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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Was macht die Schule mit armen Kindern?

Was macht die Schule mit armen Kindern?

Jedes zwanzigste Kind in der Schweiz ist direkt von Armut betroffen – Tendenz steigend. Wie Armut erkannt und betroffene Kinder und Familien unterstützt werden können, hat BILDUNG SCHWEIZ sowohl bei Experten als auch vor Ort in der Schule erfragt.

Gute Schulen, eine stabile Wirtschaft, eine saubere Umwelt: Armut scheint in der Schweiz fehl am Platz zu sein. Doch laut dem Bundesamt für Statistik ist jedes 20. Kind hierzulande akut von Armut betrof­fen. Das sind landesweit 76 000 Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren. Zudem sind 264000 Kinder und damit jedes sechste armutsgefährdet. Glaubt man den Zahlen, sitzen in jeder Schweizer Schulklasse im Durchschnitt ein von Armut betroffenes und etwa drei armutsgefährdete Kinder. Trotzdem gibt es weder Weiterbildungen für Lehrpersonen zum Thema «Armut» noch ein Ausbildungsmodul an den Pädagogischen Hochschulen zu «Armut in der eigenen Klasse». Doch braucht die reiche, gut erzogene Schweiz überhaupt solche Tools? Klar ist, dass die Schweiz schon heute mit ihren öffentlichen, kostenlosen Schulen eines der wichtigsten Werkzeuge gegen Armut stellt – Bildung für alle, soziale Durchmischung, Chancen­gleichheit. Die Schule damit als Selbstläu­fer gegen Armut zu bezeichnen, wäre aber ein Trugschluss. Und genau da beginnt das Problem.

Die Schule damit als Selbstläu­fer gegen Armut zu bezeichnen, wäre aber ein Trugschluss. Und genau da beginnt das Problem.

Kinderarmut findet im Verborge­nen statt und bleibt oft unsichtbar. Den «Prototyp» eines armen Kindes gibt es nicht. «Armutsbetroffene Kinder stammen oft aus zwei verschiedenen Familienkonstellationen. Sie haben Eltern, die im Niedriglohnsegment arbeiten und deren Lohn unter der Armutsgrenze liegt. Diese Eltern sind häufig schlecht quali­fiziert. Verlieren sie ihre Arbeit, ist der Weg zurück ins Erwerbsleben ungemein schwer», erklärt Bettina Fredrich, Leiterin Fachstelle Sozialpolitik bei Caritas Schweiz. Überdurchschnittlich von Armut betroffen seien auch Kinder von Alleinerziehenden. Nach einer Trennung müssten auf einmal zwei Haushalte finanziert und Arbeits­ und Kinderbetreuung neu geregelt werden, das Geld reiche dann nicht mehr aus.
Eine offizielle Definition von Armut oder eine einheitlich festgelegte Armutsgrenze gibt es in der Schweiz nicht. Die Schwei­zerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) definiert, wann ein Mensch in der Schweiz von Armut betroffen ist und wie hoch das Existenzminimum sein muss. An diesen Richtlinien orientieren sich die Behörden. Immer öfter erscheint der Begriff «Wor­king Poor». Das sind Haushalte, die trotz eines festen Einkommens das Existenz­minimum nicht erreichen. Laut dem Bun­desamt für Statistik stammen zwei Drittel (oder 49 000) aller von Armut betroffe­nen Kinder aus einem solchen Elternhaus.

«Armsein» gilt als gesellschaftliches Stigma; arm wird mit faul gleichgesetzt.

Diese Eltern versuchen oft ihre prekäre Situation zu verbergen, haben mehrere Jobs und verzichten für ihre Kinder auf vieles: Freunde, Ferien, Zahnarztbesuch. Denn «Armsein» gilt als gesellschaftliches Stigma; arm wird mit faul gleichgesetzt. Armut bedeutet damit soziale Ausgren­zung, gesellschaftliche Minderwertigkeit und mangelnde Perspektiven. Doch was bedeutet Armut für ein Kind und seinen Schulalltag?

«Armutsbetroffene Familien können sich oft auch kleine Zusatzausgaben nicht leisten. Eine Einladung zum Geburtstags­ fest, die Teilnahme am Sporttag oder ein Schulausflug in den Tierpark: Turnschuhe, Geburtstagsgeschenke und Ausflüge kos­ten Geld und werden darum gemieden. Soziale Kontakte, Ferien und Hobbys werden aus finanziellen Gründen gestrichen», erklärt Armutsexpertin Fredrich.

«Armutsbetroffene Familien müssen offen sein, Support zu beantragen und Unterstützung anzunehmen. Wer sich nicht selbst bewegt, kommt nicht weiter.»

