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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Trotz unheilbarer Krankheit: Reicht die Kraft für ein Geschwister?

Trotz unheilbarer Krankheit: Reicht die Kraft für ein Geschwister?

Elin kommt mit einem sehr seltenen Gendefekt zur Welt. Heilung gibt es keine. Trotz ihrem pflegebedürftigen Kleinkind und seiner gesunden, um zwei Jahre älteren Schwester, wünschen sich die Eltern noch ein weiteres Kind. Unverantwortliche Selbstüberschätzung oder heilende Selbstverwirklichung? Ein Besuch bei der fünfköpfigen Familie. 

Der Mittagsschlaf ist vorbei. Elin sitzt hellwach in ihrem blauen Hochstuhl am hölzernen Esstisch in der Stube und blinzelt in die Frühlingssonne. Sie trommelt mit ihren kleinen Fäusten auf den Tisch. Ihre blauen Augen blitzen, sie schüttelt die kurzen dunkelblonden Haare, gurrt vor sich hin und lacht. Daneben isst ihr kleiner Bruder Erik genussvoll ein Stück Erdbeertorte. Die grosse Schwester Lennja stürmt gerade durch die Balkontür vom nahen Spielplatz herein. Mama Miriam und Papa Stefan sitzen unterdessen mit einer Tasse Kaffee entspannt mit am Tisch. Ein Samstagnachmittag-Szenario, wie es wohl in den meisten Familien vorkommt. Nur ist bei dieser Familie fast nichts, wie in den meisten Familien. 

Eine solche Diagnose bedeutet, sich vom letzten Funken Hoffnung, dass alles noch gut wird, endgültig zu verabschieden.»

Elin kommt am 8. Oktober 2013 mit «dup 2p25.1-p22.3» zur Welt. Was auf den ersten Blick, an eine exotische Koordinaten-Kombination erinnert, ist in Realität ein höchst seltener Gendefekt. Auf dem kurzen Arm des zweiten Chromosoms sind mehrere Gene dreifach vorhanden. Das bedeutet, Elins geistige und körperliche Entwicklung ist schwer beeinträchtigt. Elin leidet zum Beispiel an muskulärer Hypotonie. Aufgrund der Muskelschwäche kann sie noch nicht laufen. Zusätzlich machen Augenprobleme und eine Autismus-Spektrum-Störung unklar, in wie weit sie ihre Umwelt wahrnimmt. Ihre verbale Kommunikation ist auf wenige Silben beschränkt – Mama, Papa und die Laute von einigen Tieren. Feste Nahrung verweigert die Fünfeinhalbjährige und ernährt sich von hochkalorischen Shakes aus dem Schoppen. Ärzte schätzen Elins momentanen Entwicklungsstand auf den eines 1,5 Jahre alten Kleinkindes. Wie sie sich in Zukunft entwickelt, steht in den Sternen. Informationen zum Verlauf der Krankheit, erprobte Therapien oder Elins Lebenserwartung fehlen gänzlich. Laut den Daten des globalen Netzwerkes «rarechromo.org» ist weltweit nur ein Mädchen in den USA bekannt, das am gleichen Gendefekt leidet. 

«Wir haben uns nie mit dem Gedanken an ein behindertes oder krankes Kind beschäftigt. Schwangerschaft, Geburt und auch die ersten zwei Monate mit Elin zeigten keine klaren Anzeichen für eine Behinderung. Klar, war sie klein, schielte, hatte Mühe beim Trinken und ihre Gesichtszüge waren rückblickend wohl ein wenig «lustig» – doch es gibt Säuglinge, die sehen ähnlich aus, weisen vergleichbare Verhaltensweisen auf und sind trotzdem kerngesund,» sagt Mama Miriam. Erste Tests zeigen, dass Elin organisch vollkommen gesund ist. Ihr Hirn weist keine strukturellen Auffälligkeiten auf. Doch Elins Entwicklung zeigt immer mehr klare Defizite auf. Sie kann den Kopf nicht selber halten, sich nicht drehen oder mit Augen einen Gegenstand fixieren. Klarheit was mit dem kleinen Baby nicht stimmt, liefert rund 13 Monate nach der Geburt ein Gentest. «Auf der einen Seite ist man dankbar, endlich zu wissen, was nicht stimmt. Auf der anderen Seite bedeutet eine solche Diagnose, sich von dem letzten Funken Hoffnung, dass alles noch gut wird, endgültig zu verabschieden», erinnert sich Papa Stefan. 

