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Über mich

Christa Wüthrich ist freie Journalistin. Als Autorin, Lehrerin und IKRK Delegierte hat sie im In- und Ausland gearbeitet.

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Wie Lehm an den Füssen

Wie Lehm an den Füssen

Ruanda: Auch Jahrzehnte nach dem Genozid versucht sich das Land als Nation zu präsentieren. Reine Fassade. Noch immer sind viele Menschen in der Vergangenheit gefangen.*

*Die Autorin hat 2007/08 als Delegierte des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) in den Gefängnissen Ruandas gearbeitet. Nach ihrer Demission kehrte sie als Journalistin ins Land zurück und recherchierte mehrere Wochen vor Ort. Der Artikel – erschienen in der Wochenzeitung (WOZ) im April 2009 – wurde für den FBZ Medienpreis für unabhängigen Journalismus 2010 nominiert. Zum Thematik Ruanda & Genozid verfasste die Autorin verschiedene Zeitungsartikel, hielt Vorträge in Schulen und verfasste für den elk Verlag ein Lehrmittel zum Thema.

Im April steht das Leben in Ruanda still. Die Bevölkerung erinnert sich an den Genozid an den Tutsis und trauert. Sport und Musik sind verboten, Schwimmbäder, Bars, Restaurants und Tanzlokale geschlossen. Radio und Fernsehen übertragen Gedenkveranstaltungen. Das Land stellt sich tot.

Wäre die 35 jährige Aminata Nsengimana nicht eine Ruanderin, würde der April zu ihrem Lieblingsmonat zählen. Ihr fünf jähriger Sohn wurde im April geboren. Und auch ihre zweites Kind soll in diesen Apriltagen zur Welt kommen. Ein Drama. „Wir werden seinen Geburtstag nie feiern können, weil im April in Ruanda feiern unmöglich ist. Der Monat ist vom Genozid besetzt“, erzählt sie. Der Geburtstag des ältesten Sohnes feiert die Familie in einem anderen Monat. „Viele Gründe, zu feiern gibt es hier nicht. Die wenigen dürfen wir nicht vergessen. Das sind wir unseren Kindern schuldig“, sagt Nsengimana.

Keine PsychologInnen
Der 23 jährige Charles Mugabe hat gerade die Sekundarschule abgeschlossen – Jahre zu spät. „Nach dem Genozid schaffte ich es nicht zur Schule zu gehen, dann arbeitete ich, um zu überleben“, erklärt er seine Situation. Mugabe hat sich am 11. April 1994 als Achtjähriger zusammen mit seinen Eltern, seinem älteren Bruder und einer schwangeren Tante in die Kirche von Nyamata geflüchtet, nachdem wenige Tage zuvor die Massaker gegen die Tutsis begannen. Der Onkel und die zwei Schwestern versteckten sich im Moor.

Mugabe versteckte sich unter der Leiche seines Bruders, stellte sich zwei Tage lang tot und flüchtete dann in die Moorgebiete.

„Als Achtjähriger glaubst du noch, dass Gotteshaus immer etwas mit Gnade zu tun hat“, sagt Mugabe. Den Glaube an Gott hat er behalten, den an die Gnade nicht. Mit Macheten, Pfeil, Bogen und mit Nägel beschlagenen Keulen stürmten die Hutu-Milizen die Kirche und massakrierten rund 7000 Menschen. Mugabe versteckte sich unter der Leiche seines Bruders, stellte sich zwei Tage lang tot und flüchtete dann in die Moorgebiete.

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Tausende von blutdurchtränkten Kleider erinnern in der Kirche immer noch an das Massaker. (Bild Wüthrich)

Die sterblichen Überreste der Toten sind im Keller der Kirche aufgestappelt. (Bild Wüthrich)

Opfer Genozid

Charles Mugabe ist nie psychologisch betreut worden. PsychologInnen gibt es in Ruanda nur wenige. Die Psychologin Birgit Wagner ist auf posttraumatische Entwicklungsstörungen spezialisiert und unterrichtete im August 2008 für einen Monat an der Nationalen Universität in Butare. „Von den fünfzig Psychologiestudenten waren die Mehrheit selbst schwer traumatisiert“, sagt die wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Psychopathologie und klinische Intervention in Zürich. „Im Westen würden diese Menschen von einem Care Team betreut und jahrelang therapiert. In Ruanda müssen sie versuchen mit dem Trauma zu leben“. Es fehle nicht nur die PsychologInnen, Trauma-Experten und entsprechenden Institutionen, sondern auch an Basiswissen. Kaum eine Studentin oder ein Student habe ein Buch besessen. Lernmaterial ist auch auf Universitätsebene Mangelware. Die wenigen Artikel und Studien, die über posttraumatische Entwicklungsstörungen in Ruanda geschrieben wurden, sind im Land selbst unbekannt. Die Opfer müssen ihr Trauma selbst bewältigen.

