosszügige Küche, das Zimmer für die Gäste und nicht zuletzt die breite Glastür zur Veranda, durch die man problemlos ein Pflegebett schieben kann. «Ich hoffe, dass auf mei- nem letzten Flugticket, das ich in meinem Leben buche, Zürich– Chiang Mai steht», sagt die 68-Jährige. «Hier alt zu werden, ist für mich ein Traum: selbstbestimmt, in meinen eigenen vier Wänden und wenn nötig mit Pflegerinnen, die sich rund um die Uhr um mich kümmern.» Angst, in Thailand fern von Familie und Freunden zu vereinsa- men, hat Christine Peter nicht. «Mit Skype, Telefon und Internet bin ich mit der Welt verbunden. Zudem ist es um einiges interessanter, mich hier zu besuchen als in meiner Wohnung in Uster.»
Für rund 1200 Franken im Monat kann man sich zu Hause pflegen lassen: sieben Tage die Woche rund um die Uhr.
Laut der Informationsplattform «Live and Investment Overseas» gehört Chiang Mai weltweit zu den Top-Ten-Destinationen, um den Lebensabend kostengünstig und sicher zu verbringen. Chiang Mai liegt beim aktuellen Ranking auf Rang vier – nur knapp hinter dem Spitzenreiter Algarve in Portugal, Cuenca in Ecuador und George Town in Malaysia. Die Lebenskosten in Chiang Mai betragen etwa halb so viel wie in Bangkok oder rund ein Fünftel der Lebenskosten in einer Stadt in den USA. Für rund 1200 Franken im Monat kann man sich zu Hause pflegen lassen: sieben Tage die Woche rund um die Uhr.
Im 5-Stern-Resort ist alles inklusive – und einiges teurer
Die Lebenskostenprobe aufs Exempel hat der australische Blogger Godfree Roberts, 74, gemacht. Laut seiner Erfahrung reichen rund 1400 Franken im Monat aus, um die grundlegenden Lebenskosten eines pensionierten Paares abzudecken. Roberts Kostenkalkulation ist jedoch mit Vorsicht zu geniessen. Denn der Rentner ist unter anderem Autor des Buchs «How to Retire in Thailand and Double Your Income» (Wie man sich in Thailand zur Ruhe setzt und seine Einkünfte verdoppelt). Ungeplante Ausgaben für Hüftfrakturen & Co. werden dabei nicht berücksichtigt – dafür die erzielten Ersparnisse durch das gratis abgegebene Essen in buddhistischen Tempeln.
Mit der Wahl einer «All-inclusive-Option» können Pensionisten das «böse Erwachen im Paradies» auf ein Minimum reduzieren. Ausserhalb von Chiang Mai stehen das auf Demenzkranke spezialisierte 5-Stern-Resort Vivo bene und das familiäre Alzheimerzentrum Baan Kamlangchay. Beide Institutionen sind unter Schweizer Leitung und bieten bei Bedarf 24-Stunden-Pflege an. Die Kosten betragen mehrere Tausend Franken pro Monat – dafür müssen sich die Rentner um nichts mehr kümmern: Für Wohnen, Essen, Pflege und Rahmenprogramm wird gesorgt. «Wer auf eigene Faust seinen Lebensabend in Chiang Mai verbringen möchte, sollte eine solide Rente haben, krankenversichert sein, sich auf Englisch verständigen können und über eine gewisse Flexibilität verfügen», empfiehlt Honorarkonsul Marc H. Dumur. Um die Schweizer Rentner vor Ort macht er sich keine Sorgen. Sie seien meist organisiert und angepasst. Mehr Kopfzerbrechen bereiten dem Honorarkonsul die jungen Schweizer IV-Bezüger, die sich mit labiler Psyche, starken Medikamenten und einer IV-Rente in Chiang Mai niederlassen. «Pro Jahr gibt es in Chiang Mai zwei bis drei Fälle, wo junge IV-Bezüger straffällig werden. Die Heimschaffung wird vom Gericht verlangt und ist wohl die beste Lösung. Die Kosten werden vom Betroffenen oder dessen Familie getragen», erklärt Dumur. Vor kurzem sass ein Schweizer IV-Bezüger in Untersuchungshaft, weil er eine Hauswand besprayte. Seine Parole: «I love Thailand. Fuck the police.» Von pensionierten Schweizern hat man solche Ausraster kaum zu befürchten.
publiziert am 5. märz 2015, sonntagszeitung