Sie ergänzt: «Prekäre Wohnungsbedin­gungen machen konzentriertes Lösen von Hausaufgaben oder Einladen von Freunden schwer. Das Geld reicht nicht für die Nachhilfestunden, um den Übertritt ins Gymnasium zu schaffen, oder für den Mitgliederbeitrag im Fussballverein.» Für Kinder und Jugendliche bedeute Armut nicht nur materiellen Verzicht und soziale Isolation, sondern auch ungleiche Bildungs­ und Entwicklungschancen.

Armutsanzeichen nicht auf den ersten Blick sichtbar
Trotzdem ist Armut in der Schule nur schwer erkennbar. Denn manchmal verfügen gerade die armutsbetroffenen Kinder über die angesagten Trendarti­kel: sei es eine goldene Kette, ein neues Handy, eine modische Jacke. Es braucht Aufmerksamkeit, Fingerspitzengefühl und Menschenkenntnis, um Armuts­anzeichen wahrzunehmen. Ist wirklich eine Grippe schuld an der Abmeldung zum Schlitteltag bzw. Badi­-Ausflug oder sind es finanzielle Probleme? Beat Würsten Stocker, Schulleiter im Schulhaus Letten in Zürich­ Wipkingen, ist erfahren im Umgang mit armutsbetrof­fenen Familien und Kindern. «Betroffene Kinder und Familien können in den heu­tigen Strukturen – sei es durch die Schule oder die Behörden – aufgefangen und unterstützt werden. Stigmatisierung oder sozialer Isolation kann so entgegengewirkt werden. Die betroffenen Familien müssen jedoch offen sein, Support zu beantragen und Unterstützung anzunehmen», erklärt der Schulleiter. «Wer sich nicht selbst bewegt, kommt nicht weiter.»

Auf Seite der Schule stellt sich immer die gleiche Frage: Wer hat Anrecht auf ein vergünstigtes Klassenlager und wer muss die Schulreise trotz kleinem Monatsein­ kommen bezahlen? Gibt es eine «Norm» für Armut? «Ich empfehle Familien, die finanziell mit einem sehr knappen Bud­get auskommen müssen, eine Kulturlegi der Caritas zu beantragen», erklärt Beat Würsten. «Dieser kostenlose Ausweis wird nur an Menschen abgegeben, die über ein tiefes Einkommen verfügen oder Sozial­hilfe beziehen. Für uns als Schule ist dann klar: Wer eine Caritas­ Legi bekommt, ist in einer finanziellen Ausnahmesituation und kann auch auf unsere Hilfe und Unter­stützung zählen.»

«Kinderarmut ist ein sensibles Thema. Viele Familien haben Angst, dass sie stigmatisiert werden. Es gibt keinen Leitfa­ den, wie man als Schule oder Lehrperson reagieren soll.»

Die Kulturlegi wird von den zuständigen Stellen erst nach Prüfung der Steuererklärung, der Unterstützungsbestätigung für Sozialhilfe oder der Pfand­ Urkunde ausgestellt. Die Karte berechtigt zum Bezug von vergünstigten Angeboten und Dienstleistungen: eine kostenlose Mitgliedskarte in der Stadtbibliothek, ein Freibadeintritt zum halben Preis oder ein vergünstigtes Schulthek­-Set für den ersten Schultag.

Als Lehrperson ein Kind oder die Eltern auf ihre Lebenssituation anzuspre­chen, bleibt heikel, betont auch Bettina Fredrich. «Kinderarmut ist ein sensibles Thema. Viele Familien schämen sich für ihre finanzielle Situation und haben Angst, dass sie stigmatisiert werden. Es gibt kei­nen Leitfaden, wie man als Schule oder Lehrperson reagieren soll.» Wichtig sei, dass ein Vertrauensverhältnis besteht – sei es zu einer Schulsozialarbeiterin oder einer Lehrperson. Basierend darauf könne man Hilfe anbieten, empfiehlt sie.

Neutrale Strukturen und Frühförderung sind entscheidend

Als Schlüssel zur Armutsbekämpfung in der Schule bezeichnet Fredrich zwei Aspekte. Auf der einen Seite das Schaffen von armutsneutralen Rahmenbedingun­gen, von denen Kinder aus allen sozialen Schichten profitieren: Tagestrukturen, Hausaufgabenhilfen, Schulaktivitäten, die auch für Familien mit kleinem Budget erschwinglich sind. Muss eine Schul­reise zwei Tage dauern und 90 Franken pro Kind kosten? Braucht es einen teu­ren Berufsfotografen fürs Klassenbild? Durchlässige Schulsysteme und flexible Lernstrukturen, zum Beispiel keine Unter­teilung in Sekundarschule und Realschule oder der Verzicht auf Hausaufgaben, kön­nen sich ebenfalls positiv auf Jugendliche aus bildungsfernen Familien auswirken. Denn solche Kinder haben kaum Hilfe bei Hausaufgaben oder die Unterstützung der Eltern bei einem Stufenübertritt. Wenn sich zwei gleich intelligente Kandidaten für einen freien Platz in der Sekundarschule bewerben, der eine mit unterstützenden Eltern und der andere ohne jeglichen Sup­port, wer würde den Platz wohl erhalten?

