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Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Politikum
ums W-Wort

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Die Schulen in der Schweiz gelten laut Verfassung als glaubensneutral. Der Lehrplan 21 ist säkular. Doch Weihnachten ist ein christliches Fest und wird vielerorts in den Unterricht integriert. Wie passt das zusammen?

In der obligatorischen Schule herrscht laut Bundesverfassung Glaubens- und Gewissensfreiheit. Entsprechend dient der Lehrplan 21 als säkulares Bildungsinstrument – konfessions- und religionsneutral. Theoretisch ist damit alles geregelt. Praktisch sieht es anders aus. Mit Weihnachten und dem «Feiern der Geburt Jesu» prallt eine geballte Ladung Christentum auf eine multikulturelle und multireligiöse Schullandschaft, die jeder Glaubensrichtung gerecht werden möchte.

Mit der Frage «Wie viel Religion darf noch in Weihnachten stecken?» wird das Thema zum gesellschaftlichen Politikum. Um niemanden auszugrenzen oder gar zu diskriminieren, werden Weihnachtslieder zu Winterliedern, die Weihnachtsfeier zum Lichterfest und statt «Frohe Weihnachten» werden «Frohe Festtage» gewünscht. Doch Weihnachten ohne Weihnachts-geschichte ist sinnlos. Wie gehen Schulen, Bildungspolitikerinnen, Lehrmittelautoren und Religionswissenschaftlerinnen mit dem Weihnachtsdilemma um?

«Wir wollen im Grunde alle etwas Ähnliches: friedlich zusammensein und uns besinnen auf das Gute. Diese Botschaft versuchen wir zu vermitteln.»

Kein Schulkreis in der Schweiz liegt sprachlich näher bei Weihnachten als der Schulkreis Bethlehem in Bern. Drei Standorte gehören dazu und mit dem Schulhaus Schwabgut wohl einer, der von der Zusammensetzung seiner Schülerinnen und Schüler her zu den heterogensten der Schweiz zählt. 520 Lernende von Kindergarten bis Oberstufe aus mehr als 70 Nationen gehen hier zur Schule. Nach Angaben von Schulleiter Markus Gerber sind alle gängigen Glaubensrichtungen und Konfessionen vertreten. «Wir versuchen zu zeigen, dass alle Religionen und Glaubensrichtungen ihre grossen und wichtigen Feste haben, die sich im Kern ähnlich sind», erklärt er und fügt an: «Wir wollen im Grunde alle etwas Ähnliches: friedlich zusammensein und uns besinnen auf das Gute. Diese Botschaft versuchen wir zu vermitteln.»

Im Fokus: Das gemeinsame Feiern
Gemeinsam wird das Schulhaus mit Fensterbildern dekoriert, jedes zweite Jahr eine Weihnachtskrippe aufgestellt und mit den jüngsten Kindern ein Adventssingen im Schulhaus veranstaltet. Zusätzlich laden die fünften und sechsten Klassen zum öffentlichen Adventssingen in der Kirche Bethlehem ein. Von diesem Auftritt kann man sich dispensieren lassen, wenn eine Teilnahme aus religiösen Gründen nicht möglich scheint. In solchen Fällen sucht die Schulleitung das Gespräch. «Wir möchten vermitteln, dass es sich um ein gemeinsames Feiern handelt, das wir in einen grösseren kulturellen Kontext stellen, und nicht um die Absicht, anderen Kulturen ein christliches Fest aufzudrängen», erklärt Schulleiter Gerber. Die Aufklärungsarbeit scheint zu wirken: Dispensationsgesuche gibt es nur wenige. Es verstehe sich in diesem multikulturellen Umfeld oftmals von selbst, dass die Feier in einem interkulturellen Kontext stehe, ergänzt Gerber. «Gleichzeitig halten wir daran fest, dass Weihnachten ein Teil unserer Kultur ist, entsprechend sichtbar ist und angemessen gefeiert wird.»