«Klar habe ich Angst, dass neben Elin eines der Kinder ernsthaft krank wird. Und ich weiss, dass es kaum möglich wäre, diese Situation zu stemmen.»

Doch sich von «der Hoffnung verabschieden», steht bei der Familie nicht etwa für «aufgeben». Im Gegenteil: Mit intensiver Physiotherapie schafft es Elin ihren Muskelaufbau zu optimieren, lernt krabbeln und sitzen. Im Wasser schafft sie es sogar, aufrecht zu gehen. Miriam vertieft sich in Fachliteratur, bildet sich weiter, knüpft Kontakte mit anderen betroffenen Eltern und Organisationen, kämpft bis vor Gericht für ihre Rechte und wird zur führenden «Expertin im Fall Elin». «Eine so intensive und engmaschige Betreuung, birgt aber auch das Risiko, dass immer das kranke Kind im Mittelpunkt steht – egal wann und wo. Eine Situation, von der kaum jemand profitiert – weder Elin noch ihre ältere Schwester Lennja oder wir als Paar und Familie,» analysiert Mama Miriam. «Für uns war vor Elins Geburt immer klar, dass wir eine grosse Familie möchten. Und trotz der Krankheit von Elin erschien mir ein weiteres Kind als Chance für uns alle: ein gesundes Geschwister für die zwei Mädchen und für uns gemeinsam eine neue Familieneinheit, die nicht nur auf die Krankheit von Elin abgestimmt ist,» erinnert sich die 39-Jährige. 

dup 2p25.1-p22.3, auch «partielle Trisomie 2p» genannt, ist ein sehr seltener Gendefekt. Elin leidet an muskulärer Hypotonie, einer Autismus-Spektrum- Störung, Schwierigkeiten mit der Nahrungsaufnahme, Augenproblemen, so wie einer ausgeprägten geistigen und körperlichen Entwicklungsverzögerung.

Wie Zwillinge – trotz dreier Jahre Altersunterschied
Für beide Elternteile steht jedoch fest, dass die Familie ein weiteres Kind mit einem Handicap nicht tragen könnte. Miriam und Stefan machen einen Gentest, um mögliche vererbbare Krankheiten zu erkennen. Das Resultat beruhigt: Das Risiko ist minim. Elins Gendefekt ist nicht «vererbt», sondern eine «Laune der Natur». Die Gefahr einer gleichen Genmutation ist verschwindend klein und der Wunsch nach einem Baby immer grösser. Drei Jahre nach Elin kommt Erik gesund zur Welt. 2980 Gramm schwer gibt er der Familie nicht nur ein neues Gleichgewicht, sondern auch ein Teil der verlorenen Leichtigkeit zurück. 

«Die Geburt von Erik und die erste Zeit mit ihm als Baby taten mir psychisch unglaublich gut. Erkennen, dass alles problemlos und entspannt verlaufen kann, hatte eine heilende und versöhnliche Wirkung auf mich», erinnert sich Miriam. Mit Elin waren die Eltern immer noch im Babymodus. Wickeln und Füttern bestimmten den Tagesablauf: Säugling Erik passte perfekt in diese Phase und zu seiner grossen Schwester Elin. Der Altersunterschied von drei Jahren war kaum spürbar. Anfangs waren die zwei wie Zwillinge, lagen nebeneinander auf der Krabbeldecke, lernten mit und voneinander. Elin und ihre Handicaps standen auf einmal nicht mehr unter dauernder Beobachtung und Sorge. Mit Erik nahm ein oft abhandengekommene Alltagsnormalität wieder Überhand. Doch während Elin sich kaum weiterentwickelte, machte der heute Zweieinhalbjährige riesige Sprünge – entdeckte die Umgebung, schliesst Freundschaften, erkundet seine Grenzen – und lässt Elin entwicklungstechnisch hinter sich zurück. Verbunden sind die beiden jedoch immer noch auf eine ganz besondere Art. Elin und Erik begegnen sich mit unglaublicher Herzlichkeit und Vertrautheit. 

«Seit Elin auf der Welt ist, mag ich die Frage: ‹Und was habt ihr am Wochenende gemacht?› nicht mehr hören. Mir wird dann bewusst, wie unser so gewohnter Alltag für die Mehrheit der Leute da draussen unvorstellbar bleibt.» 