„Wir müssen weiterleben“
Die Überlebenden sind inzwischen wieder mit den TäterInnen von damals konfrontiert. Viele Verurteilte haben ihre Strafe abgesessen und sind in ihre Dörfer zurückgekehrt. Die einstigen Feinde werden zu Nachbarn. „In meiner Nähe leben drei Männer, die beim Massaker in der Kirche beteiligt waren“, erzählt Charles Mugabe. Als die Täter sich vor dem Gacaca Gericht verantworten mussten, hat er gegen sie ausgesagt.

Gacaca ist ein traditionelles Rechtssystem, bei dem die Dorfgemeinschaft als Justizgewalt wirkt. Charles Mugabe hat während des Prozesses erfahren, wo die Leiche seines Onkels Patrice vergraben wurde. Er hat daraufhin die Überreste ausgegraben und den Schädel in eine der Grabkammern unter der Kirche in Nyamata gelegt. „Ich habe den Tätern verziehen. Die Toten kommen nicht zurück. Wir müssen weiterleben“, sagt er nüchtern. Vertrauen werde er diesen Menschen allerdings nie. Die Angst, doch noch umgebracht zu werden, ist gross. Wenn er den Tätern im Dunkeln begegne, grüssen sie ihn nicht.

Er sagte, nichts getan, nichts gesehen, nichts gehört zu haben. Nach dem Genozid und der Machtübernahme der Tutsi-Rebellen flüchtete er jedoch in den benachbarten Kongo.

Für Habimana A. (Name der Redaktion bekannt) war der Auftritt vor dem Gacaca Gericht das Ende. Der 45 jährige sollte zu den Geschehnissen während dem Genozid aussagen. Er sagte, nichts getan, nichts gesehen, nichts gehört zu haben. Nach dem Genozid und der Machtübernahme der Tutsi-Rebellen flüchtete er jedoch in den benachbarten Kongo. Zurück nach Ruanda kam er erst zwei Jahre später. Wegen Verweigerung der Aussage wanderte er vergangenes Jahr für sechs Monate hinter Gitter. Eine milde Strafe im Verhältnis zur lebenslänglichen Verwahrung gewisser Genozidtäter. Noch im Jahre 1998 wurden 22 wegen Völkermords Verurteilte hingerichtet. Erst Mitte 2007 wurde die Todesstrafe in Ruanda abgeschafft.

In den Augen Habimanas hat jedoch schon die sechs monatige Strafe seine Existenz zerstört. „Eine Arbeit beim Staat oder in der Gemeinde erhalte ich als ehemaliger Gefängnisinsasse nie mehr. Ich bin ruiniert. Mit Gelegenheitsarbeiten versuche ich, zu überleben. Doch die Vergangenheit haftet wie nasser Lehm an den nackten Füssen“, erklärt er. Die Frage nach der Schuld, stellt er sich nicht. Habimana sieht sich als Opfer. Zurück aus dem Kongo, sei er zum Täter gestempelt und enteignet worden. „Und was ist ein Mann ohne Land? Ein Nichts. Ohne Zukunft. Ohne Chance, die Familie zu ernähren“.

Armut und Fortschritt
Männer wie Habimana gibt es in Ruanda Tausende. Das Land ist im ostafrikanischen Staat ist knapp geworden. Ruanda hat nicht einmal zwei Drittel der Grösse der Schweiz. Mit über 10 Millionen Menschen ist die Bevölkerungsdichte jedoch viel höher. Neunzig Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung arbeiten in der Landwirtschaft. Jährlich kommen rund 100‘000 Jugendliche neu auf den Arbeitsmarkt, weniger als ein Prozent von ihnen findet eine Arbeitsstelle. Rund 60 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Viele fehlt sogar das Geld, um die obligatorische Grundversicherung „mutuell“ zu bezahlen, wie eine Angestellte der ruandischen Sozialversicherung bestätigt. Es handelt sich dabei um einen Beitrag von zwei Franken pro Jahr.

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Das Land  der Tausend Hügel: Grün, fruchtbar aber zu klein für die wachsende Bevölkerung. (Bild Wüthrich)

Mädchen auf dem Weg zur Arbeit auf dem Feld. Die Mehrheit der Menschen sind Selbstversorger. (Bild Wüthrich)

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Auf der internationalen Bühne versucht sich Ruanda als boomender Wirtschaftsmarkt zu präsentieren. Internationale Investoren aus China, Dubai und die Vereinigten Staaten werden angelockt. Ein Kongresszentrum und ein neuer Flughafen sind in Planung. Das erste Casino des Landes wurde vor kurzem eröffnet. Im grossen Supermarkt im Zentrum Kigalis werden westliche Produkte angeboten. Drahtloser Internetempfang funktioniert in der Hauptstadt tadellos.