Doch wie sieht eine Weihnachtsfeier aus, die zum einen sichtbar und zum anderen angemessen ist? Ab wann «sichtbar» als «dominant» und «angemessen» als «übertrieben» empfunden wird, ist eine sehr persönliche Sache. Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH), betont, dass jede Schule eine eigene Lösung finden muss, die gleichzeitig für alle ein christliches und integratives Weihnachtsfest ermöglicht. «Es ist wichtig, dass man den Kindern erklärt, weshalb Christen Weihnachten feiern, und dass dahinter mehr steckt als nur Geschenke und Tannenbäume», hält Rösler fest, selbst Primarlehrerin und Mutter zweier Jugendlicher.

«Damit stellt sich die Frage neu, welches religionsbezogene Wissen heutige Schülerinnen und Schüler brauchen.

Sie ist sich bewusst, dass Weihnachten eine höchst emotionale und politische Angelegenheit ist. Diese Erfahrung musste auch ihr Vorgänger Beat W. Zemp machen. 2006 zitierte eine Tageszeitung den damaligen Zentralpräsidenten LCH mit den Worten «Adventskränze und Christ- bäume haben im Klassenzimmer nichts zu suchen». Obwohl Zemp seine Aussage als Falschmeldung deklarierte, reagierte die Öffentlichkeit mit Beschimpfungen und Beleidigungen. Zemp erzählte im Juni 2019 in einem persönlichen Interview mit der Presse, dass ihm damals sogar gebrauchtes Toilettenpapier zugeschickt wurde.

Welche Rolle Weihnachten heute für junge Menschen spielt, ist schwer zu fassen. Die junge Generation wird in einer Migrationsgesellschaft gross – gleichzeitig säkular und in Bezug auf religiöse und nichtreligiöse Weltanschauungen plural. Der deutsche Theologe Stephan Wahle nennt das frühe 21. Jahrhundert und damit die Gegenwart sogar eine «nach-christli- che» Kultur. Vielen Menschen fehle das Wissen rund um die christlichen Bräuche. «Damit stellt sich die Frage neu, welches religionsbezogene Wissen heutige Schülerinnen und Schüler brauchen», betont die promovierte Religionswissenschaftlerin Petra Bleisch. Die Dozentin für Ethik und Religionskunde an der Pädagogischen Hochschule Freiburg leitet seit 2015 die Forschungseinheit «Didaktik der Ethik und der Religionskunde». Kinder wachsen heute simultan mit mehreren Religionen auf: mit der Freundin, die ein Kopftuch trägt, der Grossmutter, die beim Priester beichtet, und dem Onkel, der in einem buddhistischen Kloster lebt. «Die Schule hat aus meiner Sicht die Aufgabe, den Schülerinnen und Schülern Werkzeuge mitzugeben, die es ihnen ermöglichen, sich einerseits Informationen zu religiösen Phänomenen zu erschliessen und andererseits nichtdiskriminierende Gespräche mit anderen religiösen und nichtreligiösen Menschen zu führen», sagt die Religionswissenschaftlerin.

«Weihnachtslieder zu singen oder an einem Krippenspiel teilzunehmen, gilt nicht als religiöser – das heisst bekenntnishafter – Akt, solange dies nicht in einem Übermass geschieht und damit keine Bekehrung beabsichtigt wird.»

Auch der Lehrplan 21 sieht im Fachbereich Natur, Mensch, Gesellschaft (NMG) und in der dazugehörigen inhaltlichen Perspektive Ethik, Religionen, Gemeinschaft (ERG) den Umgang mit religiösen Phänomenen vor, dazu zählt auch die Auseinandersetzung mit Festtraditionen. Die Schülerinnen und Schüler sollen Festtraditionen aus verschiedenen Religionen kennen, beschreiben, reflektieren, erläutern und vergleichen können. Das Feiern von Festen als Teil des schulischen Unterrichts wird vom Lehrplan nicht explizit definiert. Wie Weihnachten im Rahmen des Lehrplans thematisiert wird, steht den Lehrpersonen damit offen.