«Die Masseinheit für Kinderarmut ist nicht Geld, sondern die Abwesenheit von Bindung.»

Auf der anderen Seite ist frühkindliche Bildung der wohl effektivste Versuch, eine Chancengleichheit herzustellen. Studien zeigen auf, dass Frühförderung einen grossen Einfluss auf Kleinkinder hat, egal aus welcher sozialen Schicht sie stammen. Benachteiligte Kinder profitie­ren jedoch besonders stark von qualitativ guter, früher Förderung. Stabile Betreu­ungskonstellationen, ein angemessener Betreuungsschlüssel (ideal 1:3) und eine regelmässige Teilnahme (als ideal gelten 20 Stunden pro Woche) sind dabei wichtige Merkmale. Ohne «frühkindliche Förde­rungsintervention» drohen die ungleichen Startbedingungen im Kindergarten sich auf die ganze Schulkarriere auszuwirken.

Perry-Preschool-Projekt als mahnendes Beispiel
Die Wahrscheinlichkeit, dass ein in Armut aufwachsendes Kind arm bleibt, ist sehr hoch. Den ersten Beweis dafür lieferte in den 1960er­Jahren das amerikanische Perry­Preschool­Projekt, eines der welt­ weit bekanntesten Vorschulprogramme. 123 Kinder im Alter von drei und vier Jahren nahmen daran teil. Sie alle stamm­ ten aus armen afroamerikanischen Fami­lien. Während zwei Jahren wurde die eine Hälfte der Kinder intensiv gefördert. Die andere Hälfte – die Kontrollgruppe – wurde nur beobachtet. Im Alter von 27 Jahren verfügten die Probanden aus der geförderten Gruppe häufiger über einen Schulabschluss als die Probanden aus der Kontrollgruppe und über ein höheres Monatseinkommen. Zusätzlich waren sie weniger straffällig als ihre Peers.

Doch arm mit entwicklungsgefährdet gleichzusetzen, ist falsch. Denn damit würde jedes Entwicklungsproblem eines Kindes auf die sozioökonomische Situa­ tion der Eltern abgewälzt. «Fakt ist, dass Kinder, die in beschränkten Bedingungen aufwachsen, weniger Stimulation, weniger Gesundheitsvorsorge, weniger Zuwendung erfahren», erklärt James Heckmann, Nobelpreisträger für Ökonomie im Jahr 2000 und Experte für frühkindliche Bil­dung in einem «Zeit»­Interview. «Ein Kind unter drei Jahren aus der Unterschicht ist monatlich 500 verschiedenen Wörtern ausgesetzt, in der Arbeiterschicht 700 und in der Schicht der gut Ausgebilde­ten 1100 Wörtern.» Das seien Lücken, die sich ohne frühe Intervention schwer schliessen liessen. Heckmann betont aber auch, wie wichtig die elterliche Bindung ist: «Die Masseinheit für Kinderarmut ist nicht Geld, sondern die Abwesenheit von Bindung.» Für diese Bindung sind Eltern, Familie und Lehrpersonen verantwortlich. Der Staat müsste dafür effektive Rahmen­bedingungen und Strukturen liefern.

Verlängerung des Armutsprogramms unabdingbar
Im Mai 2013 lancierte der Bundesrat das Nationale Programm zur Prävention und Bekämpfung von Armut mit einer Laufzeit von fünf Jahren und einem Budget von neun Millionen Franken. «Bildungschan­cen» sind dabei ein zentrales Thema. Die weitere Finanzierung des Programms ist noch nicht beschlossen. Um Nachhaltig­ keit zu schaffen, müsste das Programm kommendes Jahr nicht nur verlängert, son­dern auch das Budget erhöht werden.

Weiter im Netz
Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe: www.skos.ch
Nationales Programm gegen Armut: www. gegenarmut.ch
Unterrichtsmaterial für Schulen zu Armut in der Schweiz: www.youngcaritas.ch

 

publiziert November 2017, Zeitschrift  Bildung Schweiz (11/2017)

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