Massanzüge und Kostüme
„Von diesem Aufschwung spüren wir nichts“, sagt der 33 jährige André Bakengo, ein Kongolese, der seit acht Jahren in Kigali als Schneider arbeitet. Sechs Tage in der Woche sitzt er in seinem Atelier, im Idealfall für einen Tageslohn von knappen fünf Franken. Sein Arbeitsplatz liegt im hinteren Teil eines Kleiderladens. Die Singer Nähmaschinen mit Fussantrieb gehören hier zur Grundausrüstung. Drei weiter Kongolesen schneidern hier ebenfalls. Sie sind alle Flüchtlinge aus dem Nordkivu, die versuchen, sich in Ruanda eine neue Existenz aufzubauen. Die KundInnen sind reiche Einheimische und die westlichen MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen und Botschaften. „Wer sonst hat in diesem Land Geld für Massanzüge und Kostüme?“ fragt der fünffache Familienvater zynisch. Doch es scheint, als verzichten auch diese Leute seit ein paar Monaten öfters auf massgeschneiderte Kleider.

Sicher aber auch teuer, sei das Leben in Ruanda. Die Miete, das Essen, die Schule für die Kinder drücken auf das Familienbudget.

Bakengos Frau und seine Kinder sind erst seit kurzem in Kigali. Die politische Situation im Nordkivu sei zu gefährlich geworden. Sicher aber auch teuer, sei das Leben in Ruanda. Die Miete, das Essen, die Schule für die Kinder drücken auf das Familienbudget. Offiziell ist der Schulbesuch in Ruanda gratis. In der Realität müssen die Eltern aber etwa für Bücher und Uniformen bezahlen. „Ganz zu schweigen von der monatlichen Motivationsprämie für die Lehrer, den Zustupf für die Wächter und das Putzpersonal“, fügt Bakengo hinzu. Wer nicht bezahlt, darf nicht zur Schule.

dsc01694André Bakengo bei der Arbeit: Sechs Tage die Woche, im Idealfall für einen Tageslohn von fünf Franken. (Bild Wüthrich)

Schule ohne Bücher
Bücher sind in ruandischen Schulen und für die rund 2,5 Millionen Schüler Mangelware. In Klassen mit bis zu 80 Kindern teilen sich oft vier bis fünf Schüler ein Buch. Diese sind veraltet und seit ein paar Monaten auch in der falschen Sprache gedruckt. Seit Ende 2008 ist neben der Landessprache Kynyaruanda nicht mehr Französisch die Unterrichtssprache, sondern Englisch. Die Regierung Ruandas unterstreicht damit die Distanz zur ehemaligen Kolonialmacht Belgien und zu Frankreich.
Durch den Unterricht in Englisch soll zudem die Nähe zu den englisch sprachigen Nachbarländern Burundi und Kenia betont werden. Fraglich ist nur die Umsetzung des Sprachenwechsels. Théoneste Habyarimana, einer von 50‘000 Lehrer im Land, spricht wie viele seiner Berufskollegen kaum ein Wort Englisch. „Die Entscheidung der Regierung müssen wir respektieren. Der Wechsel ist ein Schritt Richtung Zukunft“, betont er. Wie dieser Schritt realisiert werden soll, ist auch ihm unklar. Sicher nicht in nächster Zeit.

 

Ruanda nach dem Völkermord
Beim Genozid in Ruanda 1994 starben 800‘000 Menschen. Radikale Hutus ermordeten nicht nur Tutsis, sondern auch moderate Hutus. Der Völkermord führte zur Flucht von rund 2,5 Millionen BewohnerInnen und zur Inhaftierung von 130‘000 verdächtigte TäterInnen, grösstenteils Männer.

Ruanda ist das weltweit erste Land, dessen Parlament eine Mehrzahl an weiblichen Abgeordneten stellt. Die Frauenquote beträgt 55 Prozent. Zurückzuführen ist die weibliche Dominanz nicht nur auf Frauenförderung durch die Regierung, sondern vor allem auf den Genozid. Die Frauen waren gezwungen Führungsrollen und Ämter zu übernehmen.

Der ruandische Präsident Paul Kagame führt sein Land autoritär. Politische Opposition und Pressefreit existieren kaum. Die Organisation Reporter ohne Grenzen setzte Kagame auf die Liste der weltweit grössten Feinde der Pressefreiheit. Das Land ist von der Entwicklungshilfe abhängig. Rund 50 Prozent des Gesamtbudgets trägt die internationale Gemeinschaft. In Zukunft soll sich das entscheidend ändern. Mit der Entwicklungsstrategie “Vision 2020“ soll sich das Land in knapp 10 Jahren zur wichtigen Investmentplattform Ostafrikas wandeln. Ruandas politische Stabilität könnte durch die Konflikte in Nachbarländern, sowie interne Spannungen, in Frage gestellt werden. Im Konflikt im Nordkivu spielt Ruanda eine aktive Rolle.

 

https://elkverlag.ch/genozid-voelkermord-am-beispiel-ruanda.html

 

 

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