«Weihnachten als christliches Fest kann ein Ausgangspunkt sein, Geburtsgeschichten verschiedener Religionen kennenzulernen und auch andere Lichterfeste wie Chanukka oder Diwali zu erkunden», sagt Sarah Gfeller, Mitarbeiterin der Medien- und Beratungsstelle Religion, Ethik, Lebenskunde (MBR) der PHBern. Gfeller hat ein «IdeenSet» zum Thema Advent für Lehrpersonen entwickelt. Die Auswahl an aktuellen Lehr- und Lernmaterialien ist online verfügbar oder in der Mediothek der PHBern ausleihbar. Mit 9000 Seitenaufrufen pro Jahr stösst das Angebot seit Jahren auf überdurchschnittlich grosses Interesse und wird regelmässig überarbeitet, aktualisiert und angepasst.

Unterschiedliche Handhabung auf kantonaler Ebene
Ob Weihnachten an Schulen gefeiert werden soll und falls ja, wie, als «Win- terfest» oder mit einem traditionellen Krippenspiel, ist in keinem Kanton festgelegt. Rein rechtlich muss sich die Schule als Teil des modernen Rechtsstaats in religiösen Angelegenheiten neutral verhalten. Niemand soll gezwungen werden, eine religiöse Handlung vorzunehmen oder religiösem Unterricht zu folgen. Rechtsanwalt Michael Merker erklärt: «Weihnachtslieder zu singen oder an einem Krippenspiel teilzunehmen, gilt nicht als religiöser – das heisst bekenntnishafter – Akt, solange dies nicht in einem Übermass geschieht und damit keine Bekehrung beabsichtigt wird.» Merker hält fest, dass eine Dispensation in Einzelfällen möglich ist, wenn dadurch die Religionsfreiheit betroffen sei. Zahlen zu solchen Dispensierungen gibt es in der Schweiz keine.

«Bei neuen ‹Ersatzfeierlichkeiten› sind Missverständnisse und Irritationen nicht auszuschliessen»

«Dispensationsgesuche von Eltern im Zusammenhang mit Weihnachtsfeiern kommen äusserst selten vor», sagt Beat Brüllmann, Chef des Amts für Volksschule des Kantons Thurgau. Die Schule suche in solchen Fällen situationsspezifisch eine möglichst einvernehmliche Lösung mit dem Ziel, dass das Kind am Anlass teilnehmen könne, konkretisiert Brüllmann. Zusätzlich bietet im Kanton Thurgau die Fachstelle «Religion und Schule» Unterstützung für Lehrpersonen, Schulleitungen und Schulbehörden im Umgang mit «spezifischen Situationen mit religiösem Hintergrund». Viele Kantone, zum Beispiel Luzern, Thurgau, Basel-Stadt oder Schaffhausen, informieren in Merkblättern und Broschüren über die Teilnahme oder Dispensation rund um religiöse Aktivitäten in der Schule. Die Merkblätter gelten auch für andere Kantone – wie zum Beispiel Graubünden – als Richtlinie. Der LCH empfiehlt in seinem Positionspapier «Religion und Schule» zudem, sich an den Richtlinien des Erziehungsdepartements des Kantons Basel-Stadt zu orientieren.

Die meisten kantonalen Volksschulgesetze orientieren sich explizit an christlichen Werten. «Die christlich- abendländische Kultur ist in der Regel bei den Bildungszielen der Volksschulen eine wichtige Bezugsnorm», sagt Charles Vincent, Leiter der Dienststelle Volksschulbildung des Kantons Luzern. Vincent betont, dass die Teilnahme an Feiern, die primär aus Gebeten und religiösen Liedern bestehen, freiwillig sein müsse. Amtskollege Alexander Kummer, Leiter des Amts für Volksschule des Kantons St. Gallen, stellt jedoch klar, dass «Grundkenntnisse christlicher Traditionen und Werte nicht nur für christlich sozialisierte Schülerinnen und Schüler, sondern gerade auch für solche ohne oder mit anderer Religionszugehörigkeit wichtig sind». Sich in Kultur und Gesellschaft zu orientieren, werde damit einfacher.

