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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Einen Monat lang auf die Welt verzichtet

Einen Monat lang auf die Welt verzichtet

Li Wang hat vor wenigen Tagen ihre Tochter  zur Welt gebracht. Das kleine Wesen hat einen bronzenen Teint, wirkt ein wenig kränklich und das dünne Ärmlein ist von einem Hautausschlag bedeckt. Die Diagnose ist schnell gestellt. Li’s Vorliebe für Meeresfrüchte hat zum Hautausschlag geführt. Kränklich ist das Neugeborene nur, weil die werdende Mutter zu viel Wassermelone gegessen hat. Und der Konsum an Kaffee und Sojasauce während der Schwangerschaft hat wohl die Haut des Babys dunkler gefärbt. Ach, hätte die werdende Mutter doch nur mehr Milch getrunken!

Das Wohl des ungeborenen Babys scheint auf dem Teller der Mutter zu liegen.

In China und in den von der chinesischen Kultur dominierten Ländern sind Schwangere und frischgebackene Mütter unzähligen Mythen ausgesetzt. Das Wohl des ungeborenen Babys scheint auf dem Teller der Mutter zu liegen. Die heutige Generation an gut ausgebildeten chinesischen Müttern ist sich der «Mythenhaftigkeit» dieser Ernährungsratschläge bewusst. Trotzdem werden sie immer noch befolgt. «Auf gewisse Nahrungsmittel zu verzichten, war einfacher, als mich dauernd gegenüber meinen Eltern und Schwiegereltern zu rechtfertigen», erklärt mir eine chinesischstämmige Mutter zweier kleiner Jungen.

«zuo yuezi» bedeutet so viel wie «einen Monat lang sitzen». In diesen ersten dreissig Tagen nach der Geburt bleibt die Wöchnerin zu Hause.

Wirklich herausfordernd sei die Zeit nach der Geburt gewesen, gesteht die junge Frau. Dann beginnt «zuo yuezi», was übersetzt so viel wie «einen Monat lang sitzen» bedeutet. In diesen ersten dreissig Tagen nach der Geburt bleibt die Wöchnerin zu Hause. Sie darf weder duschen noch Zähne putzen, weder sich körperlich betätigen noch Besuch empfangen. Ein strikte Diät wird eingehalten: keine frischen Früchte oder rohes Gemüse, kein kaltes Wasser, keinen Kaffee, dafür Schweinefusssuppe mit Erdnüssen oder gegarter Fischschwanz mit Papaya.

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In den ersten dreissig Tagen nach der Geburt bleibt die Wöchnerin zu Hause. Mutter mit Baby (Bild Kerry Cheah)

Einen Monat ungeduscht im Pyjama und Wollsocken rumzusitzen und nur Eintöpfe essen: Was hat das für einen Sinn? Laut chinesischer Medizin befindet sich die Mutter durch Geburt und Blutverlust in einer «kalten Phase» und muss bedeckt (kein Kontakt mit Wasser oder Wind) und abgeschottet von der Aussenwelt umsorgt werden. Die Chinesen sind überzeugt, dass es diese absolute Pause braucht, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Einen Monat lang auf die Welt verzichten, um sich auf das eigene kleine Universum zu konzentrieren. Die Betreuung des Säuglings und der Wöchnerin übernimmt dabei die Gorssmutter oder Schwiegermutter. Wo die Familie nicht verfügbar ist, wird eine Art «Wochenbett-Amme» angestellt, die sich um Mutter, Baby und Küche kümmert. Wer es sich leisten kann, checkt in ein spezialisiertes Zentrum für Wöchnerinnen ein, wo Mutter und Kind im Luxusambiente umsorgt werden.

Als sich Herzogin Kate nur wenige Stunden nach der Geburt mit Baby in der Öffentlichkeit zeigte – ohne Wollsocken und fettigem Haar, sondern mit High Heels und Föhnfrisur – zeigte sich die chinesische Welt schockiert.

Das totale Time-Out nach der Geburt ist Teil der chinesischen Kultur. Auf der chinesischen Amazon-Seite gibt es dafür eine eigene Sektion mit Kochbüchern und Ratgebern. Dass diese Schonzeit im Westen ignoriert wird, stösst auf Erstaunen und Unverständnis. Als sich Herzogin Kate nur wenige Stunden nach der Geburt mit Baby in der Öffentlichkeit zeigte – ohne Wollsocken und fettigem Haar, sondern mit High Heels und Föhnfrisur – zeigte sich die chinesische Welt schockiert. «Brauchen westliche Mütter nach der Entbindung keine Erholungszeit?», wurde im taiwanesischen Fernsehen gefragt. «Westliche Frauen investieren kaum Ruhezeit in die Phase nach der Geburt», erklärte ein chinesischer Mediziner. Das habe jedoch seinen Preis. «Sie werden schneller krank und früher alt.» Wenn Kate das gewusst hätte.

Publiziert 30. Juni 2015, « Tagesanzeiger »

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