Auch für die siebenjährige Lennja – die oft auf Elin und ihre Bedürfnisse Rücksicht nehmen muss – ist Erik eine wichtige Bezugsperson: Zum Spielen, Teilen, Lachen aber auch Streiten. Sie nimmt ihn mit auf den Spielplatz; er gibt ihr ein Stück von seiner Erdbeertorte. Alles soziale Interaktionen, die mit Elin nur beschränkt möglich sind. «Uns ist klar, dass Lennja nicht den Alltag einer ‹normalen› Siebenjährigen hat,» sagt Papa Stefan. «Unternehmen wir alle gemeinsam etwas, ist der Radius ungemein klein. Elin trinkt nur im Liegen, in Ruhe an einem Ort, den sie kennt. Das heisst nach spätestens 2,5 Stunden müssen wir wieder Zuhause sein. Für Lennja – die gerne unterwegs ist, reitet und schwimmt – sind dies grosse Einschränkungen», ist sich der 39-Jährige im Klaren. Um allen drei Kindern gerecht zu werden, braucht es Kompromisse, aber auch für jeden seine Insel: Zeit, die man ohne Einschränkung gestalten kann: Reiten alleine mit Papa, ein Spielplatzbesuch nur mit Mama oder einen «Urlaubstag» für die Eltern – für einmal ohne Kinder. Miriam und Stefan teilen sich die Betreuung ihrer Kinder auf. Beide arbeiten Teilzeit. Zur Arbeitswoche der beiden gehört jeweils ein freier Morgen, den jeder nach seinem Bedürfnis nutzen kann. 

Elin im Garten: Ihre Geschichte ist Teil des KMSK-Wissenbuch 2019

Zu sich selbst Sorge tragen ist zentral, denn der Alltag zerrt. «Vor allem die Winter sind schwer. Elin ist dann oft alle zwei bis drei Wochen krank. Planen ist kaum möglich. Ein einfacher Atemweginfekt kann schnell zu einem längeren Spitalaufenthalt führen», erzählt Mama Miriam. Die schon begrenzten Bewegungsradien der Familie schrumpfen dahin. Ein Gefühl der Isolation macht sich breit. «Seit Elin auf der Welt ist, mag ich die Frage: ‹Und was habt ihr am Wochenende gemacht?› nicht mehr hören», gesteht Stefan. «Mir wird dann bewusst, wie unser so gewohnter Alltag für die Mehrheit der Leute da draussen unvorstellbar bleibt.» 

Darüber reden, sich Hilfe holen und sich nicht verstecken
 Seit vergangenem Herbst geht Lennja in eine Tagesschule, Elin ist im heilpädagogischen Kindergarten und Erik wird manchmal von den Grosseltern oder in einer Krippe betreut. Für die Eltern gibt diese Betreuungsstruktur mehr Zeit zum Atmen, Geschehenes zu verarbeiten, aber auch um sich Gedanken über die Zukunft zu machen. «Klar habe ich Angst, dass neben Elin eines der anderen Kinder ernsthaft krank wird. Und ich weiss, dass es kaum möglich wäre, diese Situation zu stemmen», erklärt Miriam nüchtern. Und auch die Zukunft fühlt sich manchmal schwer an. Wie meistern wir die Situation, wenn Elin grösser und schwerer wird? Werden wir sie je ziehen lassen können? Diesen Ängsten stellt sich Miriam bewusst und nimmt professionelle Hilfe in Anspruch. «Vergleicht man unsere Familiensituation mit einem Glas Wasser, sind wir immer kurz vor dem Überlaufen. Es braucht nicht viel und alles ‹überbordet›, umschreibt die dreifache Mutter ihre Situation. Was dagegen hilft? «Sich Hilfe holen, darüber reden, sich mit Gleichgesinnten zusammentun, die eigenen Ängste mitteilen, sich nicht verstecken, Lösungen suchen, die für einen selbst und die Familie stimmen.» 

«Vergleicht man unsere Familiensituation mit einem Glas Wasser, sind wir immer kurz vor dem Überlaufen.”

Für Elin stimmts nun nicht mehr. Sie hat aufgehört mit den kleinen Fäusten auf den Holztisch zu schlagen und schaut um sich. Blitzschnell greift sie sich Eriks Teller mit den Tortenresten und schmeisst ihn auf den Boden, als möchte sie sagen: Stopp jetzt! Denn ihre zwei Geschwister sind schon draussen auf dem Spielplatz – und genau dort möchte sie auch hin! Ein Samstagnachmittagszenario, wie es wohl in den meisten Familien vorkommt. 




KMSK Wissensbuch 2019, publiziert November 2019
https://www.kmsk.ch

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