Ob und wie christliche Feste gefeiert werden, liegt in den Kantonen bei den kommunalen Schulträgern beziehungsweise den Lehrpersonen. Diese «Feierfreiheit» birgt auch Konfliktpotenzial. «Bei neuen ‹Ersatzfeierlichkeiten› sind Missverständnisse und Irritationen nicht auszuschliessen», betont Marion Völger, Leiterin des Zürcher Volksschulamts. Sie weist darauf hin, dass Weihnachten nicht nur im religiösen Sinn, sondern im Sinn der kultur- und religionskundlichen Über- lieferung thematisiert werden könne.

«Wird der Religionsbezug aus den Weihnachtsfeiern gestrichen, ist zu fragen, warum diese dann noch als ‹Weihnachtsfeiern› durchgeführt werden.»

Weihnachten hat demnach Platz im Unterricht, aber nur dosiert und immer mit einer konstanten Prise «andere religiöse Traditionen» versehen, um die Religionsfreiheit der Kinder nicht zu verletzen? «Ich sehe in dieser Situation zum einen einen inneren Widerspruch und zum anderen ein pädagogisches Dilemma», zieht Religionswissenschaftlerin Petra Bleisch Bilanz. «Wird der Religionsbezug aus den Weihnachtsfeiern gestrichen, ist zu fragen, warum diese dann noch als ‹Weihnachtsfeiern› durchgeführt werden. Wird der Religionsbezug beibehalten und die Dispensmöglichkeit beachtet, so wird ein Teil der Lernenden ausgegrenzt. Die Berücksichtigung der Neutralität der Schule würde entweder dazu verpflichten, Weihnachtsfeiern mit Bezug zum Christentum abzuschaffen oder aber auch andere Feiern aus anderen religiösen Traditionen mit in den Schulkalender aufzunehmen.»

Diesen Herausforderungen und Chancen haben sich die Mehrheit der Schulen zu stellen – so auch die Primarschulen der Stadt Basel. In 23 Primarschulen mit 402 Klassen vom ersten bis zum sechsten Schuljahr besuchen 8153 Schülerinnen und Schüler aus 108 Nationen und mit 21 verschiedenen Glaubensrichtungen den Unterricht. Weihnachten wird in der Regel in allen Schulhäusern gefeiert. «Weihnachten ist ein Fest mit christlichem Hintergrund und soll weiterhin so positioniert bleiben», erklärt Flavio Tiburzi, Leiter der Primarstufe im Kanton Basel-Stadt. Die Lehrpersonen erhalten entsprechende Richtlinien, dass die Feiern so gestaltet sind, dass ein gemeinschaftliches Klassenerlebnis für alle möglich ist. Die Feiern sollen des Weiteren so sein, dass die religiösen Gefühle von Kindern und Jugendlichen, die anderen Religionen angehören, nicht verletzt werden. In dem Sinne: Shubha Labha* und Mazel tov für alle! Frohe Weihnachten, inschallah!

* Hindi für leuchtend (Shubha) und Gelingen (Labha). Der Wunsch «Shubha Labha» bedeutet so viel wie «grossartigen Erfolg» und «gutes Gelingen» und wird zum Beispiel an Diwali, dem indischen Lichterfest, ausgesprochen.

Weiter im Netz
www.religionskunde.ch > Didaktik > Eintrag vom 29. September 2015: Petra Bleisch: «‹Religion(en)› im Lehrplan 21. Religionswissenschaftliche Betrachtungen und religionskundedidaktische Folgerungen»

https://av.tg.ch > Handbuch Volksschule > Unterricht und Schule > Unterricht > Reli- gion und Schule – Broschüre «Religion und Schule»

www.LCH.ch > Publikationen > Positions- papiere – Positionspapier LCH vom 15.12.2008: «Die öffentliche Schule und die Religionen https://www.phbern.ch/ideenset-advent – IdeenSet Advent

https://www.phbern.ch/ideenset-advent – IdeenSet Advent

Publiziert Dezember 2019, Zeitschrift “Bildung Schweiz “(12/2019)

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